20. Jahrgang | Nummer 1 | 2. Januar 2017

Miszellen

„Das Neue kann manchmal ganz schön nerven“

„Das gabs früher nicht“ – wie oft geht uns dieser Spruch über die Lippen. Entweder wenn wir uns über heutige Begleiterscheinungen aufregen – oder wenn wir wehmütig feststellen, dass es früher manche Dinge einfach nicht gab. Bernd-Lutz Lange, das Urgestein der Leipziger Kabarettszene, wirft unter dem Motto „Das gabs früher nicht“ einen kritischen, aber stets humorvollen Blick auf das Gestern und Heute. Er blickt zurück auf Erlebtes und Geschehenes, und Lange hat viel zu erzählen, denn er war stets mit wachem Verstand unterwegs.
Lange erinnert sich an seine Kindheit und Jugend, wo es Dinge, die heute selbstverständlich sind, noch nicht gab – und trotzdem waren es glückliche Jahre. Nein, früher war nicht alles besser sondern einfach anders. Manches hat sich erhalten, anderes hat sich verändert. In rund 75 kurzen Texten zieht Lange seine persönlichen Vergleiche und rechnet mit dem Zeitgeist ab. Da erzählt er zum Beispiel vom früheren Glück, in einem Antiquariat zu stöbern – heute dagegen surft man durch virtuelle Bücherregale. Damals besaß seine Familie kein Telefon – heute ist das Handy quasi zum zusätzlichen menschlichen Organ geworden.
Bereits der Buchumschlag – der Autor mit Smartphone in einer Telefonzelle – weist auf die Widersprüche hin, denen er in diesem Buch nachspioniert. Die liebgewonnene Gewohnheit Briefe zu schreiben, dass früher auf dem Leipziger Weihnachtsmarkt Matrjoschkas die Engel ersetzten oder dass an den Häuserwänden die Parteilosungen durch Graffiti abgelöst wurden – gekonnt verbindet Lange Anekdoten mit seinen analytischen Beobachtungen. An das „erlebte Leben“ zu erinnern, ist sein Hauptanliegen. In unserer schnelllebigen Zeit bleibt für ihn zu viel auf der Strecke. Der Untertitel „Ein Auslaufmodell zieht Bilanz“ ist sicher auch doppelsinnig gemeint: Lange hat vor zwei Jahren seine Kabarettkarriere beendet, und die DDR ist schon seit einem reichlichen Vierteljahrhundert Geschichte.
Die Texte sind keine verharmlosende Nostalgie. Missstände im Gestern und Heute sowie gesellschaftliche Aspekte werden durchaus angesprochen. Die 350 Seiten bieten zwar keine brandneuen Erkenntnisse, sie sind aber eine erfrischende Lektüre mit hohem Wiedererkennungswert für ältere Leser.

Manfred Orlick

Bernd-Lutz Lange: Das gabs früher nicht, Aufbau Verlag, Berlin 2016, 349 Seiten, 19,95 Euro.

 

