„Bundeskanzler Adenauer und sein FDP-Vizekanzler Dr. Mende gerieten aneinander: ‚Herr Bundeskanzler, was Sie heute gesagt haben, ist das Gegenteil von dem, was Sie uns vor drei Wochen erklärt haben. […] Ich führe genau Tagebuch.‘ ‚Hören Sie mir auf mit Ihrem Tagebuch,‘ ereiferte sich Adenauer, ‚das beste Tagebuch ist der Kamin. Schmeißen Sie Ihr Tagebuch in den Kamin.‘“
(zitiert nach Walter Henkels: Neue Adenauer-Anekdoten, Econ Verlag 1965, S. 32 f.)
Die Vorabrezension im Spiegel (Nr. 40 / 28.09.2024) stand unter der Überschrift „Ein Playboy, sich selbst als großartig empfindend“ und bezog sich auf eine Bemerkung von Horst Teltschik über Manfred Wörner, bis 1988 Bundesverteidigungsminister und danach NATO-Generalsekretär. Dazu teilte der Spiegel-Beitrag eingangs mit: „Horst Teltschik zählte als Sicherheitsberater zum engsten Kreis um Kanzler Helmut Kohl. Nun offenbart er, was sein Chef und er von manchem Mitstreiter hielten.“ Das war dem Magazin offenbar das Wichtigste an diesem voluminösen Buch[1]. Bei Springers Welt folgte man dem Spiegel und tutete – ebenfalls vorab (30.09.2024) – ins gleiche Horn: „‚Präpotenter Bursche‘ – Kohls Berater Horst Teltschik lästert über dessen Ex-Minister“. Nu ja, bisweilen sagen Rezensionen mehr über die jeweiligen Verfasser aus denn über die besprochenen Bücher.
Wer allerdings nach Echos auf die tatsächliche Veröffentlichung von „Die 329 Tage zur deutschen Einigung“ von Horst Teltschik, die am 07.10.2024 erfolgte, sucht, wird nur wenig fündig (Stand: 05.02.2025) – etwa in Perlentaucher – Das Kulturmagazin. Dort zitiert man die Inhaltsangabe vom Klappentext und hat zwei „Rezensionsnotizen“ zu vermelden: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03.12.2024 und die Süddeutsche Zeitung vom 16.12.2024, beide mit dem Bemerken, es gäbe sowohl viel Material als auch weiteren Informationsbedarf. Keine Rezensionen mithin, doch immerhin Kenntnisnahme per „Notiz“.
Obgleich die von Teltschik und seinem Herausgeber Michael Gehler bewältigte immense Materialfülle in das Korsett der „329 Tage“ eingeschnürt wird, gibt es, teils sachlich bedingt, wohl aber auch bewusst eingefügt, Anschlussstellen zum Weiterführen der Analyse, für Zustimmung und Ablehnung sowieso, aber auch für zusätzliche, erweiternde Informationen. Um letztere handelt es sich bei den nachfolgenden Erinnerungen, nicht um den unnützen Versuch, zu den zahlreichen beschriebenen Vorgängen eigene Meinungen ohne vergleichbare Sachkenntnis wie die des Autors anfügen zu wollen. Einfach bei dieser oder jener Entwicklung „dabei gewesen“ zu sein, kompensiert diesen Mangel nicht hinreichend.
Die oben angesprochene geringe mediale Aufmerksamkeit für das Werk könnte man auf horrenden Preis von 89,00 Euro zurückführen. Wohlwollend ließe sich ableiten: Autor, Herausgeber und Verlag rechneten nicht mit einem Bestseller-Erfolg und investierten daher wenig in Werbung, sind aber aus verschiedenen Gründen interessiert, dass diese Sammlung von realen Tagebuchaufzeichnungen, deren kommentierte Einordnung in verschiedene damalige Zusammenhänge und in die politische Gegenwart bis Ende 2024 in der Welt ist. Letzteres vermittels eines Interviews, besser eines Zwiegesprächs des Herausgebers mit dem Autor, um wichtige Veränderungen zwischen Eintrag ins Tagebuch von 1989/90 und der Gegenwart einzufangen, ohne das Grundmaterial zu manipulieren.
Die Vermutung, der Kaufpreis könne Ursache von Rezeptionsabstinenz sein, gilt allerdings nicht für aktuell agierende Politiker und Journalisten, auch nicht für Fachwissenschaftler mit Zugriff auf entsprechende Bibliotheken. Für diese Klientel existiert darüber hinaus die Institution der Rezensionsexemplare, unabhängig von Preis und Marktlage.
Beim bisher eher abwertenden (Spiegel, Welt) und insgesamt geringen Echo wirken offenbar andere Ursachen, selbst wenn man den Umfang von 992 Seiten zu den sachlichen Gründen gegen einen größeren Bekanntheitsgrad rechnet. Gibt es wirklich Sättigung und Desinteresse an einem Sachthema, das sich allen gegenwärtigen Erscheinungen des politischen Lebens in Deutschland als Hintergrund aufdrängt, auch wenn es kein vordergründiges Interesse in der Politik gibt, historischen Ursachen auf den Grund zu gehen und beim Befassen mit Gegenwärtigem mitzudenken?
