von Wolfgang Schwarz
Stimmte der schon fast zum Bonmot avancierte Werbeslogan des Blattes – „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf.“ – dann müsste einem wegen der groben Vereinfacher und Realitätsentsteller, die in der FAZ und ihrem Sonntagsableger zum Ukraine-Konflikt sowie zu Russland nicht nur fast ausschließlich zu Wort kommen, sondern dort auch in leitenden Sesseln platziert sind, nicht bange sein: Der mit- und weiterdenkende kluge (Leser-)Kopf wird den Parolen schon nicht aufsitzen. Wie zum Beispiel dieser des Außenpolitik-Chefs Klaus-Dieter Frankenberger: „Das ist ein Konflikt, den die Europäer weder gewollt noch vom Zaun gebrochen haben. Auch da sollte sich niemand von der russischen Propaganda und deren Sekundanten im Westen irre machen lassen.“
Als „Sekundant im Westen“ gestatte ich mir trotzdem den Hinweis, dass dergleichen selbst im eigenen Lager nicht unwidersprochen bleibt. Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart hielt einseitigen Schuldzuweisungen entgegen: „[…] jede Tat gehört in ihren Kontext.“ Wer diesen bezüglich des Ukraine-Konflikts nicht bereits im Blättchen nachgelesen hat, der kann das auch gut bei John Mearsheimer in der aktuellen Ausgabe von Foreign Affairs tun. Die Kurzfassung des amerikanischen Politologen lautet: „Alles in allem war der Westen in Russlands Hinterhof vorgestoßen und hat Moskaus elementare strategische Interessen bedroht, ein Punkt, auf den Putin mit Nachdruck und wiederholt hingewiesen hatte.“
Man mag eine solche Interpretation der diversen NATO- und EU-Erweiterungen durch Russland überzogen, gar unangemessen finden, aber sie kann bei einem Land, dessen frühere ukrainische Territorien sowohl im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg den beabsichtigten tödlichen Vorstoß der deutschen Angreifer samt ihren jeweiligen Verbündeten ins Herz des Landes letztlich ins Leere laufen ließen, nicht wirklich verwundern. „Und“, so Mearsheimer, „es sind die Russen, nicht der Westen, die letztlich darüber entscheiden, was sie als Bedrohung empfinden.“
Als Bedrohung empfinden könnten sie dabei nicht zuletzt den Sachverhalt, dass der Nordatlantikpakt Russland auch in der Ukraine-Krise weiter näher rückt: Die bisher offiziell bündnisfreien Staaten Schweden und Finnland haben dieser Tage angekündigt, sogenannte Gastland-Abkommen mit der NATO unterzeichnen zu wollen. Sie würden damit, wie die Süddeutsche Zeitung kommentierte, „einen weiteren großen Schritt Richtung NATO machen“. Durch solche Abkommen öffnen sich Länder für NATO-Truppen, die dann dort üben und Häfen, Flughäfen sowie andere Infrastruktureinrichtungen nutzen dürfen. Die Neue Zürcher Zeitung hat vor diesem Hintergrund einen Blick auf die Landkarte geworfen: „Falls Finnland der Allianz beiträte, würde sich deren Landesgrenze mit Russland verdoppeln.“ Die NATO, so wäre zu ergänzen, stände im Falle des Falles dann wenige Kilometer vor Sankt Petersburg.
Nach Peter Riesbeck von der Berliner Zeitung lautet die „entscheidende Frage“ in der Ukraine-Krise, auf die der Westen noch keine Antwort gefunden habe, „wie [soll] man umgehen […] mit einem wie Putin, der alle Regeln der außenpolitischen Rationalität unterläuft“. Solche Art Betrachtung ist derzeit vorherrschend und auch deswegen fatal, weil damit zugleich der notwendige Partner zur Konfliktlösung auf der anderen Seite eskamotiert wird: Wer den Boden der Rationalität verlässt, ist üblicherweise reif dafür, dass ihm die Diagnose vom Irrenarzt gestellt und er gegebenenfalls zum Schutz anderer wie vor sich selbst ein Quartier ohne Klinke an der Innenseite der Tür zu beziehen genötigt wird.
Aber vielleicht folgt Putin ja auch nur einer anderen außenpolitischen Rationalität als der des Westens – nämlich einer, die von russischen Interessen ausgeht. Mit etwas Empathie für Russland lässt sich die Entwicklung vom Ende des Kalten Krieges bis zur jetzigen Krise nämlich auch folgendermaßen lesen: Nach 1990 ging Moskau davon aus, das es keine Erweiterung der NATO nach Osten geben wird. Auch wenn Gorbatschow sich dies im 2+4-Vertrag nur für das Gebiet der damaligen DDR hat völkerrechtlich verbindlich kodifizieren lassen, entließ die Sowjetunion ihr mittel- und südosteuropäisches Vorfeld aus dem Moskauer Herrschaftsbereich nur unter der Maßgabe beziehungsweise mit der historisch in den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges wurzelnden Erwartung, dass kein potentieller Gegner je wieder an sowjetischen Grenzen, wenig später dann an denen Russlands Stellung, bezieht.