Boheme voller Skepsis und Distanz

Mittlerweile gibt es ungezählte Bücher über das Leben in der DDR. Mal sehr politisch und wissenschaftlich gehalten, dann wieder verklärend oder so verfasst, dass man denkt, man hätte in einem Polizeistaat gleich neben dem Gefängnis gewohnt. Wohltuend ragen aus all den DDR-Beschreibungen die nicht ganz so dicken Bücher der Autorin Jutta Voigt heraus. Einen großen Überraschungserfolg landete sie mit „Der Geschmack des Ostens“, einem Werk über Essen, Trinken und Leben in der DDR. Hier ging es ganz einfach, aber herrlich ironisch und wunderbar nachdenklich um Spreewaldgurken, den Hackklops „Grilletta“, den Grillhähnchen-„Goldbroiler“ und über den alkoholischen „Blauen Würger“. Dann schrieb sie über den „Westbesuch“, ein Buch, das die Absurditäten des Reisens zwischen Ost und West beschrieb und auch erklärte, warum die Onkels oft mit einem geliehenen „Mercedes“ auf den holprigen Straßen der DDR auftauchten. Doch die in Berlin geborene Redakteurin, Essayistin und Kolumnistin, die an der Berliner Humboldt-Universität Philosophie studierte, beschäftigte sich auch mit Abenteuern beim Älterwerden („Spätvorstellung“) und mit spannenden, nachdenklich machenden Gerichtsreportagen („Verzweiflung und Verbrechen. Menschen vor Gericht“). Nun gibt es wieder ein ganz besonderes Buch, das sich mit einer „Spezies“ beschäftigt, die vom normalen DDR-Bürger in der Provinz gar nicht wahrgenommen wurde. Es geht um „Die Boheme des Ostens“.
Aufgewachsen in dem unscheinbaren Örtchen Gotha, das mit fester sozialistischer Hand regiert wurde und heute von einem sozialdemokratischen Bürgermeister mit aller Macht in eine adlige Ecke gedrängt wird, erlebe ich Jutta Voigts Text ganz neu, denn: „Hä, Boheme in Gotha? Nie gesehen.“ Voigt schildert ziemlich cool, so wie die Bohemiens sich wohl auch gaben, das Leben von Menschen, die rebellierten, nicht so wie ihre Eltern werden wollten und auch gerne und oft in den Tag hinein lebten.
Was ist überhaupt Boheme? Lassen wir es uns von Erich Mühsam erklären: „Ein Bohemien ist ein Mensch, der aus der großen Verzweiflung heraus, mit der Masse der Mitmenschen innerlich nie Fühlung gewinnen zu können, […] drauf losgeht ins Leben, mit dem Zufall experimentiert, mit dem Augenblick Fangball spielt und der allzeit gegenwärtigen Ewigkeit sich verschwistert.“
Jutta Voigt nun schildert die ersten Rebellionen und die Aufbruchsstimmung in den frühen Jahren der DDR, die in den Siebzigern vorherrschenden kritischen und reformerischen Aktionen und die Distanziertheit in den 1980er Jahren, die sogar in Gleichgültigkeit mündete. Mit Humor und Detailwissen beschreibt sie unter anderem die einzelnen Kneipen und die verfallenden Häuser des Prenzlauer Berg in Berlin, aber auch in Leipzig, Dresden-Loschwitz und in der Altstadt von Halle, in denen sich die subkulturelle Szene traf. Viele Künstler –von Brecht bis Müller, von Hacks bis Wawerzinek, von Krug bis Thalbach – tauchen auf, die alle nur eins wollten: als Individuen existieren, unkontrolliert leben und einfach nur Mensch sein dürfen. Distanz, Skepsis und Hedonismus waren dabei die wichtigsten Eigenschaften. Man war radikal, humorvoll, leidenschaftlich und oft betrunken (vom roten Wein „Stierblut“). Mit diesem Buch setzt Jutta Voigt der Boheme des Ostens ein würdiges Denkmal, das warmherzig, wohltuend, oft sogar spannend und immer aufregend aufgebaut ist. Leser werden das Buch erst nach 266 Seiten weglegen können. Genialer Stoff, der allerdings nicht für Menschen geeignet ist, die die DDR als eine Diktatur abtun.

Thomas Behlert

Jutta Voigt: Stierblutjahre. Die Boheme des Ostens, Aufbau Verlag, Berlin 2016, 272 Seiten, 19,95 Euro.

 

Was war vor dem „Urknall“?