Selten hat es in der deutschen Geschichte Situationen gegeben, wo sowohl Handelnde als auch Geschichte Aufschreibende mit derselben so „rücksichtsvoll“ umgingen wie in Deutschland „nach 1945“ bis zur Gegenwart, auch wenn es unendlich viel Material auf dem Markt gibt. An dessen Aufarbeitung zum Alltagsgebrauch mangelt es jedoch. Wie gegenwärtig bei Holocaust, neuem jüdischen Leben von zurückgekehrten und hier zugewanderten Juden, dem überkommenen und neuen Antisemitismus, dem Verhältnis zum Staat Israel und dem Verhältnis von jüdischen und palästinensischen deutschen Staatsbürgern zu erleben ist. Ununterbrochen „Thema“ – aber „Aufarbeitung“?
Oder: Als eine Konsequenz der Vereinigung beider deutschen (Teil-)Staaten wurde der eine liquidiert, der andere zum Maßstab aller Dinge. Im Zuge dessen wurde eine kampfstarke nationale Armee aufgelöst; die brauchbare materielle Substanz vernichtet oder an befreundete Staaten übergeben, häufig auch dem ursprünglichen Verwendungszweck zugeführt. Dafür wurde zeitweilig ein Abrüstungsstaatssekretär mit der Losung „Schwerter zu Pflugscharen“ im Verteidigungsministerium der DDR etabliert, in dem Egon Bahr als Berater wirkte. Da konnte man doch vermeinen, bei den Deutschen in Ost und West habe es sich endgültig erledigt mit der Kriegsbereitschaft, was übrigens von den Siegern 1945 auch verordnet worden war.
Was in der DDR in diesem Kontext betrieben wurde, unterlag allerdings schärfster Kritik in und aus der Bundesrepublik. Gegenwärtig ist man erneut unzufrieden mit den „Ehemaligen“ – allerdings jetzt „anders herum“: wegen zu wenig Einsatz bei der Herstellung von Kriegstüchtigkeit.
Gibt es angesichts dieses speziellen Vergleichs mit der Gegenwart tatsächlich kein Interesse, authentisch zu erfahren, wie es damals war mit der Einheit, welche Optionen sich auftaten, wer da welche und wessen Interessen wahrnahm oder nicht? Und dazu, wie sich Situationen und Positionen, wie sich handelnde Personen änderten?
Könnte es also sein, dass einer herrschenden Meinungsmehrheit im Lande dieser Bericht über die entscheidenden Monate der Herstellung eines deutschen Nationalstaates missfällt? Wenngleich es sich beim Verfasser um jemanden handelt, dem man fehlenden Sachverstand – bei führender Sachbeteiligung – wohl nicht vorwerfen kann. Grund zur Ablehnung könnte gleichwohl Teltschiks heutige Position sein: „Ich halte die Diskussion, dass die Ostpolitik der letzten zwanzig Jahre grundsätzlich falsch gewesen wäre und in eine verhängnisvolle Abhängigkeit geführt hätte, für Irrsinn. Wenn Sie sich die Geschichte der Ost-West-Beziehungen insgesamt ansehen, galt immer die Formel ‚Sicherheit und Entspannung sind die zwei Seiten der gleichen Medaille‘. Wir müssen also auf der Grundlage unserer eigenen Sicherheit Entspannungspolitik betreiben. Auf dieser Grundlage hat zum Beispiel Willy Brandt den alten sowjetischen Vorschlag zur Einrichtung einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) aufgegriffen, obwohl Breschnew vorher den Prager Frühling blutig mit Panzern niedergewalzt hatte. […] Helmut Kohl hat das fortgesetzt und damit die deutsche Einheit erreicht. Das hätte auch niemand für möglich gehalten. Und was die Energieversorgung angeht: Auch während der vielen Höhepunkte des Kalten Krieges haben die Sowjets immer zuverlässig Erdgas geliefert und da hat sich keiner darüber beschwert und aufgeregt“, sagte Teltschik in einem am 28.04.2022 publizierten Interview.
Am 19.09.2023 wurde ein „wegweisender deutscher Friedensplan“, so die Einschätzung des Ex-Diplomaten Michael von der Schulenburg, zur Beendigung des Krieges in der Ukraine vorgestellt – von den Professoren Dr. Peter Brandt, Dr. Hajo Funke und Dr. Horst Teltschik sowie General a.D. Harald Kujat. Hier und heute ist die deutsche Öffentlichkeit, sowohl die politische, als auch die gesellschaftliche, mehrheitlich für solche Mahnung, Warnung und Empfehlung, für Wege aus der Misere offenbar nicht mehr oder noch nicht wieder empfänglich.
Wie wir spätestens seit dem von Heribert Schwan und Tilman Jens verfassten „Vermächtnis. Die Kohl-Protokolle“ wissen, sind Erinnerungen vermittels eines „Tagebuchs“ auch möglich, wenn ein solches formal nie existierte, die ausgewählten Ereignisse aber dennoch in Form eines Tagebuchs dargestellt werden. Ein derartiger Kunstgriff war bei den Teltschik-Notaten – diesen Begriff verwendet Wolfgang Schwarz in seiner ausführlichen Besprechung im Blättchen (siehe Ausgabe 1/2025) – nicht erforderlich.
Doch nun – medias in res.
In Gehlers ausführlicher Einleitung („Horst Teltschik – Begleiter und Ratgeber des ‚Kanzlers der Einheit‘“) ist das Unterkapitel 5.5. mit „Ein sowjetischer Emissär als Auslöser für eine neue Deutschlandpolitik, 21.11.1989“ überschrieben und das Unterkapitel 5.10. mit „[…] Vorabstimmung mit Washington und ‚grünes Licht‘ in Moskau, 10.2.1990“. Gehler führt aus, dass nach Teltschiks Verständnis der eigentliche Schlüssel zur Einheit Deutschlands nicht nur in Moskau lag, sondern von dort auch initiativ und zu einer Zeit betätigt worden sei (durch eine weitreichende Folgen zeitigende Visite des sowjetischen KPdSU-Emissärs Nikolai Portugalow bei Teltschik), als in Bonn operativ noch gar nicht über eine deutsche Vereinigung nachgedacht worden sei, obwohl man sich sehr intensiv mit den Vorgängen in der DDR und in deren Beziehung zur Sowjetunion beschäftigt habe.
