von Wolfgang Schwarz
Wie Herbert Bertsch in seinen Anmerkungen zu Egon Krenz’ Buch „Wir und die Russen“ festgestellt hat, kommt bei Krenz einer der maßgeblichen Akteure der DDR im Verhältnis zur BRD in den 1970er und bis Mitte der 1980er Jahre nicht vor – Herbert Häber.
Nimmt man hingegen ein Standardwerk zu den deutsch-deutschen Beziehungen wie den bei De Gruyter Oldenbourg 2007 erschienenen Band „Außenpolitik in engen Grenzen – Die DDR im internationalen System 1949–1989“ von Herrmann Wentker (der Autor ist Leiter der Abteilung Berlin des Instituts für Zeitgeschichte) zur Hand, und blättert nur in dessen Personenverzeichnis, dann taucht Häber dort mit mehr Einträgen auf als Egon Krenz, obgleich der als kurzzeitig erster Mann der Partei und des Staates ziemlich häufig genannt wird. Ein für eine politische Unperson, als die Häber von Krenz offenkundig ignoriert wird, höchst bemerkenswertes Ergebnis.
Bertsch hat in seinem Text auf diese Diskrepanz aufmerksam gemacht, im Übrigen aber das Wirken Häbers in den deutsch-deutschen Beziehungen nur mit wenigen Details gestreift, denn sein Gegenstand ist ja ein anderer.
Häbers Karriere in der DDR war jahrzehntelang eine durchaus funktionärs-, respektive parteikadertypische, beginnend mit dem Beitritt des 17-Jährigen und bis dato Hilfsarbeiters im Metallwerk Zwickau zur FDJ und zur SED im Jahre 1946.[1]
Der eigentliche Karrieresprung Häbers erfolgte auf der 8. Tagung des ZK der SED am 24. Mai 1984, und der unterschied den Aufsteiger von allen anderen Mitgliedern des Politbüros inklusive des damaligen Generalsekretärs Erich Honecker: Er wurde quasi aus heiterem Himmel und ohne vorherige Kandidatenzeit vom „einfachen“ ZK-Abteilungsleiter nicht nur zum Vollmitglied des Politbüros befördert, sondern gleich auch noch zum Sekretär des ZK für Internationale Politik und Wirtschaft mit eigens für ihn geschaffenen ZK-Sekretariat. Das wurde damals sowohl intern wie auch in der Bundesrepublik und in Moskau als das bewertet, was es war – ein außerordentliches Signal.
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Dienstliche Kontakte in die Bundesrepublik, die vor allem der über öffentlich zugängliche Quellen hinausgehenden Information dienten, hatte Häber sehr frühzeitig aufgenommen. „Schon in den 50er Jahren“, so Häber selbst, „habe ich Wahlversammlungen mit Konrad Adenauer besucht und mich für die Position der Union in der Deutschland-Frage interessiert.“[2] Mit dem späteren Bundespräsidenten Johannes Rau (SPD) beispielsweise traf Häber bereits 1952 erstmals zusammen, als dieser noch in der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP) aktiv war.
Zu einer außerordentlichen Intensivierung von Häbers – beiderseits stets vertraulich geführten – Gesprächen mit maßgeblichen politischen Vertretern der BRD, zu denen er Informationsreisen unternahm, die ihn teilweise auch in Ost-Berlin aufsuchten, kam es ab 1971. Zunächst in Häbers Amtszeit als Direktor des IPW[3] und dann vor allem als Leiter der Westabteilung des ZK der SED. Im Laufe der Zeit las sich die Liste von Häbers westdeutschen Gesprächspartnern schließlich wie ein „Who is Who?“ der bundesdeutschen Politik[4]:
Auf der Führungsebene der CDU sprach Häber mit Wissen des Parteivorsitzenden Helmut Kohl mit Walter Leisler Kiep, Richard von Weizsäcker, Heinrich Windelen, Ottfried Hennig, Gerhard Stoltenberg, Peter Lorenz, Norbert Blüm, Olaf von Wrangel, Ernst Albrecht. Birgit Breuel, Walter Wallmann, Philipp Jenninger, Vollker Rühe,Theo Waigel, Bernhard Worrns, Eberhard Diepgen.
