Deutschland befindet „sich […] in der schlimmsten sicherheitspolitischen Lage
seit der Wiederbewaffnung“.
Berthold Kohler
Mitherausgeber der FAZ
„Die Europäer sehen nicht den offensichtlichen Widerspruch zwischen dem Jubel über Russlands Unfähigkeit, die Ukraine zu besiegen (ein Land mit 38 Millionen Einwohnern und einem BIP von etwa 189 Milliarden Dollar im Jahr 2024) und der Erklärung, dass Russland die wahre Bedrohung für Europa ist (mit 744 Millionen Einwohnern und einem BIP von 27 Billionen Dollar im Jahr 2024).“
Kishore Mahbubani
Exdiplomat und Politologe
Die permanente propagandistische Indoktrination der Öffentlichkeit durch den politischen Mainstream und seine medialen Verstärker, wonach die russische militärische Bedrohung nicht nur eine, sondern die existenzielle sicherheitspolitische Herausforderung NATO- und EU-Europas sei, hält unvermindert an. So bemühte die FAZ am 20. Februar 2025 Gustav Gressel, Hauptlehroffizier an der Landesverteidigungsakademie in Wien, der ein wahres Horrorszenario entwarf: Russland wolle „die Ukraine als Ganzes […] unterwerfen“ und „eine europäische Ordnung nach eigenem Wunschdenken errichten“. Für Putin stelle sich „die Frage: Soll er abwarten, bis es wieder einen zurechnungsfähigen amerikanischen Präsidenten gibt? Bis die Europäer mit ihren Nachrüstungsbemühungen Erfolge haben […]? Das macht aus russischer Sicht keinen Sinn: Zielführend wäre ein möglichst schnelles und möglichst hartes Zuschlagen.“ Dann „würde man mit der Armee, die schon in der Ukraine steht, weitermarschieren“, dann könnte der Ukraine-Krieg „sehr schnell übergehen in einen großen Krieg um die militärische Vorherrschaft in Europa“.
Wenn man dergleichen nur oft genug mantraartig vorbetet, darf man sich nicht wundern, wenn der eigene Bezug zur Realität dabei ebenfalls auf der Strecke bleibt und wenn daraus abgeleitetes staatliches Handeln das Leiden – die zunehmende Kriegsgefahr zwischen dem Westen und Russland – nicht therapiert, sondern verschlimmert.
Thomas Fasbender, Geopolitik-Chef der Berliner Zeitung, beobachtete die diesjährige Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) und stellte fest: „[…] jene, die von Zeitenwende und neuen Verhältnissen sprechen, kennen nur eine einzige, tradierte Konfrontation: die russische Gefahr. Die Russen am Rhein, am Ärmelkanal oder zumindest im Baltikum – die Renaissance des altgewohnten Feindbilds belebt wie der erste Schluck nach jahrelanger Abstinenz.“ Und Anatol Liven, Experte am Quincy Institute for Responsible Statecraft in Washington, diagnostiziert bei der solcherart infizierten sicherheitspolitischen Elite „einen Zustand geistiger Verwirrung, der mit dem Begriff ‚kognitive Dissonanz‘ absolut unzutreffend beschrieben ist. Sie reden sich ein, Putin verfolge größenwahnsinnige Ziele und werde deshalb eines Tages die baltischen Staaten angreifen, um die NATO zu ‚testen‘, obwohl Putin nie auch nur ansatzweise einen entsprechenden Wunsch erkennen ließ und obendrein für minimale Vorteile furchtbare Risiken eingehen müsste“.