Originaltext Teltschik-Notate: „Für 10.30 Uhr bin ich mit meinem ‚alten Bekannten‘, Nikolai Portugalow, verabredet. Portugalow ist Mitglied des ZK der KPdSU und Mitarbeiter des früheren Botschafters in Bonn, Valentin Falin, der jetzt Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen im ZK ist.“ Portugalow überreicht „mir ein von ihm handgeschriebenes Papier“ und erläutert: „Der erste Teil habe amtlichen Charakter; es sei zwischen ihm, Falin und Tschernjajew, dem außenpolitischen Berater von Präsident Gorbatschow besprochen worden. Die Initiative zu diesem Gespräch sei von Tschernjajew im Auftrag von Gorbatschow ausgegangen. Der 2. Teil enthalte weiterführende Überlegungen, die nur zwischen ihm und Falin besprochen worden seien.“ Teltschik vermerkt: „Elektrisiert bin ich von Fragen zur ‚Wiedervereinigung‘ bzw. ‚Neuvereinigung‘, zum Beitritt der DDR zur EG, Allianzzugehörigkeit, Friedensvertrag.“ Portugalow: „Wie Sie sehen, denken wir in der deutschen Frage alternativ über alles mögliche, sogar quasi Undenkbares nach.“
Das Portugalow-Papier befindet sich in Teltschiks Privatarchiv; eine mehrseitige Fotokopie ist dem jetzigen Teltschik/Gehler-Konvolut beigegeben.
Aus gutem Grund also hat Wolfgang Schwarz aus der Fülle von Ereignissen in seiner Buch-Vorstellung dieses Moment hervorgehoben, auch wie Teltschik damit umging; zeitlich direkt anschließend initiierte er Bundeskanzler (BK) Kohls 10-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europa, das am 28.11.1989 öffentlich wurde.
Eine nachträgliche Reaktion findet sich überraschend bei Egon Krenz – in dessen Abrechnung mit Gorbatschow in nd, 24.12.2021: „Als der Generalsekretär [Erich Honecker – H.B.] 1987 nach Bonn fuhr, hatte er Gorbatschow einfach nicht mehr [um Erlaubnis – H.B.] gefragt. Dies verzieh ihm dieser nie. Von jenem Zeitpunkt an begann Gorbatschow, hinter dem Rücken der DDR einen eigenen, unabgestimmten Kurs gegenüber der Bundesrepublik – bis hin zu jenem 21.11.1989, als er seinen Beauftragten Nikolai Portugalow zu Gesprächen nach Bonn schickte, um in Erfahrung zu bringen, welchen Preis die Bundesrepublik für die Zustimmung der Sowjetunion zur deutschen Einheit zu zahlen bereit war.“
Zudem, so Krenz, passierte während der Portugalow-Visite bei Teltschik „etwas bis dahin Unglaubliches: Moskau schlug Bundeskanzler Kohl vor, sich nicht – wie vereinbart – mit mir als Staatsratsvorsitzendem zu treffen. Krenz, so die Begründung, werde den SED-Sonderparteitag nicht überstehen. Das Entlarvende daran war, dass die SED-Führung zu diesem Zeitpunkt einen Sonderparteitag noch gar nicht einberufen hatte.“
Ob Krenz von der Moskauer Intervention seinerzeit noch durch die eigene Aufklärung (HVA) oder als gezielte Indiskretion aus anderer Quelle (über Botschaften, respektive Journalisten) davon erfuhr, ist nicht bekannt; es könnte aber auch sein, dass er nicht vor 1991 davon Kenntnis bekam, als erstmals umfangreiche Auszüge aus den Teltschik-Notaten publiziert wurden.
Von Teltschik umgehend informiert, verzichtete Kohl auf die Begegnung mit Krenz.
Am 24.11.1989, also drei Tage nach dem Teltschik-Portugalow-Gespräch, gab es in der Hauptstadt der DDR ein geheimes Treffen von Egon Krenz und Hans Modrow mit Valentin Falin, der als Beauftragter von Gorbatschow die Führung der DDR zum „Durchhalten“ verpflichteten sollte und keinerlei Andeutung zur Mission von Portugalow machte oder einer Abkehr von den Positionen, die von Gorbatschow und Egon Krenz bei dessen Antrittsbesuch in Moskau am 01.11.1989 besprochen worden waren.
Aber die „Mitwirkung“ von Falin an der Mission Portugalows? Egon Krenz dazu in Berliner Zeitung vom 07.05.2020: „Falin hat nach der Wende mir gegenüber wiederholt erklärt, dass dieser Besuch weder mit ihm noch mit Gorbatschow abgesprochen gewesen sei. Das scheint mir glaubwürdig, denn Gorbatschow hat das Zehn-Punkte-Programm, das Helmut Kohl am 28. November im Bundestag vorgestellt hatte, scharf kritisiert.“ Kommentierend Krenz weiter: „Auch mir ist damals nicht entgangen, dass der Kreml inzwischen mit vielen Zungen sprach. Ich wußte beispielsweise am 10. November nicht, wer das Sagen in Moskau hatte. Gorbatschow oder das KGB, der Außenminister oder der Verteidigungsminister, der ZK-Apparat oder Alexander Jakowlew?“
Der so hoch gewertete, wenn auch unterschiedlich bewertete Besuch von Portugalow sollte später bei der Biographie von BK Kohl noch eine Rolle spielen.