Aufseiten der SPD – mit Kenntnis der Parteivorsitzenden Willy Brandt und Helmut Schmidt – gehörten zu Häbers Gesprächspartnern Egon Bahr, Hans Koschnick, Karl Liedtke, Eugen Selbmann, Hans-Jürgen Wischnewski, Gerhard Jahn, Hans Büchler, Gunter Huonker, Horst Ehmke, Holger Börner, Karsten Voigt, Oskar Lafontaine, Gerhard Schröderr, Hans-Jochen Vogel, Ehrhard Eppler, Johannes Rau, Björn Engholm, Otto Schily, Klaus von Dohnany, Volker Hauff, Harry Ristock, Alexander Longolius und Karl Ravens.
Und bei FDP-Politikern handelte es sich um Günter Hoppe, Uwe Ronneburger, Kurt Spitzmüller, William Borrn, Günter Verheugen, Torsten Wolfgramm und Wolfgang Mischnick.
Häber selbst reflektierte später seine damaligen Kontakte und seine damit verbundenen Intentionen im Hinblick auf die SPD folgendermaßen: „Nachdem ich Ende 1973 zum Leiter der Westabteilung des ZK der SED ernannt worden war, vollzog ich aus eigenem Entschluß eine radikale Wendung im Verhalten zur SPD. Bis dahin war seit den 40er Jahren alles darauf gerichtet gewesen, mit Offenen Briefen die SPD politisch herauszufordern und zugleich auf halbkonspirative Weise innerhalb der SPD ‚linke‘ Kräfte gegen die – wie es hieß – ‚rechten‘ Führer zu mobilisieren. Dem setzte ich ein Ende, was mir scharfe Kritik von Leuten einbrachte, die vorher in der Westarbeit der SED bestimmend waren.
Ich unterband jedoch nicht nur diese Art der Kontaktarbeit, sondern ging einen großen Schritt weiter: Durch Vermittlung (insbesondere durch, wie Häber an anderer Stelle vermerkt, Günter Gaus, den ersten Ständigen Vertreter der BRD bei der DDR – W.S.) nahm ich selbst Verbindung auf zu führenden Persönlichkeiten der SPD auf der Ebene des Parteivorstandes.
Das begann mit Karl Liedtke, dem damaligen Vorsitzenden des Parteirates. Alsbald kam Hans Koschnick hinzu, Stellvertretender SPD-Vorsitzender und Bürgermeister von Bremen. Oskar Lafontaine traf ich in Saarbrücken, da war er noch Oberbürgermeister dieser Stadt und Landesvorsitzender der SPD Saar. Mit Gerhard Schröder, den ich schon aus der Juso-Zeit kannte, diskutierte ich im Juni 1981 über die Friedensbewegung, nachdem ich vorher den Landeschef der SPD-Niedersachsen, Karl Ravens, im Hannoverschen Landtag getroffen hatte. Langjährige Beziehungen verbanden mich mit Hans-Jürgen Wischnewski, als er Staatsminister im Bundeskanzleramt war und auch in seiner Zeit als Bundesgeschäftsführer der SPD. Holger Börner empfing mich in seiner Ministerpräsidenten-Residenzin Wiesbaden […]. Hans-Jochen Vogel besuchte mich 1984 in Berlin, ebenso 1985 Klaus von Dohnanyi. […]
Im Oktober 1983 wurde mir von Erhard Eppler bei einem gemeinsamen Mittagessen in Stuttgart der Vorschlag unterbreitet, eine Diskussionsrunde zwischen der SPD-Programmkommission und Gesellschaftswissenschaftlern der DDR zu eröffnen, wobei sich Eppler auf das Einverständnis von Willy Brandt berief. So entstand jene Verbindung, die später zu dem zwar umstrittenen, aber doch sehr bemerkenswerten gemeinsamen Grundsatzpapier von SPD und SED führte. […]
Meine Bemühungen gingen damals dahin, das Verhältnis zur SPD auf eine normale und saubere Basis zu stellen, die Schützengräben des Kalten Krieges zu verlassen, offen zu sein für die Meinungen und Interessen der Partner in der Bundesrepublik, nach Übereinstimmungen zu suchen und die Positionen meiner Partner möglichst unverfälscht dem SED-Generalssekretär zur Kenntnis zu bringen. Es entstand ein Geflecht des Vertrauens […].“
Mit Blick auf die CDU hat Häber festgehalten: „Von Beginn an war es mein Entschluss, zu versuchen, solche Beziehungen auch zur CDU/CSU aufzunehmen. Es war meine Meinung, dass entscheidende Entwicklungen im deutsch-deutschen Verhältnis auch vernünftige Beziehungen zur Union als Voraussetzung haben.
