28. Jahrgang | Nummer 5 | 10. März 2025

NATO: Nukleare Zeitenwende?

von Jürgen Wagner

Die deutsch-amerikanische Ankündigung, ab 2026 verschiedene US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland zu stationieren, wirkt sich jetzt schon verheerend auf sensible nuklearrelevante Bereiche aus (siehe IMI-Standpunkt 2025/001). In dieser ohnehin schon überaus brisanten westlich-russischen Gemengelange prescht nun mit Karl-Heinz Kamp ein sicherheitspolitisches Schwergewicht mit Forderungen vor, die es in sich haben. Für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) legte der ehemalige Leiter der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) Überlegungen für eine „nukleare Zeitenwende der NATO“ vor, so der Titel seines Papiers. Angesichts neuer Bedrohungen, insbesondere – aber nicht nur – durch Russland, bedürfe es einer Anpassung der NATO-Nukleardoktrin. Die von Kamp präsentierten Optionen dafür laufen allesamt im Kern auf eine nukleare Aufrüstung des Bündnisses hinaus – und sie würden weiter Öl ins Feuer des ohnehin stattfindenden (atomaren) Wettrüstens gießen.

Das aktuelle nuklearstrategische Grundlagendokument der NATO, die „Deterrence and Defence Posture Review“, stamme noch aus dem Jahr 2012 und müsse dringend überarbeitet werden, so Kamp. Vor allem der russische Angriff auf die Ukraine habe „ein grundlegendes Umdenken der NATO nötig gemacht“ – auch und gerade „für den Bereich der nuklearen Abschreckung.“

Doch auch darüber hinaus sehe sich der Westen einer „Achse der Autokratien“ gegenüber, so Kamp unter Verwendung einer Phrase, die kürzlich prominent auch im Bericht der CDU/CSU-Enquetekommission „Frieden und Sicherheit in Europa“ verwendet wurde (siehe IMI-Aktuell 2025/055). In diesen Club verortet Kamp neben Russland Länder wie Nordkorea, Iran, Syrien, Venezuela und Nicaragua – mit Blick auf die Nuklearpolitik der NATO sei aber insbesondere China von Belang. Deshalb müssten künftig „auch die nuklear-relevanten Entwicklungen im asiatisch-pazifischen Raum“ eine größere Rolle spielen.

All dem trage die NATO-Nukleardoktrin nicht oder zumindest nicht genügend Rechnung. Beim NATO-Gipfeltreffen Im Juli 2024 sei zwar erstmals seit 35 Jahren explizit erklärt worden, „dass eine Modernisierung des Nuklearpotenzials vorstellbar sei“, es bleibe „jedoch offen, wie eine solche Modernisierung konkret aussehen solle.“ Und genau hier setzt Kamp an, indem er mögliche Optionen für eine Anpassung – sprich: Verschärfung – der NATO-Nuklearpolitik diskutiert, die aus seiner Sicht bald angegangen werden soll: „Ein entsprechender Beschluss zum Beginn der Debatte könnte auf dem kommenden NATO-Gipfeltreffen im Juni 2025 in Den Haag gefasst werden.“

Das aktuelle Nukleardispositiv von insgesamt etwa 100 taktischen US-Atombomben, die in mehreren europäischen Ländern lagern (Deutschland, Belgien, Niederlanden, Italien und wohl die Türkei) und im Einsatzfall mit Flugzeugen ins Ziel gebracht werden müssten, sei unzureichend: „Die strategische Logik der Bomben entstammt der Zeit des Kalten Krieges, als sie als Teil eines breit gefächerten Waffenpotenzials vor allem für Ziele in den Staaten des Warschauer Paktes vorgesehen waren. Russisches Staatsgebiet stand aufgrund der begrenzten Reichweite der Trägerflugzeuge nicht auf der Zielliste der B61“, schreibt Kamp.

Da sie nie primär dafür konzipiert waren, Ziele in Russland anzugreifen, seien sie dafür auch nur bedingt geeignet – und das sei exakt das Problem: „Würde die NATO heute ihr Nuklearpotenzial grundlegend neu und ohne Vorbedingungen gestalten können, dann würde sie sich kaum für Atombomben entscheiden, die mit Trägerflugzeugen bis nach Russland gebracht werden müssten. Diese wären im Einsatzfall der gegnerischen Luftabwehr ausgesetzt und damit, anders als Raketen oder Marschflugkörper, überaus verwundbar.“