Was habe ich eigentlich vor meiner Zeugung getan? Abstruse Frage. Es gab mich einfach nicht. Und was war mit dem Weltall vor dem „Urknall“? Niemand will sich damit abfinden, dass es einfach „nicht da“ gewesen sein soll. Irgendetwas muss doch gewesen sein – davor, wie ja auch meine Eltern bereits vor meiner Zeugung existierten. Genau dieser Frage geht nun ein neues Buch von Helmut Satz nach, der sich als Professor für theoretische Physik seit Jahrzehnten mit der Frühgeschichte des Weltalls beschäftigt hat. „Kosmische Dämmerung“ – schon dieser Titel des Buches verrät, was der Autor vor dem Leser gern ausbreiten möchte: die Zeit vor dem „Sonnenaufgang“ des Kosmos. Nach Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie sind allerdings Raum und Zeit erst mit dem „Urknall“ entstanden. Somit ist die Frage nach einem „davor“ eigentlich sinnlos. Doch den Moment des „Urknalls“ vermag keine physikalische Theorie zu beschreiben und verbotene Fragen darf es in der Wissenschaft nicht geben. Da sich der Autor an den normalen, interessierten, aber fachlich nicht unbedingt vorgebildeten Leser wendet, macht er in seinem Text mit allem bekannt, was wir gegenwärtig über die Lebensgeschichte des Kosmos wissen oder vermuten. Dabei gelingt es ihm immer wieder, durch anschauliche Vergleiche aus der Erlebniswelt des Lesers die oft abstrakten Fakten in den Bereich des Vorstellbaren zu rücken. Das alles ist sehr lesenswert und regt zum Nachdenken an. Ob der Leser allerdings mit dem Resultat des Autors zufrieden gestellt wird, möchte ich bezweifeln. Das Buch endet nämlich mit einer „neuen Schöpfungsgeschichte“, deren Kernaussage lautet: „Aus der Urwelt schuf Gott Raum und Zeit.“ Selbst wenn „Gott“ hier nur als Metapher gemeint sein sollte, war es doch nach Meinung des Autors eine „Urwelt“, aus der unser Universum hervorging. Und die war „ohne Anfang und Ende, ohne Vorher und Nachher, ohne Früher und Später, ohne Hier und Dort, ohne Oben und Unten, ohne Form und Struktur, ohne Groß und Klein“. Ich würde gern jemanden kennenlernen, der sich diese „Urwelt“ vorstellen kann.

Dieter B. Herrmann

Helmut Satz: Kosmische Dämmerung. Die Welt vor dem Urknall, C.H.Beck, München 2016, 188 Seiten, 19,95 Euro.

 

Feindbild Russland

Das Buch wendet sich einer höchstaktuellen Thematik zu: dem (Miss)verhältnis von Deutschland, Europa und den USA zu Russland beziehungsweise dessen Präsidenten Wladimir Putin. Dieses Verhältnis sei durch eine bis ins Mittelalter zurückreichende Russophobie geprägt: Der Russe gelte seinen jeweiligen Gegnern als asiatisch, ungläubig, schmutzig. Solche Typisierungen finde man schon im 15. Jahrhundert zu Zeiten der russischen Reichsbildung von 1480 und sie begleite seit dieser Zeit den geopolitischen Kampf um Macht, Konkurrenz und Meereszugang. Der Autor beschreibt und analysiert die konträren Russlandbilder durch die Jahrhunderte. Dem/der Leserin wird hierzu jede Menge Faktenmaterial aus lokalen und Weltkriegen in Erinnerung gebracht und erläutert. Hannes Hofbauer gibt nicht nur Einblicke in die entsprechenden Kriegshandlungen (einschließlich der Abrisse des jeweiligen Feindbildes), sondern vor allem auch in die dahinter stehenden diplomatischen beziehungsweise ökonomischen Absichten. Diese Verfahrensweise wird für jene Leser besonders interessant, wenn es um Zeiträume geht, die diese selbst miterlebt haben – „Vom heißen zum Kalten Krieg (1945 – 1991), „Die Ära Jelzin (1991 – 1999)“ und so weiter. Hier werden nicht nur teilweise schon wieder vergessene Fakten aufgefrischt, sondern Ursachen und Zusammenhänge präzise analysiert (für mich zum Beispiel: Warum durfte Boris Jelzin als Präsident Russlands in der Weltöffentlichkeit tanzen und saufen – ohne dass dies damals für die internationalen Beziehungen zu Russland beziehungsweise für den Umgang mit einem Staatsoberhaupt durch andere Regierungen Konsequenzen hatte). Diese Betrachtungen sind nicht nur durch die zahlreichen recherchierten Fakten und Aussagen damaliger Handlungsträger beeindruckend, sondern vor allem auch durch die angeführten Belege. Vielfach sind diese heute noch durch die ausführlichen Quellenangaben Hofbauers im Internet auffindbar, so dass die Leserinnen und Leser die jeweiligen Wertungen und Schlussfolgerungen nachvollziehen beziehungsweise nachprüfen können.
Gut die Hälfte des Buches ist der Betrachtung der Ereignisse in der Ukraine („Farbrevolution“, Krim) gewidmet. Auch hier wird den einzelnen Akteurinnen und Akteuren exzellent nachgespürt – teilweise durch eigene Interviews. Diese Untersuchung des Verhältnisses Russland-Ukraine ist eingebettet in Betrachtungen zeitgleicher Prozesse in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken.
Das Buch endet mit Überlegungen zu Sichtweisen auf Russland beziehungsweise Putin als „Inkarnation des Bösen“ seitens Europa und der USA, einer fundierten Analyse von Befindlichkeiten seitens der russischen Bevölkerung und einer Erläuterung dazu, warum der Begriff „Russlandversteher“ in Deutschland zum Schimpfwort geworden ist.