Mir kam entgegen, dass […] am 15. Januar 1975 W. L. Kiep[5] mit Wissen Kohls und mit ausdrücklicher Billigung von K. Biedenkopf, damals Generalsekretär der CDU, nach Ostberlin kam. Dort traf er sich mit mir. Kiep ließ mich wissen, dass Spitzenpolitiker der CDU den Wunsch haben, mit mir zusammen zu kommen.“ So entstanden in der Folgezeit Kontakte zu den oben bereits genannten Persönlichkeiten. „Es handelte sich um vertrauensvolle bis vertrauliche Kontakte über Jahre – keiner hat jemals den anderen desavouiert.“
Das gleichzeitige Verbindungshalten zur SPD und der von ihr geführten Bundesregierung sowie zur CDU/CSU-Opposition war dabei durchaus ein Balanceakt, der offenkundig gelang und beim Bonner Regierungswechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl 1982 hilfreich war. Dazu Häber: „Anfangs hatten meine Kontakte zu hochrangigen Politikern der Union bei SPD-Politikern zu Irritationen geführt. Ich wurde verdächtigt, so von Wehner, ich würde der SPD-geführten Bundesregierung in den Rücken fallen. Ich konnte aber deutlich machen, daß meine Diskussionen gerade mit Unionspolitikern, die der Ostpolitik der SPD-FDP-Koalition ablehnend gegenüberstanden, wie Heinrich Windelen, Olaf von Wrangel, Gerhard Reddemann und andere, geholfen haben, die Bonner Koalition vom Druck aus der rechten Ecke der CDU zu entlasten.
Schließlich vermochte ich so einen Beitrag zu leisten, daß 1982 beim Kanzlerwechsel […] in der Vertragspolitik Kontinuität gewahrt wurde – zum Nutzen der Menschen in beiden deutschen Staaten.“
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In jenen Jahren wurde Häber für Konzeptionen zur Politik gegenüber der Bundesrepublik zum engen Vertrauten von Honecker.[6] Das betraf insbesondere die Jahre nach dem NATO-Doppelbeschluss von 1979, als es zu einer sprunghaften Verschärfung der Ost-West-Beziehungen kam – nicht zuletzt, weil Moskau ebenfalls auf Konfrontation schaltete und weitere Raketenkernwaffensysteme in der DDR stationierte. Honecker, der begriffen hatte, dass der DDR (und der BRD) im Falle einer militärischen Auseinandersetzung der Blöcke auf deutschem Boden die finale Vernichtung drohte, suchte sich – sehr zum Missfallen der sowjetischen Führung – von diesem Kurs abzukoppeln und bemühte sich um einen „Schulterschluss“ mit Bonn in dieser Frage. Ihm sekundierte Häber: „Ich kannte schon 1983 die internen Telefongespräche H. Kohls mit E. Honecker. Von mir stammt im Oktober1983 in der brisanten Raketenkrise die Formulierunq von der notwendigen Koalition der Vernunft, die H. Kohl sofort in einem Brief positiv aufgriff.“
Häbers eigenem Fazit muss nicht widersprochen werden: „Es ist keine Übertreibung, wenn ich darauf verweise, daß ich mit hohem persönlichen Risiko dabei mitgewirkt habe, um statt einer Eiszeit zwischen den beiden deutschen Staaten ein politisches Klima zu bewahren, das weitere humanitäre Schritte im innerdeutschen Verhältnis erlaubte.“
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Zu Häbers plötzlichem Aufstieg ins Politbüro kam es nach dessen eigener Einschätzung aus pragmatischem Grund: „Am 24. Mai 1984 ließ Honecker mich ins Politbüro der SED wählen, weil er nach erneuter Einladung durch H. Kohl damit rechnete, demnächst in die Bundesrepublik zu reisen. Da wollte er mich neben sich haben, und nicht hinten im Tross.“