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Exkurs: Im Oktober 2001 hatte Kohl, mittlerweile Bundeskanzler a.D., Teltschik zu einem Erinnerungsgespräch mit Heribert Schwan, dem Verfasser der Kohl-Memoiren hinzugebeten. Es ging um die finanziellen Leistungen der Bundesrepublik – gemäß Anweisungen und Verfügungen des Bundeskanzlers – zugunsten der Einheit Deutschlands, in diesem Falle konkret um eine Summe von gut vier Milliarden D-Mark in Verbindung mit dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus der ehemaligen DDR. Dazu Teltschiks Kommentar: „Vier Milliarden? Das war nicht so viel. Wenn Gorbatschow gekommen wäre und gesagt hätte, gebt mir 100 Milliarden, und ihr bekommt die DDR, dann hätten wir das doch gemacht.100 Milliarden bei einem Haushalt von 500 Milliarden? Und dann meckern die, weil wir für den Abzug 4,3 für den Wohnungsbau gegeben haben? Das war doch ein Butterbrot!“ (Heribert Schwan/Tilman Jens, a.a.O., S. 180) Und spätes Wasser auf die Mühlen derer in Moskau, die Gorbatschow schon immer vorgeworfen hatten, die DDR für‘n Appel und ‘n Ei weggeschenkt zu haben.
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Rückblick: Am 01.10.1982 war Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt worden. Ein Einbruch in den Verbindungen und Beziehungen zwischen Bonn und Ostberlin war damit bis Herbst 1989 nicht verbunden. Abgesehen von ständigen Störaktionen, auch durch einzelne Persönlichkeiten der Bundesrepublik, die die DDR gern als Anspielwand nutzten, um ihre ganz eigenen Querelen zu befördern, waren die Gesamtbeziehungen praktisch und auch atmosphärisch eher gut.
Schon vor der CDU/CSU-Kanzlerschaft hatte sich das Verhältnis „normalisiert“ – im Rahmen der Möglichkeiten.
Dazu wurde von einer zunehmenden Anzahl von CDU/CSU-Amts- und Würdenträgern ein neuer Kurs gefahren, eine stillschweigende Änderung im Vergleich zu den Jahrzehnten nach der Gründung beider deutscher Staaten, die durch gegenseitigen Kampf, Krampf und den Adenauer-Ulbricht-Antagonismus gekennzeichnet waren.
Der inoffizielle Neustart seitens der CDU-Parteiführung erfolgte mit einer freundlichen Offerte an die Führung der DDR am Abend des 22.11.1973 im Wiener Ratskeller. Der „Bergedorfer Gesprächskreis zu Fragen der freien industriellen Gesellschaft“ – Träger war und ist bis heute die international damals bereits hoch angesehene Körber-Stiftung, gegründet vom Unternehmer Kurt A. Körber 1959 in Hamburg – hatte in den oberen Gemächern des Rathauses seine 46. Begegnung. Thema: „Neutralität – Wert oder Unwert für die europäische Sicherheit“. Das war knapp ein Jahr nach Abschluss des Grundlagenvertrags zwischen BRD und DDR, gegen den die CDU/CSU bekanntlich schweres politisches und juristisches Störfeuer veranstaltet hatte. In Helsinki tagte seit dem 03.07.1973 die KSZE, die zwei Jahre später mit der berühmten Schlussakte enden sollte, die die damalige Ost-West-Entspannung kodifizierte.
Ich war seinerzeit am Institut für Internationale Politik und Wirtschaft (IPW)[2] in Berlin tätig und nahm nicht zum ersten Mal am Gesprächskreis teil.
In der Diskussion hatte mich Prof. Dr. Brinkhorst aus Den Haag zu folgender Replik veranlasst: „Sie haben sehr dezidiert die Zielvorstellungen ihrer [westlichen – H.B.] Gemeinschaft dargelegt […]. Eben darin liegt eine der Schwierigkeiten; denn unsere Zielvorstellung ist in der Tat eine völlig andere. Deshalb ist es notwendig, ein neues System zu entwickeln, dass gewissermaßen auf einer höheren Ebene wieder zusammenführt, was in der Substanz entgegengesetzt ist.“ Was ich damit favorisierte war – kurz gesagt – ein dauerhafter KSZE-Prozess.
Die Bilanz dieser „Wiener Konferenz“ war wesentlich bescheidener: Alle bezeugten Achtung für solche Ideen, lobten die immer währende Neutralität des Gastgebers, bekundeten aber zugleich in freundlicher Abneigung zueinander, dass ein vergleichbarer Status für sie zumindest derzeit nicht in Frage kommt.