Viola Schubert-Lehnardt

Hannes Hofbauer: Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung, promedia Verlag, Wien 2016, 303 Seiten, 19,90 Euro.

 

Plädoyer gegen das Vergessen

Die Generation der letzten Zeitzeugen des Holocausts und des Widerstandes gegen den Nationalismus stirbt aus. Der Journalist Tim Pröse hat solche „Jahrhundertzeugen“ aufgesucht und interviewt. Den meisten dieser Unangepassten – oder ihren Nachkommen – war Pröse als Reporter der Münchner Abendzeitung oder des Focus begegnet. Das Buch beginnt mit dem 87jährigen Jurek Rotenberg aus Haifa, der als jüdischer Junge von dem Unternehmer Berthold Beitz gerettet wurde. Beitz hatte dafür gesorgt, dass hunderte Juden vor der SS in Sicherheit kamen. Nach 70 Jahren kam es zu einem Treffen. Die weiteren Begegnungen des Buches führen zum Beispiel nach Auschwitz und Bergen-Belsen. Mit dem ehemaligen GI Kurt K. Keller kommt Pröse im April 2014 am Omaha Beach zusammen, 70 Jahre nachdem dieser in der Normandie an der größten Landeoperation der Geschichte teilgenommen hatte. Er trifft sich mit einem Überlebenden der Hölle von Stalingrad oder den Nachfahren von drei Hitler-Attentätern (Stauffenberg, Elser und Freiherr Boeselager). Pröse erzählt vom Leben und Überleben eines Mannes, der auf Schindlers Liste stand oder von der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“. Auf seiner Spurensuche nach Anne Frank kommt es zu einem Kontakt mit deren Cousin oder man erfährt, wie sich Hans Rosenthal vor dem Holocaust in einem Schrebergarten versteckte. Die insgesamt 18 Porträts sind eine Respektsbezeugung, mit der der Autor gleichzeitig das Gestern ins Heute zurückholt. Durch seine zurückhaltende Schilderung lässt der Autor den Leser gewissermaßen an diesen Begegnungen teilhaben.
Die Namen der meisten Porträtierten kennt wohl jeder, doch die Menschen und ihre Geschichten dahinter kaum. Nun lässt Pröse sie selbst zu Wort kommen und anhand ihrer schrecklichen Erinnerungen sind berührende und nachdenkliche Tatsachenberichte entstanden, die die Schrecken der Vergangenheit für die heutige Generation begreifbar machen. Oder wie es der Friedensnobelpreisträger und Holocaust-Überlebende Elie Wiesel einmal ausdrückte: „Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden.“ Ein bewegendes Stück Zeitgeschichte über Ausnahmemenschen, das angesichts neuer Nationalismen und populistischer Strömungen aktueller denn je ist. Und so fragt Pröse am Ende: „Welche Botschaft hätten die ‚Helden‘ von damals heute in Zeiten des Terrors?“ Vielleicht sollte das Buch Pflichtlektüre an den Schulen werden.

Manfred Orlick

Tim Pröse: Jahrhundertzeugen – Die Botschaft der letzten Helden gegen Hitler. 18 Begegnungen, Heyne Verlag, München 2016, 320 Seiten, 19,99 Euro.

