18. Jahrgang | Sonderausgabe | 9. Januar 2015

„Hier bin ich Mensch, hier greif ich ein.
Was Schriftsteller bewirken können.“

von Daniela Dahn

Geist und Macht – ein oft und immer wieder kontrovers diskutiertes Thema. Lässt sich schreibend auf Politik und Gesellschaft Einfluss nehmen? Wenn es dabei um die Wirkung von Büchern geht, dann sollten eigentlich Leser darüber befinden. Denn Autoren neigen zwangsläufig, schon um ihre Schreibmotivation nicht zu verlieren, zu der Annahme von ziemlich großer Wichtigkeit ihres Tuns. In meinem Alter kann man sich langsam Ernüchterung leisten – mein Glauben an die Wirksamkeit von Literatur hält sich in überschaubaren Grenzen. Was nicht heißt, dass ich mich durch Befunde anderer nicht gern auch ermutigen lasse.
„Das Einzige, was Kunst kann, ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zustand der Welt. Und diese Sehnsucht ist revolutionär.“ So war Heiner Müller überzeugt, der selbst erfahren hatte, was es bedeutet, erst verboten, dann in Ost und West kulthaft verehrt und meistgespielt zu sein, um bei gewendeter Lage auch wieder angegriffen und denunziert zu werden.
Solange es Literatur gibt, solange gibt es dieses utopische Potential einer menschlicheren Gesellschaft. Und solange haben Mächtige sich vor Schriften gefürchtet, haben Zensoren eingesetzt, Ketzer inquisitorisch verfolgt. Bis hin zum barbarischen Bücherverbrennen durch die Nazis, beschämend bis heute. Auch Kurt Tucholskys Schriften gingen in den Flammen auf… Tucholskys kurzes Leben war schwierigen Zeiten ausgesetzt: Erster Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise, Faschismus. Und selbst in den angeblich goldenen Zwanzigern, nämlich 1924, wusste er: „Ich habe Erfolg, aber keinerlei Wirkung“.
Tucholskys unterhaltsame Couplets und kabarettistische Einlagen sind bei Feierlichkeiten nach wie vor beliebt, aber seine politischen Polemiken geraten zunehmend in Vergessenheit. Etwa die gegen Sozialdemokraten wie Noske und Ebert oder seine Artikelreihe „Militaria“, nach seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg in der Weltbühne veröffentlicht: „Aus vielen Zuschriften an den Herausgeber und mich geht hervor, dass die völlige Ablehnung des Militärs den Deutschen ins innerste Herz trifft.“ Er sagt: „Ja – aber“, und ich sage: “Nein!“. […] Durch stete Wiederholung sind die alten schlechten Grundsätze der deutschen Armee in die Köpfe getrommelt worden: Der Vorgesetzte hat immer recht; Dienst ist Dienst (und Recht ist Unrecht); jede Dienststellung dient zunächst der persönlichen Bequemlichkeit. […] Nicht das ist so empörend, dass täglich die schlimmsten Übergriffe vorgekommen sind – sondern, dass sich keiner beschwerte, weil er die Nutzlosigkeit seiner Beschwerde von vornherein einsah, und dass das Offizierskorps noch den letzten Verbrecher hielt – aus Gründen der Disziplin. Wo ist der überzeugte Militarist, der etwa befürwortet hätte: Jeder Offizier, der seine Dienstgewalt missbraucht, ist vor der Front zu degradieren!? […]
Was not tut ist, dass das Rechtsbewusstsein des Volkes wieder erwacht.“
Eben diese Notwendigkeit hat sich in der Weimarer Republik nicht erfüllt, Tucholsky galt als enttäuschter Idealist. Und er war damit nicht allein. George Grosz schrieb 1925; es sei die „unausgesprochene Hoffnung jedes Künstlers, der auf künftige Anerkennung rechnet, dass die Menschen neue Maßstäbe und Urteile finden werden“.
Tatsächlich klammerte sich auch Tucholsky an die Hoffnung, Kultur werde die Barbarei nicht nur überleben, sondern verhindern. Ende der 20er Jahre wurde ihm jedoch klar, dass seine journalistisch-literarische Aufklärungsarbeit den Trend der deutschen Gesellschaft nach Rechts nicht verhindern würde. Am Scheitern der Weimarer Republik hatten die konstruktiv kritischen Autoren aus seiner Sicht ihren Anteil; nicht weil sie zu viel, sondern weil sie zu wenig Wirkung hatten.
Könnte dies nicht heute wieder zum Problem werden, da die repräsentative Demokratie immer weniger in der Lage ist, den verwildernden Kapitalismus zu zähmen, und immer mehr zur Attrappen-Demokratie verkommt, hinter deren Fassade sich eine Oligarchie ungeniert bereichert? In Zeiten, in denen die Menschen durch Brot und Spiele zerstreut und durch die Dominanz der von den Privateigentümern finanzierten Verblödungsprogramme und Mainstream-Medien dem Denken in Zusammenhängen entwöhnt und entpolitisiert sind? Wo oberstes Gebot ist: Denke systemimmanent, denn jeder andere Gedanke ist undenkbar. Er ist des Teufels, denn die Verführung zu eigenen Fragen endet bekanntlich mit der Vertreibung aus dem Paradies. Wer schweigt, der bleibt.
