18. Jahrgang | Nummer 24 | 23. November 2015

Bemerkungen

Aus anderen Quellen

„Ja, die Terroranschläge von Paris waren ein Angriff auf alles, was Menschlichkeit ausmacht“, schreibt Petra Erler. „Aber das gilt für alle Terroranschläge, überall auf der Welt. In keiner der Stellungnahmen vom Samstag zu den Terroranschlägen auf Frankreich war ein Wort der Solidarität zu hören mit den vielen unglücklichen Opfern, die nahezu zeitgleich in Beirut ermordet wurden. Der jüngste Angriff auf iranische Oppositionelle im Irak, der fünfte inzwischen, wurde in den allermeisten deutschen Medien regelrecht totgeschwiegen. Und ich frage mich, wie glaubwürdig wir den weltweiten Terror wohl ausrotten wollen, wenn […] unser Mitgefühl Unterschiede macht. Nicht Mehmet, nicht die ermordeten Juden im Supermarkt, sondern ‚Je suis Charlie‘ trieb uns um im Januar dieses Jahres auf die Straße. Nicht die inzwischen etwa 60.000 Menschen, die Boko Haram abschlachtete. Alles muss uns gleichermaßen aufrütteln. ‚Menschen, ihr seid doch Menschen, warum weint ihr nicht?‘ Erst im Angesicht seiner toten Töchter kommt Lear zur Besinnung.“
Petra Erler: Terror, ein Klima des Krieges und eine Art Opferhierarchie, EurActiv.de, 18.11.2015. Zum Volltext hier klicken.

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Dass die Russlandberichterstattung in den deutschen Leit- und Mainstreammedien von Sachlichkeit und journalistischer Sorgfalt überwiegend weit entfernt ist und stattdessen häufig stereotype Feindbildklischees bedient, bedeutet ja nicht, dass in Russland und in der russischen Politik keine kritikwürdigen Zustände und Entwicklungen gäbe. Leider haben auch die deutschsprachigen staatlichen russischen Nachrichtenkanäle dazu nicht wirklich etwas zu bieten. Und sich aus anderen russischen Quellen aus erster Hand zu informieren, ist für des Russischen nicht hinreichend Mächtige leider auch kaum möglich. Partielle Abhilfe schafft hier seit kurzem das private Projekt Dekoder, das Beiträge aus russischen Medien in Deutsch präsentiert.
Über die offiziellen Medien in Russland konstatiert Maxim Trudoljubow: Sie „bombardieren die Bevölkerung mit Artikeln über Kriege, Gezänk und Krisen in Griechenland, im Nahen Osten, in Europa und selbstverständlich in der Ukraine. Überall Krisen, in jeder Regierung tummeln sich Politiker, die sich am Staat bereichern, alle Länder befinden sich im Würgegriff von verantwortungslosen Staatsapparaten, von Korruption und Fremdenfeindlichkeit. Doch in Russland geschieht so etwas natürlich nicht, denn es erscheint ja nicht auf den Fernsehbildschirmen. Und wenn dann doch in irgendwelchen Zusammenhängen mal negative Themen aufscheinen, so – und das leuchtet jedem sofort ein – liegen die Gründe für Rezession, Inflation, Ärztemangel und polizeiliche Willkür ausnahmslos außerhalb der Landesgrenzen.“
Darüber hinaus diagnostiziert Alexander Rubzow hinsichtlich des Blickes der russischen Staatmedien auf das Weltgeschehen, „der Nachrichtenhorizont […] wird […] immer enger, das Bild wird extrem vereinfacht, und sein Umriss gleicht immer mehr dem einer Schießscharte“. Und: „Schlimmer noch, auch die Wertsachen werden aus dem Haus getragen: die Bildung, die Wissenschaft, die Kultur, das Gesundheitswesen. Der Haushalt für das nächste Jahr zementiert unseren Rückstand in praktisch allem, was zum Zivilleben gehört – und zum Leben überhaupt. Russland ‚erhebt sich von den Knien‘ und steht nackt da, doch für das letzte Geld rasselt es mit dem Säbel, um die Scham angesichts der Gegenwart und die Angst vor der Zukunft zu übertönen.“
Was immer man vom Referendum auf der Krim und deren nachfolgendem Beitritt zu Russland hält, anderthalb Jahr später herrscht alles andere als Katzenjammer in Sewastopol. Iwan Schilin hat ein Stimmungsbild zusammengetragen. Dabei auch diese Aussage von Tatjana Jermakowa, Präsidentin der Russischen Gemeinschaft Sewastopols: „Die Ukraine hat ihre Fehler schon lange vor dem Euromaidan begangen. Wir haben beispielsweise jedem Präsidenten Briefe geschrieben: Föderalisieren Sie das Land, wir brauchen mehr Selbständigkeit, wir wollen kein Ukrainisch lernen, wir wollen eigene Gesetze. Aber es wurde jedesmal abgelehnt. Deswegen nein. Sewastopol war immer ein Vorposten Russlands auf der Krim, mit uns hätte man behutsamer umgehen müssen.“
Maxim Trudoljubow: Russland als globaler Dissident, Vedomosti, 09.07.2015. Zum Volltext hier klicken.
Alexander Rubzow: Russland auf der Flucht vor sich selbst,
Vedomosti, 15.10.2015. Zum Volltext hier klicken.
Iwan Schilin: „Die Ukraine hat uns betrogen“,
Novaja Gazeta, 04.11.2015. Zum Volltext hier klicken.