 

Mörderische Metropole

Regina Stürickow, exzellente Kennerin der Berliner Kriminalgeschichte, hat einen etwas anderen Guide durch die Hauptstadt verfasst, in dem sich topografisch spektakuläre Kriminalfälle aus den Jahren 1914 bis 1933 ein Stelldichein geben. Die Tatorte mit Straße und Hausnummer sind in einem Verzeichnis aufgelistet, so dass sich der Berlin-Interessierte relativ schnell zurechtfindet, wann was wo geschah. Es ist natürlich kein klassischer Berlin-Führer, eher ein sehr schönes, geistvolles Stück aus dem anspruchsvollen Gebiet der Kriminalästhetik, in das der jeweilige Zeitgeist außerordentlich lebendig herüberweht. Das Buch ist spannend und einfühlsam geschrieben. Es treten Täter, Opfer, Zeugen und Sachverständige auf, vor allen Dingen aber zieht die Beschreibung des schwierigen Kriminalistenalltages in der Zeit des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik den Leser in den Bann. Berühmte Kommissare haben glanzvolle Auftritte.
An erster Stelle Ernst Gennat, den die Kollegen ehrfurchtsvoll wegen seiner Erfolge, aber auch wegen seiner Leibesfülle „Buddha der Kriminalisten“ nannten und der heute einfach nur „Der Kommissar vom Alexanderplatz“ ist – zugleich der Titel eines anderen Buches der Autorin. Dort, im Polizeipräsidium am Alex, residierte nämlich die berühmte Mordkommission, die in den 1920er Jahren als ein Verdienst von Gennat die Untersuchung von Tötungsverbrechen weltweit revolutionierte. Hans Lobbes, der später half, den multiplen Mörder Adolf Seefeld in Schwerin zu überführen, tritt ebenso ins Rampenlicht wie der begabte Mordermittler Dr. Werneburg. Sogar Arthur Nebe, der in der Nazi-Zeit zum Reichskriminaldirektor avancierte, macht Basisarbeit und eilt zu den Tatorten.
In den Nebenrollen erspäht der Leser klangvolle Namen wie Max Reinhardt und Gerhart Hauptmann, die bei einem Mordopfer (einer talentierten Schneiderin für ein renommiertes Modehaus) arbeiten ließen, und Harry Frommermann, der in der Stubenrauchstraße 47 in Berlin-Friedenau die „Comedian Harmonists“ gründete. In dem Haus, in dem drei Jahre später der Tischlermeister Paul Buchwald seine Frau ermordete… Wir erfahren, dass das „dunkle Berlin“ schon immer eine Touristenattraktion war. Heinrich Zille, gerade 13 Jahre alt, führte Touristen durch die verrufensten Gassen Berlins und vermittelte ihnen mit wahren und geflunkerten Geschichten eine Verbrecherwelt, dass es den unbedarften Provinzler nur so schauderte. „Bärenführer“ nannte man nach den seinerzeit bekannten Reiseführern die Kriminalkommissare, die Fremde durch die Welt der Gauner und Ganoven führten.
Im ersten Kapitel wandert der Leser, gedanklich ins Jahr 1928 versetzt, durch das mörderische Berlin, und zwar vom Schlesischen Bahnhof über Alexanderplatz und Scheunenviertel zum Kurfürstendamm. Er lernt eine andere, nicht gerade „goldene“ Seite des damaligen Berliner Lebens kennen. Dem Alltag der kriminalistischen Arbeit im Ersten Weltkrieg ist das zweite Kapitel gewidmet. Infolge der sich ständig verschlechternden wirtschaftlichen Lage erlangte die Kriminalität eine neue, beängstigende Qualität. Es wurde schon für ein paar Pfennige gemordet. Im dritten Kapitel mit dem Titel „Die zwanziger Jahre ohne Gold“ werden vor uns über ein Dutzend Kriminalfälle weit ausgebreitet. Einige Tötungsverbrechen konnten nicht aufgeklärt werden, wie wir aus der ergreifenden Geschichte über die Reise nach Wien erfahren. Regina Stürickow weist darauf hin, dass Todesermittlungen auch damals schon ihre Tücken hatten. Aus diesem Grund legte Ernst Gennat großen Wert darauf, jeden Fall erst einmal als „Todesermittlungssache“ und nicht als „Mordsache“ zu betrachten. Am Ende des Buches wird’s dann kriminologisch. Anhand der „Mordkurve“, die Hans Hyan 1931 in der Weltbühne zeichnete, weist die Autorin den Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrise, sozialen Ursachen und Verbrechen nach. Chapeau!