„Man kann für eine Majorität kämpfen, die von einer tyrannischen Minderheit unterdrückt wird. Man kann aber nicht einem Volk das Gegenteil predigen von dem, was es in seiner Mehrheit will“, schrieb Tucholsky 1933 an Walter Hasenclever.
Nachdem sich selbst der Jude Ullstein gezwungen sah, in seinem Verlag jüdische Mitarbeiter zu entlassen und 1933 die Weltbühne verboten wurde, hatte Tucholsky in Deutschland auch keine Publikationsmöglichkeit mehr. Sein Verdikt, sich als „aufgehörten Dichter“ zu verstehen, war tragische Konsequenz dieser gnadenlosen Zeit.
„Der Sozialismus wird erst siegen, wenn es ihn nicht mehr gibt“, prophezeite Tucholsky und empfahl: Von vorn, ganz von vorn anfangen. Nicht auf Stalin hören, so geht’s nicht. Nein, so ging´s nicht.
Als nach dem Zweiten Weltkrieg, in der DDR, zunächst Intellektuelle und Schriftsteller wie Rudolf Herrnstadt, Ernst Bloch, Erich Loest, Wolfgang Harich oder später Rudolf Bahro von vorn anfangen wollten, da hat die jeweilige Macht dies stets zu verhindern gewusst. Sie wurden entlassen, gar verhaftet, ihre Bücher nicht gedruckt. Andere Autoren lösten heftige Debatten aus. Unangepassten war in der DDR große Aufmerksamkeit stets sicher. Bücher, Filme oder Theaterstücke waren oft der einzige öffentliche Raum, in dem politisch abweichende Meinungen zu Wort kamen. Sie bestanden auf subjektiver Authentizität und stärkten das ICH der Leser und des Publikums. Das verhalf ihnen zu erheblicher Resonanz. Autoren wie Heiner Müller, Ulrich Plenzdorf, Christa Wolf, Brigitte Reimann, Günter de Bruyn, Volker Braun, Wolfgang Kohlhase, Peter Hacks und manch andere haben so gewirkt.
[…]
Es ist gleichwohl natürlich töricht, den Wert von Geschriebenem an messbaren Folgen abrechnen zu wollen. Es macht die Sache nur klein. Dennoch neigen Autoren, in ihrem Drang nach Selbstbestätigung dazu, auch Tucholsky war davon nicht frei. An den Publizisten Franz Hammer schrieb er, wenn auch mit sichtbarem Augenzwinkern: „Das, worum mir manchmal so bange ist, ist die Wirkung meiner Arbeit. Hat sie eine? … da schreibt man und arbeitet man – und was ereignet sich nun realiter in der Verwaltung? Gehen die Sadisten? Werden die Bürokraten entlassen?“
In der DDR durfte man bekanntlich wenig sagen, aber das wenige hatte oft konkrete Folgen… Auf dem Schriftstellerkongress im November 1987 in Ostberlin wandten sich einige Autoren unabgesprochen in parallelen Arbeitsgruppen gegen Zensur, die Rede von Christoph Hein schlug hohe Wellen. Davon nichts wissend, sagte ich als damals noch junge Kandidatin des Verbandes nicht ohne Herzklopfen in meiner Gruppe: „Es wird immer wieder unterstellt, dass bittere Wahrheiten einem verbitterten Weltbild entspringen und verbitterte Leser und Zuschauer zurücklassen. Das ist zynisch, weil inzwischen jeder weiß, dass die Leute gerade deshalb verbittert sind, weil sie Halbwahrheiten vorgesetzt kriegen, weil sie sich durch diese geistige Bevormundung gedemütigt, traurig, mutlos fühlen. Nichts ist doch mobilisierender, als dabei zu sein, wenn Belastendes, das bislang jeder für sich geschleppt hat, durch Öffentlich-Machen auf alle Schultern der nun Wissendürfenden verteilt wird. Wenn schon Schulterschluss, dann doch bitte dieser: Offenheit. […] Die Praktiken von Informationsverweigerung vor dem Schreiben und Zensur danach sind unwürdig für alle Beteiligten.“
Immerhin – die Notwendigkeit einer Druckgenehmigung wurde nach diesem Kongress abgeschafft und seine Protokolle in zweibändiger Ausgabe gedruckt.
Im Herbst 1989 haben sich viele Beobachter aus dem Westen gefragt, wie das Wunder zu erklären sei, dass ein angeblich unmündig gehaltenes Volk mit so viel politischer Reife und Besonnenheit eine so friedliche Umkehr vollbracht hat. Wer dabei war, weiß, wie Wunder entstehen. Es gibt dafür rationale Erklärungen: Das Graswurzelgeflecht aus Gesprächskreisen, Kirchengemeinschaften, Friedens- und Umweltgruppen, die Kerzendemonstranten und Protestbriefschreiber, stand nach eigenen Angaben auch unter dem Eindruck einer Kunst, die die erwähnte, revolutionäre Sehnsucht weckte, nach einem anderen Zustand des Ichs und der Welt. […]