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Daniel Gros, Direktor des Centers for European Policy Studies in Brüssel, analysiert die deutsche Wirtschaft und hat festgestellt: „Deutschlands dominante Position, die seit der Finanzkrise von 2008 unantastbar erschien, schwächt sich allmählich ab – mit weitreichenden Auswirkungen für die Europäische Union.“ Sein Fazit: „Wir könnten auf dem Weg zu einer weniger „germanischen“ Wirtschaftspolitik in der Eurozone sein.“
Daniel Gros: Das Ende der deutschen Hegemonie, Project Syndicate, 15.10.2015. Zum Volltext hier klicken.

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Claudia Major (SWP) und Christian Mölling (German Marshall Fund) sorgen sich um den Zustand der militärischen Schlagkraft der EU-Staaten: „Circa 25 Prozent ihrer Schlagkraft haben die EU-Staaten seit 2008 verloren – durch Kürzungen, und weil sie sich bislang nicht untereinander darüber abstimmen, wer welche Truppen abschafft und was auf alle Fälle behalten werden muss. Verblieben sind Bonsai-Armeen: hübsch anzusehen beim Defilée, aber militärisch wenig nützlich.“
Ganz so schlimm scheint es denn aber doch noch nicht zu sein, wenn man Johannes Leithäusers Bericht über das größte NATO-Manöver seit über 20 Jahren folgt, das unter der Bezeichnung „Trident Juncture“ gerade über die Bühne gegangen ist (28.09.-05.11.2015). Zur Beteiligung hatte die Bundeswehr im Vorfeld verlauten lassen: „36.000 Soldaten mit mehr als 130 Flugzeugen, 16 Helikoptern und 60 Schiffen und U-Booten aus voraussichtlich allen NATO-Mitgliedsländern, sieben Partnernationen und sieben Nationen im Beobachterstatus“. Einen Aspekt hob Leithäuser in seinem Resümee besonders hervor: „Die amerikanischen Streitkräfte nutzten […] die Gelegenheit der Nato-Großübung, um […] eigene […] Botschaften in Richtung Moskau zu senden: Eine aus dem fiktiven Krisengebiet am Mittelmeer abgefeuerte Mittelstreckenrakete wurde von schiffsgestützter amerikanischer Raketenabwehr zwischen Frankreich und Großbritannien abgefangen. Die Botschaft steckte nicht im Abschuss der Rakete, sondern in ihrer Abwehr.“
Claudia Major / Christian Mölling: Die Zukunft ist europäisch, Der Tagesspiegel online, 04.11.2015. Zum Volltext hier klicken.
Johannes Leithäuser: Im Zeichen des Dreizacks,
FAZ.NET, 05.11.2015. Zum Volltext hier klicken.

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Was gibt es Neues bei unseren tschechischen Nachbarn? Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, kommt in einer aktuellen Betrachtung zu keinem prickelnden Befund: „[…] je offener die Tschechische Republik seit 1989 geworden ist, desto mehr igelte sie sich ein.“ Und: „Wenn im benachbarten Sachsen Pegida gegen die ‚Islamisierung des Abendlandes‘ mobil macht, klingt das wie ein laues Lüftchen im Vergleich zu den Vorurteilen, die allen voran der tschechische Staatspräsident Milos Zeman von sich gibt.“
Claus Leggewie: Eine Nation macht die Tür zu, FAZ.NET, 14.11.2015. Zum Volltext hier klicken.

Kluge Sprüche

Ein Kluger bemerkt alles, ein Dummer macht über alles eine Bemerkung.
Heinrich Heine

Er ist ebenso dumm, wie er ehrlich ist. Und er ist der ehrlichste Mensch, den ich jemals gesehen habe.
Peter Panter

In der Ehe pflegt gewöhnlich immer einer der Dumme zu sein. Nur wenn zwei Dumme heiraten – das kann mitunter gut gehen.
Peter Panter

zusammengestellt von bebe

Ignorieren ist noch keine Toleranz.