Frank-Rainer Schurich

Regina Stürickow: Mörderische Metropole Berlin. Authentische Fälle 1914-1933, Militzke, Leipzig 2015, 224 Seiten, 14,00 Euro.

 

Schwerpunkt Recht und Justiz

Unser jetziges Rechtssystem ist löchriger und schwerer zu übersehen, als viele Menschen es denken. Schon die Vielzahl von tausenden geltenden Gesetzen, Vorschriften und zu beachtenden Gerichtsentscheidungen, macht es schwer den Überblick zu halten. Kritische „Eigenblicke“ von Juristen sind die Ausnahme. Deshalb hier eine kleine Auswahl von kritischen Ansichten zu der Arbeit von Staatsanwaltschaften, Gerichten und Rechtsanwälten:
Ein Grundwerk sind die Betrachtungen von Rechtsanwalt Bossi „Halbgötter in Schwarz“. Es geht um selbstherrliche Richter, belegt durch erschreckende Vorfälle. Nur ein Beispiel: Ein Richter steckt einen Kollegen in Untersuchungshaft in eine Haftanstalt, in der viele von diesem nun einsitzenden Richter verurteilte Straftäter ihre Haftstrafen verbüßen. Er verliert ein Auge in der Untersuchungshaft. Im Prozess erfolgen der Freispruch und die Rehabilitation.
Robert Pragsts „Auf Bewährung“ ist die sehr packende Geschichte des Arbeitsalltags eines Staatsanwalts in Berlin. Mit Arbeit überladen, weisungsgebunden durch den Oberstaatsanwalt – und in dem Verfahren, zu dem die Anklageschrift vorbereitet wurde, vertritt ihn ein Kollege. Der kennt nur die Aktenlage, aber nicht die Geschichte und die Hintergründe des angeklagten Falls. Sehr gute Hintergrunddarstellung der Vorbereitung eines Strafprozesses.
Robert Glinski stellt in „Angeklagt“ zehn echte Strafprozesse dar. Die Probleme eines Gerichts bei der Aufklärung des Falls und bei der „gerechten“ Straffindung werden erläutert. Gut, wenn man an nachdenkliche Richter gerät.
In Max Stellers erschreckendem Buch „Nichts als die Wahrheit?“ wird beschrieben, wie viele falsche Behauptungen, Erklärungen, Wahrnehmungen in den Gerichtssälen die Urteilsfindungen wesentlich beeinflussen. Oft zum Nachteil von geschädigten Personen. Alles belegt an Hand von durchgeführten Prozessen.
Richter befinden sich immer auf der richtigen Seite, wenn Gutachter Sachverhalte beurteilen, da muss der Richter nicht mehr denken. Weit gefehlt. Sachverständige irren oft und sind von sich selbst befangen. Rudolf Eggs Buch „Die unheimlichen Richter – Wie Gutachter die Strafjustiz beeinflussen“ regt sehr zum Nachdenken an.

Andreas Henselmann

Rolf Bossi: Halbgötter in Schwarz. Deutschlands Justiz am Pranger, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2005, 280 Seiten, 22,90 Euro.
Robert Pragst: Auf Bewährung Mein Jahr als Staatsanwalt, dtv, München 2011. 232 Seiten, 14,90 Euro.
Robert Glinski: Angeklagt Zehn spektakuläre Fälle – als Richter am Schwurgericht, Ullstein Taschenbuch, Berlin 2011, 256 Seiten, 8,99 Euro.
Max Steller: Nichts als die Wahrheit? Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann, Wilhelm Heyne Verlag, München 2015, 288 Seiten, 19,99 Euro.
Rudolf Egg, Die unheimlichen Richter. Wie Gutachter die Strafjustiz beeinflussen, C. Bertelsmann, München 2015, 288 Seiten, 17,99 Euro.