Es brauche also Atomwaffen, mit denen russische Ziele ‚effektiv‘ getroffen werden könnten, wofür er drei Optionen in den Raum stellt: „Will die NATO über ihre allgemeinen Absichtserklärungen hinaus zu einem zukunftsfähigen Abschreckungskonsens gelangen, so muss sie sich einer Reihe von politisch heiklen und umstrittenen Fragen stellen. Hierzu gehört erstens die Debatte darüber, ob ihr derzeitiges Nuklearpotenzial – sprich auch die in Europa stationierten Atombomben – ausreicht, um eine glaubwürdige Abschreckung zu gewährleisten. Diskutiert werden muss zweitens, ob weiterhin auf ein nukleares Arsenal Verlass ist, das nur aus einem einzigen Waffentyp besteht. Und drittens sollte hinterfragt werden, ob die Lagerung der US-Atomwaffen in den derzeitigen Stationierungsländern heute noch strategisch schlüssig ist, oder ob diese nicht näher an den Grenzen zu Russland stationiert werden müssten. Diese Frage stellt sich erst recht mit Blick auf einen zukünftigen NATO-Beitritt der Ukraine.“

Obwohl ihnen lange ein begrenzter Nutzen attestiert wurde, wollten Kamp und auch der Großteil der NATO von einem Abzug dieser Waffen nie etwas wissen. Als alle damals im Bundestag vertretenen Parteien im Jahr 2010 dennoch den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland forderten, sei es „nur mit Mühe“ gelungen, „die sich daraus ergebende nukleare Abzugsdebatte einzuhegen“. Um ihren ‚Nutzen‘ zu ‚verbessern‘ wurde stattdessen seit Oktober 2022 damit begonnen, die US-Atomwaffen auf den Typ B61-12 zu ‚modernisieren‘, um die Waffen dadurch zielgenauer und durchschlagskräftiger zu machen (siehe IMI-Analyse 2024/48).

Angesichts der neuen Entwicklungen hält Kamp außerdem eine „Umkehr des Abrüstungsprozesses“ für „unvermeidlich“. Als erste Option hierfür sieht er die Möglichkeit, die Zahl dieses Bombentyps zu erhöhen: „Um das Nuklearpotenzial der NATO zu verstärken, könnten die USA Teile ihres Bestands an B61-Bomben wieder nach Europa zurückverlegen. Da insgesamt etwa 480 modernisierte Bomben des Typs B61-12 geplant sind, gibt es ein ausreichend großes Arsenal für die Verlegung.“ Schon länger gäbe es Überlegungen, US-Atomwaffen wieder nach Großbritannien (Stützpunkt Lakenheath) zu verlegen, auch in Deutschland (Ramstein) seien die Voraussetzungen dafür weiterhin gegeben, da die „Vaults ebenfalls wieder aktiviert werden können.“

Als zweite Option diskutiert Kamp die Möglichkeit, mit einem „breiteren Spektrum nicht-strategischer Kernwaffen“ auf Russland zu reagieren. Am ‚besten‘ hält Kamp hierfür landgestützte Tomahawk-Marschflugkörper für geeignet, deren Stationierung in Deutschland vergangenen Sommer – angeblich ausschließlich in einer konventionellen Variante – für 2026 angekündigt worden war (siehe IMI-Studie 2024/07). „Am ehesten verfügbar wären landgestützte Marschflugkörper vom Typ Tomahawk mit einer Reichweite von 1600 Kilometern. Deutschland und die USA hatten im Juli 2024 auf dem NATO-Gipfel in Washington die Stationierung der konventionellen Version dieser Waffen in Deutschland beschlossen, um im Konfliktfall russische Knotenpunkte, Munitionslager oder Militärstützpunkte konventionell angreifen zu können.“

Auf diese Passage folgt eine regelrecht spektakuläre Forderung: Obwohl Experten wie Hans Kristensen dies für kaum praktikabel halten1, fordert Kamp die nukleare Bestückung der Tomahawks, die er scheinbar – den politischen Willen vorausgesetzt – auch für problemlos machbar hält: „Perspektivisch kann der Tomahawk auch mit einem W80 Nuklearsprengkopf ausgestattet werden. Einen entsprechenden Beschluss in der NATO vorausgesetzt, könnten diese Waffen vergleichsweise rasch in den europäischen Mitgliedsländern stationiert werden, die sich zu einem solchen Schritt bereiterklären. Die Vorteile eines solchen Schrittes lägen darin, dass die Tomahawks über mobile Startrampen verfügen und keine festen Ziele bieten. Auch ist die Eindringfähigkeit von Marschflugkörpern deutlich höher als die von Flugzeugen.“

Als dritte Option bringt Kamp Stationierungsorte ins Spiel, die näher an den potenziellen Zielen in Russland liegen – vor allem Polen sieht Kamp als ‚geeigneten’ Kandidaten. Die NATO-Russland-Akte, die bis heute nicht formal gekündigt wurde und dies eigentlich verbieten würde, sieht er nicht als Hindernis: „Auch wenn das Abkommen weiterhin formal existiert, fühlen sich die meisten NATO-Mitglieder nicht mehr daran gebunden. Damit wäre auch eine Stationierung von Kernwaffen in Osteuropa grundsätzlich möglich.“

Kamp ist zuversichtlich, dass seine Überlegungen in der neuen US-Regierung durchaus positiv aufgenommen werden könnten. Dies ist nachvollziehbar, schließlich finden sich einige der Vorschläge auch im Project 2025, das Trumps zweite Amtszeit vorbereitet hat (siehe IMI-Analyse 2024/51). Das macht es natürlich keinen Deut besser – im Gegenteil. Zumal Kamp diverse mögliche Einwände zwar kurz andiskutiert, aber dennoch durchscheinen lässt, dass er sich mit jeder der beschriebenen Optionen gut anfreunden könnte.