Der Abend vereinte alle. Dabei kam ein Zuhörer der Debatte zu mir, stellte sich als Mitarbeiter des an der Diskussion wenig beteiligten Walther Leisler Kiep (MdB-CDU) vor und fragte an, ob ich zu einem separaten Gespräch mit diesem bereit wäre. Ich war, und wir setzten uns an einen kleinen Nebentisch, ohne Papier und Bleistift und offenbar von anwesenden Journalisten unbeachtet. Eine öffentliche Information über das Gespräch gibt es weder von uns gemeinsam noch einzeln, aber in der Literatur eine immer wieder von einer „Quelle“ auf die nächste abgeschriebene Basisversion, die sich gegenüber der Wirklichkeit als in Teilen wie von „Radio Eriwan“ verbreitet erweist. Als Beispiel dafür zitiere ich eine Passage aus der Einführung der Herausgeber Detlef Nakath und Gerd-Rüdiger Stephan zu dem Dokumentenband „Die Häber-Protokolle“ (Karl Dietz Verlag Berlin 1999): „Während einer Veranstaltung des Instituts für Politik und Wirtschaft in Hamburg am 22./23.11.1973 hatte der CDU-Bundestagsabgeordnete und Schatzmeister seiner Partei, Walther Leisler Kiep, gegenüber dem DDR-Abgesandten Herbert Bertsch Gesprächsbereitschaft signalisiert.“ Anschließend und noch abenteuerlicher verweisen Nakath und Stephan auf eine schriftlichen Anfrage von Erich Honecker (überbracht durch dessen Leibboten Rechtsanwalt Wolfgang Vogel) an Herbert Wehner, den SPD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, vom 17.12.1973, worin es heiße: „Am Rande der Veranstaltung wurde der Vertreter der Interparlamentarischen Fraktion der DDR, Bertsch, von dem Schatzmeister der CDU und Bundestagsabgeordneten , Leisler Kiep, angesprochen. Das Anliegen von L. K. war es, den Vertreter der DDR darauf aufmerksam zu machen, dass die Opposition zu jeder Zeit bereit wäre, auch in der Hauptstadt der DDR mit kompetenten Vertretern Gespräche zu führen.“ Honecker bat Wehner zu übermitteln, „welche Meinung er dazu hat und ob wir auf ein solches Anerbieten eingehen sollten“. Bekanntlich soll Wehner verärgert geäußert haben, Honecker müsse schon allein entscheiden, ob er mit „denen“ gemeinsame Sache machen wolle, die die Ratifizierung der Ostverträge hintertrieben – wobei Wehner dem Boten gegenüber „befürchtete“, dass Honecker „das“ dennoch tun würde. Was, wenn auch zeitlich verzögert, dann so geschah, weil es durchaus im Interesse der DDR lag.
Meine Erinnerung an den Abend in Wien: Leisler Kiep begann sein Anliegen mit der Information, dass er hauptsächlich hier wäre, um mit mir zu sprechen, und dies mit Wissen und namens des Parteivorsitzenden Helmut Kohl und des Generalsekretärs Kurt Biedenkopf. Offenbar ging er davon aus, dass ich bereits wusste, dass die Benannten ganz frisch in ihren neuen Ämtern wären. (Kohl war erst zwei Tage zuvor, am 19.11.1973, auf dem Hamburger Parteitag der CDU gegen den bisherigen Vorsitzenden Rainer Barzel an die Spitze der Partei gelangt. Das bedeutete, dass die Mission von L. K. schon vorher geplant gewesen sein muss.)
Mit diesem Mandat seiner „Parteiführung“ wollte mein Gesprächspartner „die DDR-Führung wissen lassen“: Für den Fall, dass die CDU die nächste Bundestagswahl gewinnen und die Regierung bilden werde, würde sie sofort die begonnene Vertragspolitik und alle Unterverträge, Abkommen sowie sich daraus ergebende Projekte nicht nur fortführen, sondern weitere fördern zu wollen. Die DDR würde davon profitieren, dass Verzögerungen und Vorbehalte der SPD, die aus deren ideologischem Kampf gegen die SED herrührten und daher hinderlich seien, entfallen würden. Auch deutete L. K. an, dass der Einfluss der CDU auf die europäische Politik im Hinblick auf den KSZE-Prozess positiv sein werde. Es wäre „gut“, wenn Begegnungen und Gespräche zwischen Persönlichkeiten der CDU-Führung und der DDR möglichst bald stattfänden. Dabei deutete L. K. erkennbar an, dafür auch persönlich bereit und verfügbar zu sein. L. K. bedankte sich für meine Bereitschaft, diese Botschaft anzunehmen und weiterleiten zu wollen. Dann mischten wir uns wieder unter die anderen Gäste dieses fröhlichen Abends.
Bereits in der Nacht wie auf dem Rückflug dachte ich darüber nach, wie ich meine Bereitschaft einlösen könnte, um als Bote nützlich und auch noch erfolgreich zu sein. Denn zeitgleich gab es in der DDR ein erhebliches Revirement, und mit den Personen und deren Positionen veränderten sich auch die Zugangsmöglichkeiten zu ihnen. Als Mitarbeiter des IPW hätte ich direkten Zugang zu SED-Politbüromitglied Albert Norden gehabt, zuständig für das IPW. Der war, wie ich aus früherer Tätigkeit beim Presseamt des DDR-Ministerrates wusste, durchaus auch aktiv bei den deutsch-deutschen Beziehungen, aber nicht entscheidungsbereit, wenn es um staatliche Beziehungen ging. Er hätte also nur als mittelndes Zwischenglied agieren können. Willi Stoph, seinerzeit Vorsitzender des Ministerrates, der mich als seinen „Persönlich Beauftragten“ am 28./29.10.1970 zu Bundeskanzler Willy Brandt entsandt hatte, um die damalige deutsch-deutsche „Denkpause“ aufzulösen und jenen Verhandlungsprozess in Gang zu setzen, der 1972 zum Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten geführt hat, war am 02.10.1973 Vorsitzender des Staatsrats geworden und hatte jetzt andere Schwerpunkte. Horst Sindermann, zu dem ich aus unserer gemeinsamen journalistischen Zeit in Verbindung stand, war zwar statt Stoph nun Vorsitzender des Ministerrats, aber zugleich innenpolitisch besonders beschäftigt. Hermann Axen, von seiner Position als SED-Politbüromitglied her gesehen durchaus auch „zuständig“, hätte mich wohl nur ungern angenommen, war er doch infolge seiner Teilnahme am Humanité-Pressefest in Paris bei der Entscheidung über meine Mission zu Brandt nicht vorab informiert worden.