Als die NATO ab 1997 gegenteilige Schritte unternahm und zunächst mit Polen, Tschechien und Ungarn Ex-Warschauer-Pakt-Verbündete integrierte sowie 2002 mit den drei baltischen Staaten gar ehemalige sowjetische Territorien (plus Rumänien und Bulgarien, beide ehemals ebenfalls im Warschauer Pakt), machte Moskau zwar jedes Mal politische Vorbehalte geltend, aber vergebens. Es ließ sich auch noch auf den NATO-Russland-Rat – vom Westen als Beruhigungspille gedacht – ein, nur um dann festzustellen, dass dieser ihm genau das Mitspracherecht in sicherheitspolitischen Fragen, das in Aussicht gestellt worden war, de facto verweigerte. Und dann sollten mit Georgien und insbesondere der Ukraine die nächsten neuen NATO-Mitglieder, nun direkt mit Grenzen zu Russland, folgen. An dieser Stelle hat Putin klar zum Ausdruck gebracht: Bis hierher und nicht weiter. Er hat das mindestens zweimal getan – zuerst in seiner scharfen Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 und dann mit entschlossenem militärischen Vorgehen im von Tbilissi losgetretenen Georgien-Krieg 2008.
Als die EU unter erneuter Ausgrenzung Moskaus mit Kiew über Assoziierung (inklusive militärischer Zusammenarbeit) verhandelte, implizierte das für Putin das Risiko einer Integration der Ukraine auch in die NATO. (Alle ehemaligen nichtsowjetischen Warschauer Paktstaaten sowie die baltischen Länder gehören heute beiden Organisationen an.) Also übte er Druck auf die Ukraine aus und veranlasste deren Präsidenten Janukowitsch, das ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der EU in letzter Sekunde auszusetzen. Als sich daraufhin die Lage im Lande zuspitzte und prowestliche Kräfte mit amerikanischer und anderer Unterstützung den gewählten Präsidenten samt Regierung stürzten, war offensichtlich: Die russischen Sicherheitsinteressen sollten ein weiteres Mal den Kürzeren ziehen. Daraufhin ergriff Putin die sich bietende Möglichkeit, durch Annexion der Krim einem befürchteten Verlust der strategischen russischen Marinebasis in Sewastopol zuvorzukommen, und den neuen Machthaber in Kiew mit ihrem Streben in die EU und in die NATO durch Unterstützung prorussischer Separatisten in der Ostukraine Kontra zu bieten. Seit Waffenlieferungen allein kein Patt mit dem ukrainischen Militär mehr sicherstellten, kommen offenbar auch russische Armeeangehörige – mehr schlecht als recht verdeckt operierend – in einem solchen Maß zum Einsatz, dass die Separatisten ihre Stellungen halten und regional zu begrenzten Gegenoffensiven übergehen können, so dass eine militärische Konfliktbeendigung durch Kiew blockiert wird.
Wenn man annimmt, dass Putins primäres Ziel darin besteht, eine einseitige Westorientierung der Ukraine, insbesondere eine NATO-Mitgliedschaft des Landes, nicht zuzulassen, dann folgt sein Agieren bis hierher durchaus einer stringenten außenpolitischen Rationalität und zeugt überdies davon, dass ihm klar ist, dass er die Ostukraine nicht in gleicher Weise annektieren kann wie die Krim. (Dass er das je gewollt hätte, darf unter dem Aspekt, dass ihn eine solche Annexion seinem eigentlichen Ziel keinen Schritt näher brächte, füglich bezweifelt werden. Von den wirtschaftlichen und internationalen Implikationen eines solchen Schrittes ganz abgesehen.)
Natürlich ist das Ganze zugleich ein riskantes Spiel mit dem Feuer, das eskalierend aus dem Ruder laufen kann – auch weil die USA und die NATO sowie die EU in diesem Konflikt von Fall zu Fall mit Brandbeschleunigern operieren.
Bleibt die Frage: Wie soll man mit Putin, mit Russland umgehen? Die Sanktionen verstärken, wie hierzulande und anderswo allenthalben lautstark gefordert wird? Dazu hat der Russland-Beauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler (SPD), angemerkt: Angesichts des Risikos, das Putin in der Ukraine eingehe, dürften ihn weitere Sanktionen nur wenig beeindrucken. Ich teile diese Auffassung.
Ein ernsthafter westlicher Ansatz zur Konfliktlösung müsste demgegenüber das skizzierte strategische Interesse Russlands anerkennen und mit einbeziehen. Das wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn angeboten würde, zwischen Moskau, Washington, Brüssel und Kiew den dauerhaften Bestand einer unabhängigen Ukraine in gesicherten Grenzen vertraglich zu vereinbaren – einschließlich des Verzichts, das Land (sowie weitere post-sowjetische Staaten) direkt oder indirekt in die NATO einzubinden, sowie der Zielstellung, die Ukraine zu einem „Scharnier“ an der Nahtstelle zwischen EU und Eurasischer Wirtschaftsunion zu entwickeln.
Stattdessen hat die NATO auf ihrem jüngsten Gipfel Anfang des Monats aber leider einmal mehr gezeigt, dass sie die tradierte Klaviatur der Konfrontation gegenüber Russland weit „virtuoser“ beherrscht als das ABC partnerschaftlicher Gegenwarts- und Zukunftsgestaltung.
Die Teile I bis III erschienen in den Ausgaben 15/2014, 16/2014 und 18/2014. Weitere Beiträge des Autors zu diesem Themenkreis in den Ausgaben 7/2014, 9/2014, 11/2014 und 13/2014.
Schlagwörter: der Westen, EU, Finnland, NATO, Osterweiterung, Russland, Schweden, Ukraine, USA, Wolfgang Schwarz