Wenn man über Dinge sprechen will, muss man sie zunächst kennen.

Meiner Natur nach bin ich Optimist; aber ich habe zwei Augen im Kopf, und meine Erfahrungen haben schließlich meine Neigungen korrigiert.

Sonderbar, die Menschen verlangen immer moralische Heldentaten, solange sie persönlich „nicht dran“ sind.

Theodor Fontane

 

Große Kreuze

Nicht betäubend, sondern als Wachmacher wirkt das neue Programm „Globale Betäubung“ bei den Berliner „Stachelschweinen“. Vielleicht liegt das daran, dass diesmal eine Vielzahl von Autoren mitgearbeitet haben und von allen nur das Beste auf die Bühne kam. Regisseurin Tatjana Rese hat die kleine Kabarett-Revue mit dem bewährten Ensemble Birgit Edenharter, Kristin Wolf, Holger Güttersberger und Alexander Pluquett zu einem runden Ereignis gemacht. Der rote Faden ist diesmal ein Krankenhaus, und die Gesundheitspolitik steht natürlich im Mittelpunkt. Doch auch andere aktuelle Probleme werden deutlich angesprochen. Wie gehen wir mit Flüchtlingen um? Ein arabischer Arzt darf in einem deutschen Krankenhaus arbeiten – als Putzkraft! Der sterbende Patient Griechenland wird in dem Sketch „Grexitus“ am Leben gehalten. Einen besonderen Leckerbissen bietet Birgit Edenharter, die als Roboter nach Peter Schillings Melodie von „Major Tom“ mit einem Song brilliert. Pia Wessels hat die Ausstattung übernommen, und es ist schon erstaunlich, was man mit großen Kreuzen alles anstellen kann. Das Publikum im Europa-Center fühlte sich intelligent unterhalten.

Frank Burkhard

Kurze Notiz zu Sennewitz

Wer im Mittelalter von Halle gen Norden zog, kam irgendwo hinter Trotha in eine ziemlich morastige Gegend. Die wurde als Dreckende bezeichnet. Und so ähnlich heißt sie noch heute: Dreckente ist ein Ortsteil von Sennewitz, das wiederum Ortsteil der Einheitsgemeinde Petersberg ist. Von Halle aus betrachtet, liegt Sennewitz in erster Linie nicht im Norden, sondern vor allem: im Speckgürtel.
Das ist Sennewitz ganz unaufdringlich anzusehen: Alle Straßen sind frisch gemacht, der Wegweiser zu den Ortsteilen frisch geschnitzt, nicht wenige Häuser frisch gebaut oder wenigstens frisch getüncht. Die Grundschule hat jüngst einen Neubau hinzubekommen, die Kirche ebenso, am Fußballplatz steht ein größerer Container, der halb Heimatmuseum, halb Veranstaltungsraum ist. Man leistet sich was.
Vor allem Freundlichkeit. Sennewitz ist zwar ordentlich gewachsen, seitdem nicht wenige Hallenser nach der Wende das Landleben entdeckt haben. Aber im Wesentlichen ist der Ortskern immer noch in einer guten halben Stunde umrundet. Man kennt sich, man grüßt auch die Fremden nicht nur mit einem Nicken und äußerst zuvorkommend. Und selbst der als bissig ausgewiesene Wachhund schaut so treudoof über den Zaun, als würde er vor dem angekündigten Biss ganz selbstverständlich um Erlaubnis bitten.
Sennewitz wurde von Slawen gegründet, genauer von der Sippe des Senno, wie der Name schon sagt. Wem das nicht sofort klar ist, den informiert eine Messingplatte auf dem Dorfplatz. Dort ist das Dorf am ältesten: Die romanische Kirche steht dort seit dem Mittelalter, der nahe Straßenzug Am Spittel erinnert an ein Kloster.
In Sennewitz ging es lange Zeit ausschließlich agrarisch zu, die großen Dreiseithöfe erinnern noch daran. Dann kam der Kohlebergbau in der nahen Grube Ferdinande, die Industrie, die Ziegelei. Dann der Sozialismus: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sind neben Heinrich Heine die einzigen straßennamensgebenden Personen in Sennewitz. Nach den Sozis dann das große Nichts – und jetzt das Leben im Speck(gürtel).
Und dieses Leben ist sehr beschaulich: Hier gibt es eine Schachgemeinschaft und einen Geflügelzuchtverein. Die Bibliothek hat montags drei, das Gemeindeamt donnerstags zwei Stunden auf. Und spätestens zu den Abendnachrichten ist Schluss mit allem. Dann wird es – für gewöhnlich – in den zwei Gasthäusern am Platz ruhig, die Lichter am Fußballplatz gehen aus und der letzte Bus nach Halle schwebt durch die Köthener Straße.
In der Einheitsgemeinde gibt es sicherlich bekanntere Orte: Petersberg mit seinem Kloster, Ostrau mit seinem Schloss – und Krosigk wurde in einem Berliner Magazin sogar das schönste Dorf von Sachsen-Anhalt genannt. Aber das alles kann Sennewitz egal sein. Es liegt von allen Orten der Gemeinde am nächsten an Halle dran – und da liegt es sehr vorteilhaft.