Das wird verständlich, wenn man sich damalige westdeutsche Presseberichte mit dem Tenor „Bonn begrüßt die Ernennung Häbers“ in Erinnerung ruft. Er gelte, so fasste die FAZ am 23. Juli 1984 zusammen, „bei allen mit der Deutschlandpolitik Befaßten in der Bundesrepublik mit Einschluß Westberlins als geschätzter – weil sachkundiger, undogmatischer und offener – Gesprächspartner“. Und der seinerzeitige Bundesminister Heinrich Windelen äußerte: „Wir betrachten dies (die Erhebung Häbers ins Politbüro – W.S.) als ein positives Zeichen.“[7]
Insbesondere vor dem Hintergrund der damaligen Verschärfung des Ost-West-Konfliktes konnte, so der westdeutsche DDR-Experte Johannes Kuppe, „Häbers damaliger Aufstieg […] als Signal Ost-Berlins an die Bundesregierung verstanden werden, dass die Deutschlandpoltik einen unverändert hohen Stellenwert im Prioritätenkatalog des Politbüros einnahm und dass ihre Fortsetzung in schwieriger gewordener Zeit durch größere operative Professionalität […] gesichert werden sollte“[8].
Das war hartes Wasser auf die Mühlen Moskaus, wo Honeckers BRD-Kurs auf wachsende Ablehnung stieß und Häber längst ins Fadenkreuz geraten war: „Schon frühzeitig ließ Honecker mich wissen, dass meine CDU-Verbindungen bei Breschnews Leuten in Moskau Verdacht erweckten und missbilligt wurden.“ Und auch der Moskau-Fraktion im SED-Politbüro um Ministerpräsident Stoph, dessen Stellvertreter Krolikowski sowie Stasi-Chef Mielke war Häber schon von vornherein „ein Pfahl im Fleische“, neben der ideologischen Ablehnung auch aus Gründen der Konkurrenz beim Generalsekretär: „Über die Jahre wurden meine Beziehungen zur Union von den Hardlinern in der SED Führung wie […] Mielke, […] Stoph u. a. bekämpft. Es wurde heimtückisch die Parole verbreitet, ich sei wohl mehr der Vertreter der westdeutschen CDU in der SED als der SED-Vertreter in Bonn. Als ich nun im Mai 1984 von Honecker sogar ins SED-Politbüro gehievt wurde, schritten sie im Kontakt mit dem sowjetischen Staatssicherheitsdienst KGB zur Tat und begannen mit der Femeaktion zu meiner Ausschaltung, wobei ich verdächtigt wurde, ein Agent westlicher Geheimdienste in der SED-Führung zu sein.“
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In Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses hatten die USA 1983 damit begonnen, nuklear bestückte Pershing-II-Raketen mit extrem kurzer Vorwarnzeit in der BRD sowie ebenfalls atomar armierte Marschflugkörper dort sowie in vier weiteren westeuropäischen Staaten aufzustellen. Dessen ungeachtet hielt Honecker an seinem Vorhaben eines Staatsbesuches in Bonn fest, die Vorbereitungen liefen. Noch in der Zeit-Ausgabe vom 3. August 1984 zitierte Theo Sommer Häber so: „Wir meinen, daß der Besuch stattfinden soll. Und wir hoffen, daß nicht irgendjemand wieder etwas konstruiert.“[9] Auch zu möglichen Gesprächsinhalten und Zielsetzungen äußerte sich Häber: „[…] über Fragen der Abrüstung und der Rüstungskontrolle […] , auch über chemische Waffen und atomfreie Zonen. Wir müssen dafür sorgen, daß von den beiden deutschen Staaten nicht zusätzliche Belastungen ausgehen – obwohl wir wissen, daß keiner sich abkoppeln kann. Jeder sollte in seinem Bündnis wirken, daß die Lage insgesamt wieder besser wird.“[10] (Frühere Kollegen im IPW hatte Häber mit Blick auf Bonn in jener Zeit wissen lassen: „Das Tischtuch darf nicht zerrissen werden“.)