Auch für das IPW selbst hatte es Veränderungen gegeben. Herbert Häber, der erste IPW-Direktor, war schon nicht mehr als solcher tätig, weil er vom SED-Generalsekretär Honecker – wenn wohl auch noch nicht öffentlich erklärt – zum Leiter der „Westabteilung im ZK der SED“ berufen worden war. Da wir persönlich in einem guten Verhältnis miteinander arbeiteten – was sich bis zu seinem Tod am 10.04.2020 fortgersetzt hat –, fragte ich ihn um Rat und eventuelle Möglichkeiten infolge seiner neuen Position. Er kam nach Durchsicht der Umstände zum Besten aller möglichen Vorschläge: „Wir schreiben dem Generalsekretär einen Brief.“ Das bedeutete Gewissheit für mich, dass die Information über das von L. K. übermittelte Unions-Angebot die höchstmögliche Adressierung erfahren würde. Dieses günstige Ergebnis teilte ich ohne Schilderung der Prozedur und leicht verschlüsselt L. K. mit.
Am 29.11.1982, weniger als zwei Monate nach seinem Amtsantritt, schrieb Bundeskanzler Helmut Kohl einen kurzen, aber inhaltsschweren Brief an Honecker, den dieser am nächsten Tag abzeichnete. Der BK (um Teltschiks Kürzel aufzunehmen) begann nach freundlicher Begrüßung mit dieser Verkündung: „Der Grundlagenvertrag sowie die anderen Abkommen, Vereinbarungen und Regelungen zwischen den beiden deutschen Staaten bleiben Grundlage und Rahmen für die Entwicklung der Beziehungen. Die Bundesregierung ist an guten Beziehungen zur Deutschen Demokratischen Republik interessiert. Dies liegt im wohlverstandenen Interesse der Menschen und ist zugleich ein Beitrag für den Frieden und die Sicherheit in Europa. Ich habe alle mit den Beziehungen zur Deutschen Demokratischen Republik befaßten Bundesminister gebeten, die laufenden Verhandlungen mit der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik fortzusetzen.“
Lässt man die demonstrative mehrfache Erwähnung der DDR (voll ausgeschrieben!) beiseite, so wirken die zitierten Sätze wie aus dem gleichen Baukasten, aus dem mir fast auf den Tag neun Jahre zuvor Leisler Kiep das Angebot zur Kooperation vorgetragen hatte. Diese Kontinuität ist auch im Nachhinein beachtlich und stärkt zugleich meine Vermutung, Duktus und Wortwahl könnten den gleichen Verfasser haben.
Solche Erinnerungen kommen mir beim Blättern in Teltschiks Notaten. Was dessen persönliche Mitwirkung am Geschehen der Zeit anbelangt, möchte ich noch folgenden Sachverhalt hervorheben – mit Egon Bahr als Gewährsmann.
Bekanntlich fand nach Unterzeichnung des Moskauer Vertrages zwischen der Sowjetunion und der BRD am 12.08.1970 ein vierstündiges Gespräch von Breschnew und Brandt statt, im Zuge dessen auch ein vertraulicher „Kanal“ außerhalb der offiziellen staatlichen Beziehungen zwischen ihnen vereinbart wurde.
Dazu gibt es viel Material und allerlei Gespinste.
Aufschlussreich im Zusammenhang des vorliegenden Beitrages ist die Erinnerung von Egon Bahr, der von Brandt mit der Wahrnehmung betraut wurde. Pate stand dabei die bereits etablierte persönliche Verbindung Bahrs zum damaligen US-amerikanischen Sicherheitsberater Henry Kissinger und damit zwischen Brandt und US-Präsident Richard Nixon. Dazu Bahr: „Voraussetzung dafür: Beide Kanäle mußten dicht bleiben. Sie blieben es. Nach dem Rücktritt Brandts informierte ich Helmut Schmidt über Existenz und Charakter der Verbindung zum Kreml, und er bat mich, diese Aufgabe für ihn zu übernehmen und sie als Bundesbevollmächtigter in Berlin weiterzuführen. Nach seinem Rücktritt habe ich, ohne ihn oder Brandt zu fragen, Helmut Kohl unterrichtet. Nach einer Nacht Bedenkzeit rief er an und gab grünes Licht für die Weiterführung: ‚Man kann ja nicht wissen, was noch alles passiert. Die Einzelheiten besprechen Sie bitte mit Teltschik.‘ Gemeinsam mit dem Mann aus Moskau übergaben wir den Kanal in aller Form.“ (Egon Bahr: „Das mußt Du erzählen“. Erinnerungen an Willy Brandt, Propyläen 2013, S. 97.)
Wen mehr dazu interessiert, dem seien die Erinnerungen von Wjatscheslaw Keworkow, des Kanalarbeiters auf der Moskauer Seite, empfohlen: Der geheime Kanal. Moskau, der KGB und die Bonner Ostpolitik, Rowohlt 1995.