Damit nicht genug: Aus vorherrschender westeuropäischer Sicht in bisher ungekanntem Ausmaß potenziert hat sich die „Bedrohung“ durch Moskau seit dem 20. Januar 2025 (Vereidigung Donald Trumps als Präsident) – durch den Stil und die sicherheitspolitischen Aktivitäten der neuen USA-Regierung. Besser als Welt-Chefkorrespondent Sascha Lehnartz kann man den entsprechenden mentalen Reflex gar nicht zum Ausdruck bringen: „Europa steht am Abgrund, weil die Vereinigten Staaten unter Donald Trump ihren Job als Schutzmacht des Westens unerwartet fristlos gekündigt haben.“
Formuliert wurde dieser Befund vor dem Eklat am 28. Februar 2025, als Trump, sein Vize Vance und der ukrainische Präsident Selenskyj vor Journalisten und laufenden Kameras wie die Kesselflicker aneinandergerieten (zum Mitschnitt – Minute 17:30 – hier klicken). Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr München kommentierte zutreffend: „Letzten Endes ist das, was wir heute gesehen haben, das Zeichen dafür, dass sich niemand mehr […] auf die Vereinigten Staaten verlassen kann, wenn er gegenüber Trump keine Unterwürfigkeit zeigt.“
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Exkurs: Als besonders heimtückischer Dolchstoß gegen die transatlantische Verbundenheit wird der Vorstoß Trumps bewertet, durch Zugehen auf Moskau und unter Ausklammerung Westeuropas (sowie zunächst auch Kiews) eine diplomatische Beendigung des Ukraine-Krieges in Angriff zu nehmen. Schlagzeilen im deutschen Blätterwald: „Verrat ohne Beispiel“ (Berliner Morgenpost), „Trumps Ukraine-‚Wahnsinn‘“ (Frankfurter Rundschau), „Russland freut sich“ (Deutsche Welle) …
Im Betroffenheits- und Empörungstsunami gehen gegenteilige Auffassungen, soweit sie überhaupt publiziert werden, weitgehend unter. Doch es gibt sie. Professor Jörg Barberowski, Russland-Kenner von der Humboldt-Universität zu Berlin, gab auf die Frage der Welt, was er von „Trumps Initiative, bilaterale Friedensgespräche mit Russland zu führen“, halte, zu Protokoll: „Ich finde das vernünftig […], dass einer, der auch kann, was er will, die Initiative ergreift, diesen schrecklichen Krieg zu beenden. Denn es ist offenkundig geworden, dass Russland zwar nicht gewinnen, aber auch nicht verlieren wird, jeder weitere Tote einer zu viel ist. Jetzt kommt es darauf an, eine Nachkriegsordnung zu schaffen, in der die Souveränität der Ukraine mit den Interessen Russlands in Übereinstimmung gebracht werden kann, so wie es nach 1945 wenigstens im Westen Europas gelungen ist, Deutschland in eine Abhängigkeit zu seinen Nachbarn zu bringen, aus der es nichts als Gewinn zog.“
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Und nun? Quo vadis, (NATO- und EU-)Europa?
Darüber herrscht bei den Eliten der militärisch potentesten westeuropäischen NATO- und EU-Staaten offenbar weitgehende Übereinstimmung – aufrüsten, aufrüsten aufrüsten. „Die Bereitschaft zum Krieg ist scheinbar noch immer tief verwurzelt“, konstatieren Michael Müller, Peter Brandt und Reiner Braun in ihrem Essay „Die nicht gewollte Diplomatie“. Wobei die gebräuchlichen Sprachregelungen der Protagonisten dies nicht ohne Weiteres preisgeben; so formulierte der voraussichtlich nächste Bundeskanzler Ende Januar beim Körber Global Leaders‘ Dialog: „Wir wollen uns verteidigen können, sodass wir uns nicht verteidigen müssen.“
Noch vor der Bundestagswahl berichtete das US-Medienunternehmen Bloomberg: „Europäische Regierungsvertreter arbeiten an einem neuen, umfangreichen Paket zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben und zur Unterstützung Kiews […].“ Und: „Die Ausgabenpläne werden erst nach der deutschen Wahl am 23. Februar bekannt gegeben, um Kontroversen vor der Abstimmung zu vermeiden […].“ Doch Annalena Baerbock ließ bereits am Rande der MSC die Katze aus dem Sack: Gedacht werden könnte an eine Größenordnung von etwa 700 Milliarden Euro. Und in der Berliner Zeitung rechnete Kollege Simon Zeise unter Rückgriff auf das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW Köln) vor, womit in Deutschland gerechnet werden muss: „Der Verteidigungshaushalt umfasst derzeit 53,5 Milliarden Euro und soll auf 80 Milliarden ansteigen […].“ Ein erheblicher Teil davon, 21,5 Milliarden, sei ab 2028 allerdings ungedeckt. Hinzu käme: „Bei einem NATO-Beitrag von drei Prozent würde der ungedeckte Finanzierungsbedarf nach Auslaufen des Sondervermögens auf 74 Milliarden Euro jährlich anwachsen […]. Für die gesamte Legislaturperiode wären 136 Milliarden Euro zusätzlich zu finanzieren.“ Insofern entbehrte es nicht einer gewissen Folgerichtigkeit, dass die Unionsparteien unter Friedrich Merz gleich nach der Wahl die Idee aufbrachten, noch vor der Konstituierung des neuen Bundestags ein weiteres, nun 200 Milliarden Euro schweres Paket an Sonderschulden für die Bundeswehr im Grundgesetz zu verankern. Kurz darauf, nach ersten Sondierungskontakten mit der SPD bezüglich einer Koalition, waren daraus bis zu 400 Milliarden geworden. Mit der bisherigen Zweidrittelmehrheit von Union, SPD, FDP und Grünen wäre eine Verankerung im Grundgesetz möglich, könnte im neuen Bundestag jedoch an der Sperrminorität von AfD und Linken scheitern.