Sommer hatte in seinem Beitrag die Frage aufgeworfen „Wird […] die Kremlführung Honecker zwingen, seinen für Ende September geplanten Besuch in der Bundesrepublik abzublasen?“ und gemutmaßt, „daß nun jemand im Kreml ‚etwas konstruiert‘, das Honecker veranlaßt, die Reise […] am Ende doch vom Programm zu streichen“[11]. Theo Sommer, beim IPW kein Unbekannter und seinerzeit wie gegenwärtig ein Kundiger, sollte Recht behalten.
Für den 17. August 1984 wurde Honecker zu einem Geheimtreffen mit der sowjetischen Führung nach Moskau beordert, wo man ihm die Leviten las. KPdSU-Chef Tschernenko hielt Honecker vor, dass es „keine Veranlassung für die Losung über eine gesamtdeutsche Koalition der Vernunft“[12] gäbe. Der sowjetische Verteidigungsminister Ustinow warf Honecker vor: „Es fehlt Ihnen etwas an Härte in den Beziehungen mit der BRD.“[13] Und Gorbatschow sekundierte: „Als die Raketen aufgestellt wurden, die Sozialdemokraten der Stationierung zustimmten, haben wir erklärt, daß, wenn nichts geschieht, ein neues Element in der Lage entsteht und daß es nicht so weitergehen kann wie vorher. Daß das seine Auswirkung haben wird auf die Beziehungen auch zwischen beiden (deutschen – W.S.) Staaten. Und was geschieht jetzt? Die Kontakte werden erweitert, der Besuch wird vorbereitet, es werden Kredite gewährt. Dies vereinbart sich nicht mit unseren Erklärungen.“[14]
Dieser massive sowjetische Druck zwang Honecker, seinen geplanten BRD-Besuch kurzfristig abzusagen. Und es gab auch andere operative Folgen; diese hielt Heinrich Potthoff später fest: „Honecker wurde regelrecht zurechtgestaucht. Um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen und seinen Posten zu retten, brauchte er ein Bauernopfer: Herbert Häber, gerade erst ins Politbüro aufgerückt, wurde zum Sündenbock gestempelt und kaltgestellt.“[15]
In der Darstellung von Iwan Kusmin, der von 1984 bis 1991 Leiter der Informationsabteilung der KGB-Vertretung in Ost-Berlin war, vollzog sich dies folgendermaßen: „1985 gelang es den Opponenten von Honecker, einen der Hauptvertreter seiner Westpolitik, Herbert Häber, zu kompromittieren. Dem Politbüro wurde vom MfS vorbereitetes Material vorgelegt, wonach Häber einen wesentlichen Umstand aus seiner Biografie verschwiegen hatte: Sein Vater habe während des Krieges als Bewacher in einem KZ gedient.“[16]
Häber zufolge war das eine vorsätzliche Lüge, denn sein Vater sei „während des Krieges Soldat bei den FLAK-Scheinwerfern in München, niemals als Bewacher in einem KZ“ gewesen.
Das MfS-Material erfüllte den beabsichtigten Zweck, denn es führte, so Kusmin weiter, „zur Isolierung von Häber und verursachte seinen Nervenzusammenbruch. Am 21. November 1985 wurde er aus dem Politbüro und dem Sekretariat des ZK der SED ausgeschlossen; begründet wurde dies mit seiner Erkrankung“[17].