 

Abenteuer mit dem kleinen Nick

Man mag es kaum glauben, aber ältere, jetzt fest im Leben stehende Menschen, waren auch mal jung und knackig. Verdammt jung sogar, und ohne PC, Handy und Konsole gesegnet. Da lasen Mädchen und Jungs alle Kinderbücher, die sie in Kinderbibliotheken ergattern konnten oder die für sie auf verschiedenen Gabentischen bereit lagen. Speziell der Literaturbetrieb der DDR hatte in dieser Beziehung viel zu bieten, vom Abenteuerroman über Indianergeschichten bis hin zu Büchern über angenehm freche Kinder, die fest im Leben standen und die Leser zum Lachen brachten. Erinnert sei an den herrlichen Ottokar Domma, an Alfons Zitterbacke, an die Nele und an Oscar, der einem ein fesches „Gestatten“ entgegen schleuderte. Leider kann der heutige kleine Mensch, der Lesebereitschaft zeigt, mit diesen Büchern nicht mehr viel anfangen, denn er kennt sie nicht, die hineingeschriebenen Pionierleiter und -nachmittage, Appelle und die deutsch-sowjetische-Freundschaft. Auch Patenbrigaden und Volksarmisten rufen nur Verständnislosigkeit hervor. Höchstens, es gibt Eltern und Großeltern, die diese Bücher zu Lieblingsbüchern erklärten und sie nun vorlesen. Über Ottokar Domma lache ich, zum Beispiel, immer noch herzlich.
Als Alternative zu den genannten Figuren gibt es den kleinen Nick, auf den ich leider erst jetzt durch einen wundervollen, dicken Sammelband stieß. Bisherige Filme, Trickserien, die es mittlerweile zu diesen Büchern gibt, ignorierte ich bislang auf mir mittlerweile unverständliche Weise. Pünktlich zur Winterzeit erschien jetzt ein 365 Seiten dickes Buch, das 50 der besten Abenteuer vom kleinen Nick enthält. Gepriesen wird der lustige Bursche als „erfolgreichster Kinderbuchheld aller Zeiten“.
Worum geht es? Irgendwo in der Provinz gibt es eine Klasse voller kleiner, aufgeweckter Jungs, die hellsichtig, ironisch und oft auch nachsichtig die Welt der Erwachsenen betrachten und die für sie wichtige Probleme unreif, oft genial, klären. Jeder der Freunde, ob nun Franz, Georg, Otto, Adalbert, Max, Roland und Joachim, glänzt mit einem ungewöhnlichen Charakter. Da gibt es den Streber, den Vielfraß, den schlechten Schüler, den „immer auf die Nase Hauer“ und den Reichen. Die Geschichten pendeln zwischen Schule, Fußballplatz und Baumhaus. Lehrer werden geärgert, das Lesen (eine Krankheit!) verflucht und Mädchen mit Widerwillen mit einbezogen. Am Ende steigern sich die Jungs so in die Situation hinein, dass alles in einer großen Rauferei endet, ob nun im Klassenzimmer, auf dem Schulhof oder im Garten eines Geburtstagskindes.
Geschaffen haben den kleinen Nick der unvergessliche René Goscinny, der unter anderem die „Asterix“- und „Luky-Luke“-Alben entwickelte, die sich über eine halbe Milliarde Mal in der Welt verkauften. 1926 in Paris geboren, emigrierte seine Familie bald darauf nach Argentinien. Später sucht Goscinny sein Glück in New York, wo er die großen Namen der Comics kennenlernt. Viel zu früh stirbt René Goscinny am 5. November 1977 in Paris. Doch ohne Jean-Jacques Sempé wären die Geschichten nur halb so schön, denn dieser gab den Büchern eine unvergessliche Galerie von Typen bei, die seitdem sogar durch die Phantasiewelt der Leser geistern. Sempè, 1932 in Bordeaux geboren und jetzt in Paris lebend, veröffentlicht Karikaturen in Paris Match, Punch, Marie-Claire und sogar regelmäßig im New Yorker. Unumgänglich ist es, zusammen mit dem von Sempé Namen wie Goscinny, Modiano und Patrick Süßkind zu erwähnen. Ohne sie wären Figuren wie Catherine, die kleine Tänzerin, Herr Sommer und eben der kleine Nick undenkbar. Wer dem, noch nicht ganz an die Technik verlorenen Nachwuchs etwas Gutes tun will, der greife sofort zum „Großen Buch vom kleinen Nick“. Selbst kann und sollte man es natürlich auch lesen, denn es ist der reine Spaß, das absolute Lesevergnügen.

Thomas Behlert

Goscinny & Sempé: Das große Buch vom kleinen Nick, Diogenes Zürich, 30,00 Euro.