Wer von den schreibenden DDR-Dissidenten glaubte, er könne nun, unter den 1989 erkämpften Bedingungen der Meinungsfreiheit, viel einfacher kritisch sein, erfuhr, dass Freiheit immer die Freiheit der Andersverdienenden ist. …Wenn einige der oben genannten Autoren ein kritisches Bild der heutigen Zustände zeichneten, konnten sie kaum mit Lorbeeren in Form von zustimmenden Rezensionen oder Preisen rechnen. Ulrich Plenzdorf etwa, im Westen einst als Kronzeuge für östliches Aufbegehren hochwillkommen, fühlte sich bald nach der Wende „zur Ruhe gesetzt“. 2003 sagte er in einem Interview: „Ich habe diese Auseinandersetzung über die Deutungshoheit östlicher Schicksale glatt verloren.“ […]
Anders ergeht es den Autoren, die den Spielregeln des kalten Krieges treu bleiben. Belohnt wird von all jenen, die ihre Vorurteile gern bestätigt sehen, wer mit detailreichen Erfindungen ein totalitäres Bild des Realsozialismus perpetuiert, in dem jeder Gedanke daran erstickt wird, dass dieses Gesellschaftsexperiment neben allen Irrwegen und Tragödien auch emanzipatorische Ansätze enthielt.
[…]
Natürlich gibt es nicht nur eine Wirkung von Schriftstellern auf die Gesellschaft, sondern auch umgekehrt, von dieser auf die Schriftsteller. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat die „tiefe Abhängigkeit der Intellektuellen und Künstler von den sie beschäftigenden Industrien“ beklagt. Künstler bedienten bewusst oder unbewusst marktgängige Klischees, um ihre Preis- und Absatzchancen zu erhöhen. Das hat auch Friedrich Dürrenmatt in seinem Essay „Schriftstellerei als Beruf“ beschrieben: „Wer eine Ware verkaufen will, muss den Markt studieren. Auch der Schriftsteller.“ Den Markt beobachtend, lernt der Schriftsteller, sich listig zu äußern, nämlich „das Seine unter auferlegten Bedingungen zu schreiben.“ […]
Max Frisch hat in seiner berühmten Solothurner Rede 1986 die Aufklärung, das Wagnis der Moderne, für gescheitert erklärt. Aus Sicht der Mächtigen mache das Sinn, denn unaufgeklärte Bürger seien zu ihren eigenen Lasten leichter zu dirigieren und zu manipulieren. „Verkommen wir zu Demokratie als Folklore?“, fragte er angesichts der bitteren Erkenntnis, wonach am Ende der Bemühungen um Aufklärung nicht der mündige Mensch, sondern das Goldene Kalb stünde. Doch gerade deshalb solidarisierte er sich mit allen, die in der profitmanischen Gesellschaft dennoch Widerstand leisten, um einer sittlichen Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen.[…]
In ihrem Werbeslogan hat eine Drogeriekette, vermutlich unfreiwillig, den hohlen Sinn des Daseins im Kapitalismus zynisch auf den Punkt gebracht: „Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein.“ Wir Bürger sollen unsere Freiheit gefälligst als Konsumenten ausleben. Das funktioniert ja leider auch recht gut. Ich habe ein abgewandeltes Motto vorgeschlagen: „Hier bin ich Mensch, hier greif ich ein.“
In diesem Sinne müssen wir uns den widerständigen Schriftsteller als glücklichen Menschen vorstellen. Die direkte Wirkung von Literatur auf Politik und Gesellschaft tendiert gegen Null. Literatur wirkt nur auf eins – auf Individuen. Und manchmal sind es sogar Individuen, die Politik machen. Was sich langfristig in den Ablagerungen unserer Bewusstseinsschichten tut – wer will darauf schon seine Hosenknöpfe verwetten?
So vertraue ich lieber Klassikern wie Kafka und seiner Gebot gewordenen Beschwörung: „Das Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ „Was bleibt von Kunst?“ hat sich Robert Musil gefragt und geantwortet: „Wir, als Geänderte, bleiben.“ […]
Bei einer Diskussion in Leipzig sagte mir eine Leserin: „Ich habe Ihr Buch am Wochenende gelesen und am Montag bin ich erstmals seit langem erhobenen Hauptes durch die Stadt gegangen.“ Von einer schöneren Wirkung meines Schreibens habe ich nie gehört. Ich hoffe, das hat Tucholsky  auf seiner Wolke gefallen.

Hier bin ich Mensch, hier greif ich ein. Auszug aus Daniela Dahns Festrede zum 25. Jubiläum der Tucholsky-Gesellschaft am 17. Oktober 2013. Gekürzt mit Zustimmung der Autorin.

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