Daneben werden weitere Vorstellungen, Ideen, Konzepte ventiliert und promotet – etwa nun doch schnell eine Art (West-)Europäische Verteidigungsgemeinschaft zusammenzuzimmern, zu der schon 1954 erfolglos Anlauf genommen worden war. Eine Viererbande aus dem Kreis der üblichen Verdächtigen (in diesem Falle: SWP, Bundeswehruniversität München, Bertelsmann Stiftung und European Council on Foreign Relations) hat via Spiegel ein Pamphlet veröffentlicht, in dem gefordert wird, dass die NATO- und EU-Europäer anstelle der bisherigen Führungsrolle der USA schnellstens „eine stabile Absprache“ untereinander brauchten, „wer legitim und dauerhaft in welchen Bereichen führt und damit auch über Ziele und über den Einsatz von Militär entscheidet“. Nicht zuletzt erleben Vorstellungen, eine westeuropäische Atomstreitmacht aus der Taufe zu heben (siehe dazu den Beitrag von Jürgen Wagner in dieser Ausgabe), gerade ihre x-te Renaissance.
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Kann man alles machen: bis an die Zähne aufrüsten, eine EUTO (European Treaty Organisation) gründen und sie atomar bewaffnen. Das dürfte umso leichter fallen, wenn man die Augen vor dem Sachverhalt verschließt, dass auch eine noch so umfassende Militarisierung im Hinblick auf eine Überwindung des grundlegenden sicherheitspolitischen Dilemmas im Verhältnis zu Russland nicht zielführend ist: Sollte es, warum und wie auch immer, zum militärischen Konflikt mit Moskau kommen und dieser nuklear eskalieren, wäre die Zerstörung all dessen, was verteidigt werden soll, für Deutschland und darüber hinaus nicht unwahrscheinlich.
Alternative? Bei der meinungsführenden Elite hierzulande und im verbündeten Ausland – Fehlanzeige.
Anregendes fand sich unlängst in Foreign Policy, einem der führenden Politik-Magazine der USA. Unter dem Titel „It’s Time for Europe to Do the Unthinkable“ („Es ist Zeit für Europa, das Undenkbare zu tun“) entwickelt und begründet Kishore Mahbubani – langjähriger Botschafter Singapurs, unter anderem bei der UNO, deren Sicherheitsrat er 2000/2001 präsidierte; derzeit Professor für Politikwissenschaft an der National University of Singapore – drei Optionen, mit deren Hilfe NATO- und EU-Europa seine geopolitische Irrelevanz im Hinblick auf den Ukraine-Krieg und andere für die Sicherheit Europas fundamentale Fragen abstreifen könnte:
Erstens „sollte Europa seine Bereitschaft erklären, aus der NATO auszutreten. Ein Europa, das gezwungen ist, fünf Prozent für die Verteidigung auszugeben [Trumps Forderung – S.], ist ein Europa, das die Vereinigten Staaten nicht braucht.“
Zweitens empfiehlt Mahbubani, „eine neue große strategische Abmachung mit Russland auszuarbeiten, bei der jede Seite die Kerninteressen der anderen berücksichtigt“.
Drittens regt er die „Ausarbeitung eines neuen strategischen Abkommens mit China“ an.
Allerdings, so Mahbubani, erwecke das Verhalten der Westeuropäer „nach Trumps provokativen Aktionen […] den Eindruck, dass sie die Stiefel lecken, die ihnen ins Gesicht treten“. Die jüngsten vasallenhaften Stippvisiten bei Trump – Frankreichs Präsident Macron „setzte […] auf eine Charmeoffensive“ (tagesschau), der britische Premier Starmer habe sich „in Lobpreisungen über und Ergebenheitsadressen an den Gastgeber ergangen“ (FAZ) – dürften diesen Eindruck kaum entkräftet haben.
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Quo vadis, (NATO- und EU-)Europa? In dem erwähnten Essay „Die nicht gewollte Diplomatie“ heißt es zutreffend: „Militarismus ist […] keine politische Antwort.“
Alternative? Die Autoren, deren Auffassung der Verfasser vorliegenden Beitrags teilt, empfehlen diese: „Unser Kontinent braucht eine eigenständige Politik, eine eigenständige Identität, eine eigenständige Wirtschafts-, Sozial- und Außenpolitik. Und die Zusammenarbeit auch mit Russland. Das erfordert ein Zurück zu der konkreten Vision der Gemeinsamen Sicherheit. Nur dann kann Europa eine gestaltende Rolle in der Weltpolitik einnehmen. Nur dann kann es eine friedliche Welt geben.“
Schlagwörter: aufrüsten, China, Europa, Krieg, NATO, russische Bedrohung, Russland, Sarcasticus, Ukraine