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Was die Sache betrifft, die im Wiener Ratskeller begann, so entwickelte sich der angebotene Kontakt sehr erfolgreich. Honecker berief Häber, den er für den Gesprächspartner von L. K. in Wien hielt, zu dessen ständigem DDR-Partner, und ausweislich der „Häber-Protokolle“ wurde L. K. ab Januar 1975 zum Hauptgesprächspartner der CDU für Häber in dessen Jahren als Leiter der Westabteilung und später als (nur zeitweiliges – siehe dazu ausführlich Blättchen, Sonderausgabe vom 23.09.2019) Politbüromitglied. Das war eine sehr hohe Ebene für solche inoffiziellen Gespräche.
Nicht alle Dokumente zu dieser Verbindung sind bekannt. Auf westdeutscher Seite sind solche nach meiner Kenntnis nicht veröffentlicht worden. Mittelbar aber gibt es über L. K. und seine Verbindung zu Teltschik zumindest Sachbezüge; damit beginnend, dass L. K. dem sehr viel Jüngeren, als der noch Nachwuchskader war, angeboten hatte, sein persönlicher Mitarbeiter zu werden.
Den Teltschik-Notaten zufolge hat Leisler Kiep bei der operativen Politik im deutschen Vereinigungsprozess offenbar keine Rolle gespielt, etwa im Unterschied zu Biedenkopf, von dessen Mitwirkung aber bei Teltschik auch nicht sehr viel zur Kenntnis kommt. Dennoch gibt es Antworten, aber auch neue Fragestellungen um die Person L. K.. So antwortet Teltschik dem Herausgeber/Interviewer Gehler: „Helmut Kohl hat ja als Parteivorsitzender der CDU aus meiner Sicht die große Begabung gehabt, interessante Leute von außen in die Partei hinein zu holen. Einer davon war Richard von Weizsäcker, in Rheinland-Pfalz Geschäftsführender Gesellschafter beim Pharma-Unternehmen Böhringer. […] Andere Beispiele sind Professor Kurt Biedenkopf oder Frau Süssmuth, auch Walther Leisler Kiep gehörte dazu. Als ich in der CDU-Bundestagsgeschäftsstelle gearbeitet habe, gab es einen außenpolitischen Arbeitskreis, den ich, gewissermaßen als ‚Sekretär‘ geleitet habe. Damals ging es schon um die Vertragspolitik von Willy Brandt und die Ostpolitik generell. Dort hatte ich die Erfahrung gemacht, dass von Weizsäcker, Kiep und andere den liberalen Flügel in der CDU darstellten. […] Persönlich war mir der liberale Flügel inhaltlich näherliegender als der konservative.“
Teltschik wechselte 1972 von der CDU-Bundestagsgeschäftsstelle als persönlicher Mitarbeiter zu Kohl, damals Ministerpräsident in Mainz. Es ist zu vermuten, dass diesen Kreisen die Idee zur Wiener Mission von L. K. entsprang. Zumal L. K. mit vergleichbarem Text und der Mitteilung, dass dieses Angebot auch schon der DDR unterbreitet sei, am 06.02.1975 in Moskau vorstellig wurde. Er stieß dort auf einer vergleichbar hohen Ebene wie in der DDR auf offene Ohren: L. K. konferierte mit Wadim Sagladin, jenem sowjetische Politiker, der dauerhaft der Ständige 1. Stellvertreter der Internationalen Abteilung beim ZK der KPdSU war – bei Breschnew und dessen Nachfolgern bis zu Gorbatschow.
Zu Sagladin vermerkt Teltschik, dass er froh darüber sei, diesen zum Freund zu haben, und schreibt am 13.09.1990 – 15 Jahre nach dem ersten Besuch von Leisler Kiep in Moskau – folgendes in sein Tagebuch: „BK nimmt in Wolfsburg an dem Kongreß ‚Initiative internationale Partnerschaft‘ teil. Dort spricht auch der außenpolitische Berater Gorbatschows, Vadim Valentinovitsch Sagladin. Er bezeichnet die Unterzeichnung des 2+4-Schlußdokuments als Beginn einer neuen Epoche in der Geschichte Europas und der Deutschlands. Diese neue Phase sei ein Verdienst des deutschen Volkes und der Völker Europas und selbstverständlich das Verdienst der heutigen Politikergeneration. Er übermittelt BK die herzlichen Glückwünsche Gorbatschows zum gestrigen Abschluss des Vertrages [12.09.1990 in Moskau – H.B.], der ein großes Ereignis darstelle.“ Und ein weiterer Eintrag am nächsten Tag: „Am frühen Abend besucht mich Professor Sagladin. Er sei gekommen, um mir zu gratulieren. In Moskau sei man mit den Ergebnissen bei den 2+4-Verhandlungen als auch der bilateralen Verträge sehr zufrieden. Daraufhin trinken wir einen Whisky.“
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Apropos 2+4: Wie konnte es eigentlich kommen, dass die Besiegten von 1945, noch dazu in Gestalt von zwei unterschiedlichen Staaten, den Siegern „die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ so offerieren durften, dass der ursprüngliche 4+2-Ansatz zu einem 2+4-Vertrag führte?
Zur sowjetischen Position und ihrer wundersamen Wandlung sei Valentin Falin beigezogen, zu jener Zeit Leiter der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU mit direktem Zugang zu Präsident Gorbatschow. (Falin war nach eigenem Bekunden lediglich Ratgeber. Teltschik hingegen, folgt man seinen Notaten, vermutete offenbar fortlaufend einen viel gewichtigeren Einfluss des Russen.)