Vor allem spart Kamp aber das Hauptproblem aus: Russland. Richtig ist, dass Russland über weitaus mehr taktische Atomwaffen (Reichweite unter 5500 Kilometer) verfügt als die USA (das Nuclear Notebook [von Kristensen et al. – die Redaktion] geht von rund 1500 aus). Allerdings wird von Kamp (und anderen) mit keiner Silbe erwähnt, dass taktische russische Waffen eben keine US-Anlagen treffen und damit eine Gefahr für deren Zweitschlagfähigkeit darstellen können – umgekehrt gilt das allerdings sehr wohl. Schon die hochgelobte „hohe Eindringfähigkeit“ der aktuell geplanten konventionellen Tomahawk-Marschflugkörper lässt in Moskau augenscheinlich sämtliche Alarmlocken angehen – dies dürfte umso mehr noch bei einer nuklearen Bewaffnung gelten. Bei einem deutlichen Ausbau des taktischen US-Arsenals in Europa würde Russland damit in der nuklearen ‚Logik‘ wenig anderes übrig bleiben, als mit einem Ausbau des eigenen strategischen Arsenals zu reagieren – zumal die jüngste US-Ankündigung für den Aufbau eines umfassenden Raketenschildes hierfür eine zusätzliche ‚Motivation‘ darstellen dürfte (siehe IMI-Aktuell 2025/064). Die ohnehin schon unwahrscheinliche Verlängerung des im Februar 2026 auslaufenden New-Start-Vertrags zur Begrenzung strategischer Waffensysteme (1550 Sprengköpfe und 800 Träger) würde in noch weitere Ferne rücken und das bereits laufende nukleare Wettrüsten noch waghalsiger und gefährlicher werden.

IMI-Standpunkt 2025/007, 10.02.2025. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors.

 

PS: Eine weitere Idee in der DGAP/Kamp-Studie könnte sich als fataler sicherheitspolitischer Rohrkrepierer erweisen. Wie oben erwähnt, bezweifelt Kamp in seiner Studie den „Nutzen“ von Atombomben, die mit Trägerflugzeugen bis nach Russland gebracht werden müssten und durch die gegnerische Luftabwehr „überaus verwundbar“ wären. Daraus schließt er: „Weit plausibler wäre es, im Falle eines begrenzten Kernwaffeneinsatzes auf amerikanische U-Boot-Raketen vom Typ Trident zurückzugreifen, die teilweise Sprengköpfe von sehr geringer Stärke tragen, etwa den W76-2 Gefechtskopf.“

Trident-Trägerraketen sind strategische Waffen mit interkontinentaler Reichweite und mit großkalibrigen strategischen 90-Kilotonnen-Sprengköpfen vom Typ W76-1. Eine geringe Anzahl dieser Raketen ist auf taktische Sprengköpfe vom Typ W76-2 (mit vermutlich „nur“ acht Kilotonnen-Sprengkraft) für begrenzte Kernwaffeneinsätze umgerüstet worden; erstmals 2019 auf dem Träger-U-Boot USS Tennessee.
Die Krux: Nach dem Start wäre es für die russische (oder chinesische) Fernaufklärung technisch völlig unmöglich zu identifizieren, ob ein taktisches oder ein strategisches System im Anflug ist. Der Gegenschlag, da sind sich die Experten weitgehend einig, würde vom Worst Case ausgehen, womit selbst ein beabsichtigt begrenzter US-Atomschlag womöglich zum Zünder eines finalen thermonuklearen Weltkrieges würde.
Wer ob solcher Aussichten immer noch mit Plausibilität argumentiert, wie Karl-Heinz Kamp, der gehört vielleicht doch zu jenen Spezialisten, die von immer weniger immer mehr wissen und schließlich von nichts alles …

Wolfgang Schwarz
Redaktion
Das Blättchen

  1. „‚Die Version, die früher nuklearfähig war (Block II, TLAM-N), wurde außer Dienst gestellt und ist nicht mehr im Arsenal‘, erklärt er. Die nuklearen Gefechtsköpfe vom Typ W80-0 seien 2010 außer Dienst gestellt und 2012 zerstört worden. Kristensen betont auch, dass es keine Pläne gibt, nukleare Gefechtsköpfe für die Waffen zu entwickeln, die jetzt nach Deutschland sollen.“ (mdr.de, 01.08.2024)