Thomas Zimmermann

Eine Bestandsaufnahme des amerikanischen Alltags

Mit seinem Meisterwerk „Revolutionary Road“ (1961, deutsch „Das Jahr der leeren Träume“ 1975 bei Volk und Welt, 2002 „Zeiten des Aufruhrs“) galt der amerikanische Schriftsteller Richard Yates (1926-1992) damals als neuer Hoffnungsträger – ja als Genie, das mit J.D. Salinger und John Updike verglichen wurde. Doch nach diesem Erfolg geriet Yates Ende der 60er Jahre zunehmend in Vergessenheit und das, obwohl ihn berühmte Kollegen wie Richard Ford, Kurt Vonnegut, Joyce Carol Oates oder Stewart O’Nan als Vaterfigur ansahen. Letzterer war es auch, der 1999 dem fast vergessenen Autor mit einem Essay gewissermaßen zu einer Wiedergeburt verhalf.
Seitdem wurden die Werke (vor allem die Romane) von Richard Yates in dichter Folge wieder neu aufgelegt. In deutscher Übersetzung wurden sie kontinuierlich in der Deutschen Verlags-Anstalt herausgebracht, wo jetzt auch mit „Cold Spring Harbor“ (1986) Yates letzter vollendeter Roman erschien.
Yates entführt den Leser hier in das Amerika der 1940er Jahre. Charles und Grace Shepard leben in Cold Spring Harbor auf Long Island, wo sie ein kleines Häuschen haben. Viele Jahre war ihr Sohn Evan das Sorgenkind: jung verheiratet mit der hübschen Mary Donovan, dann die gemeinsame Tochter Kathleen und schließlich die Scheidung. Nun ist Evan, der danach wieder bei den Eltern wohnte, scheinbar erwachsen geworden – zumindest glaubt das vor allem sein Vater.
Zufällig lernen Vater und Sohn die verwitwete Gloria Drake kennen, die mit ihren beiden Kindern, der stillen Tochter Rachel und dem Sohn Phil, in den letzten Jahren schon dutzendmal den Wohnort gewechselt hat. Während sich die trinkfreudige Gloria in Charles verguckt, verlieben sich Evan und Rachel. Ihre Mutter drängt auf eine schnelle Hochzeit und so heiraten die beiden bald.
Als die Jungvermählten schließlich ein Haus kaufen, zieht Gloria mit ein. Die Konflikte sind vorprogrammiert. Da trifft Evan, der ständig Kontakt mit seiner Tochter Kathleen hat, wieder seine Ex-Frau Mary und es entspinnt sich eine neue Liebesbeziehung. Das Verhältnis zu Rachel bröckelt immer mehr, obwohl sie ein Kind erwartet.
Realistisch und völlig unsentimental erzählt Yates die mehrfache Familiengeschichte. Er deckt dabei Lebenslügen, Selbstbetrug und zerstörte Träume auf, und das mit psychologischer Genauigkeit und analytischer Kühle, ohne dabei seine kleinbürgerlichen Figuren zu verdammen. Seinen letzten Roman hatte Richard Yates seinem Kollegen Kurt Vonnegut gewidmet. Noch einmal kann der Leser in die Yates‘sche Erzählwelt eintauchen, die eine unnachgiebige Bestandsaufnahme des amerikanischen Alltags ist.

Manfred Orlick

Richard Yates: Cold Spring Harbor, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015, 240 Seiten, 19,99 Euro.

Wirsing

Die Bundeskanzlerin hat es nicht leicht, wie auch Matthias Fornoff beim Kommentieren des neuesten ZDF-Politbarometers erkannte: „[…] kommt der Gegenwind auch aus der eigenen Partei: von Innenminister de Maizière etwa oder von Finanzminister Schäuble. Und auch die Deutschen schauen mit gemischten Gefühlen auf Merkels Krisenmanagement.“
So ist das also. Schlimm genug, wenn der Franzose de Maizière und der Schwabe Schäuble der Kanzlerin eine lange Nase drehen – selbst „die Deutschen“, wie viele auch immer, verstehen sie nicht. Sie wird doch nicht etwa ins uckermärkische Exil gehen?

Fabian Ärmel