Hier Falins Zeugnis für eine sowjetische Politik diametral gegen die eigenen Interessen: „Der sowjetische Außenminister [Schewardnadse – H.B.] bekam die ‚strikte‘ Anweisung, auf die Version ‚4 plus 2‘ zu bestehen. […] Die Formel ‚4 plus 2‘ gab die richtigen Prioritäten wieder. […]. Eduard Schewardnadse kehrt vom Ministertreffen der sechs Staaten zurück […]. Er zeigt sich überaus zufrieden und steckt alle mit neuen Hoffnungen an. Anatolij Tschernjajew bereitet eine Presseerklärung im Namen des Präsidenten vor, in der betont werden soll, welche Bedeutung den Verhandlungen insgesamt und insbesondere der Formel ‚4 plus 2‘ beigemessen wird. Für alle Fälle ruft er Schewardnadse an und liest ihm den Text vor. Der Minister ist sehr einverstanden, doch bittet er um eine ‚Präzisierung‘: Es wurde die Formel ‚2 plus 4‘ vorgezogen.“ In die Empörung, weil der Minister weder in Telegrammen noch nach Rückkehr über diesen fundamentalen Wechsel und seine Zustimmung dazu berichtet hatte, erklärte der Minister: „Genscher hat so sehr darum gebeten. Und Genscher ist ein guter Mensch.“
Falin weiter: „Die Formel ‚2 plus 4‘ trat in Kraft. Nach meinem Dafürhalten geriet die Sowjetunion in eine ausweglose Lage. Wenn wir auf irgendeiner Position zu beharren vermöchten, die Bonn oder die drei Westmächte ablehnen, dann würde es keine ‚endgültige Friedensregelung‘ geben, jedenfalls nicht mit unserer Beteiligung. ‚Finita la comedia‘ à la Schewardnadse. Ob dies Gorbatschow im Kopf hatte, als er in der Nacht vor seinem Treffen mit Helmut Kohl im Kaukasus ein langes Telefongespräch mit mir so beendete: ‚Ich fürchte, daß der Zug schon abgefahren ist.‘“ (Valentin Falin: Politische Erinnerungen, Taschenbuch-Ausgabe, Droemer Knaur 1995, S. 491 f.)
In solchen Zusammenhängen bieten die Teltschik-Notate interessante Beispiele für die unterschiedliche Wahrnehmung von Ereignissen und dem Gewicht handelnder Personen seinerzeit und in späteren Betrachtungen. So kann man bei Teltschik 24 Einträge zu Falin finden, bei Falin selbst hingegen kommt Teltschik überhaupt nicht vor. Ähnlich Portugalow: bei Teltschik 35 Einträge, darunter jene so gewichtige, die in der Interpretation durch Teltschik Portugalow die Rolle des Auslösers für Kohls 10-Punkte-Programm zur deutschen Einheit zuweist. Bei Falin wird Portugalow nur einmal genannt, und zwar in folgendem Kontext: Der damalige Chef des KGB und spätere Generalsekretär Jurij Andropow fragte am Telefon: „Falin, arbeitet in Deiner Abteilung ein Portugalow?“ „Ja.“ „Glaubst du, es ist richtig, dass er bei Dir arbeitet?“ „Fragen dieser Art sind bisher nicht entstanden.“ „Aber bei mir schon. […] Portugalow ist nicht unser Mann.“ (Falin, a.a.O., S. 403 f.)
Und bei Tschernajew? Den hatte Portugalow bei Teltschik als den anderen seiner quasi Reise-Auftraggeber benannt. In Tschernajews Rückblick „Die letzen Jahre einer Weltmacht“ (Deutsche Verlags-Anstalt 1993) – keine einzige Erwähnung Portugalows.
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Wenn Teltschik sich entschlossen hat, jetzt die vollständige Fassung seiner 329-Tage-Notate, überdies begleitet von umfangreichem Interviewmaterial über dieselben, an die Öffentlichkeit zu bringen, wird er triftige Gründe aus unserer Gegenwart dafür haben. Jedenfalls mehr, als „nur“ Lücken im Geschichtsbild zu schließen – obwohl auch dies geschieht.
Seine Eigenheit, Zeitzeuge zu sein und möglichst sachlich davon Kenntnis zu geben, wird für Teltschik durch das so gebändigte Material bestätigt. Doch die Ideen und die Kleinarbeit des Herausgebers Michael Gehler haben nicht minder hohen Anteil am Nutzen und der Wirkung des Konvoluts, das als ein neues Standardwerk für eine Schlüsselperiode der jüngeren deutschen Geschichte zu bezeichnen nicht verfehlt sein dürfte.
„Ein Buch wird immer erst gefunden, wenn es verstanden wird“, heißt es in einem Brief Goethes an Schiller vom 06.05.1797. Ich hoffe, das Buch findet so seine Leser.
[1] – Horst Teltschik: Die 329 Tage zur deutschen Einigung. Das vollständige Tagebuch mit Nachbetrachtungen, Rückblenden und Ausblicken (Hrsg.: Michael Gehler), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2024, 992 Seiten, 89,00 Euro.
[2] – Zum IPW und den Aufgabenstellungen des Institutes siehe Blättchen, Sonderausgabe vom 01.07.2013.
Schlagwörter: BRD, DDR, Egon Krenz, Einigung, Helmut Kohl, Herbert Bertsch, Horst Teltschik, Michael Gehler, Nikolai Portugalow, Valentin Falin, Willy Brandt