Häber, der sich zu jener Zeit im Krankenhaus befand, wurde in die Nervenheilanstalt Bernburg überführt, die er ohne die Hilfe des ihn dort behandelnden Arztes womöglich nicht wieder hätte verlassen können. Danach wurde ihm ein wissenschaftlicher Arbeitsplatz in der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED zugewiesen.
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Vor diesem Hintergrund war es später selbst einem CDU-Spitzenpolitiker wie Wolfgang Schäuble unverständlich bis peinlich, dass Häber in die Mühlen der bundesdeutschen Versuche geriet, bestimmte Aspekte der DDR-Geschichte mit Mitteln der Justiz „aufzuarbeiten“. Schäuble, damals Stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, in einem Brief an Häber vom 16. Oktober 2003: „Im Zusammenhang mit dem gegen Sie anhängigen Verfahren[18] möchte ich Ihnen gerne bestätigen, dass Sie mir bei meinem Amtsantritt als Chef des Kanzleramtes und als für die Beziehungen zur Regierung der DDR zuständiges Mitglied der Bundesregierung im November 1984 von meinen Mitarbeitern und von Philipp Jenninger als das Mitglied der Führung der SED geschildert wurden, das für die Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland und für die Linderung der Folgen der deutschen Teilung, insbesondere durch mehr Verbindungen und Begegnungen, besonders aufgeschlossen war. Dieser Eindruck hat sich mir in unserer Begegnung unmittelbar bestätigt und auch mittelbar in der Zeit, solange Sie in der Führung der SED noch verblieben sind. Von daher kann ich Ihre Betroffenheit gut nachvollziehen, dass Sie heute für die Politik der Abgrenzung des SED-Regimes in Verantwortung genommen werden, obwohl Sie damals wegen Ihrer Bemühungen, diese Politik aufzulockern, innerhalb des SED-Machtapparats gestürzt wurden.“[19]
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[1] – Zu weiteren Details siehe Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Häber – aufgerufen am 31.08.2019.
Allerdings ist der dortige Eintrag teils ungenau, teils fehlerbehaftet. So war Häber zwischen 1965 und 1971 nicht der „Staatssekretär für gesamtdeutsche Fragen“, sondern sein Stellvertreter.
Als sich angesichts der Normalisierungsverträge zwischen Moskau und Bonn (1970) sowie Warschau und Bonn (ebenfalls 1970) die damalige DDR-Führung auf weitere und stringentere Abgrenzung von der BRD setzte, wurde das Staatssekretariat 1971 aufgelöst.
Häber regte seinerzeit die Gründung eines Institutes für Internationale Politik und Wirtschaft (IPW) der DDR an, die 1971 erfolgte und zu dessen Gründungsdirektor er berufen wurde. 1973 rückte Häber zum Leiter der Westabteilung im ZK der SED auf, der nachmaligen Abteilung Internationale Politik und Wirtschaft.
[2] – Dieses und alle weiteren Häber-Zitate entstammen, soweit nicht anders ausgewiesen, persönlichen Notizen Herbert Häbers, die dieser dem Autor für den vorliegenden Beitrag zur Verfügung gestellt hat.
[3] – In das Institut gingen Materialbestand und teilweise die Mitarbeiter des Staatssekretariats für westdeutsche Fragen ein. Hauptsächlich war es aber die Zusammenführung des Deutschen Wirtschaftsinstitutes, DWI, und des Deutschen Instituts für Zeitgeschichte, DIZ).
Die Namensgebung des IPW war insofern etwas irreführend, als das Institut zwar international ausgerichtet, aber nur in einer Himmelsrichtung forschend tätig war: Das IPW betrieb Westforschung mit Schwerpunkt BRD, doch auch mit Fokus auf die USA und auf – in geringerem Maße – Frankreich und Großbritannien. (Insbesondere die auf Ökonomie ausgerichtete Hauptabteilung I hatte allerdings in der theoretischen Arbeit enge Beziehungen zu sowjetischen Instituten, insbesondere zum IMEMO, dessen Direktor Jewgeni Primakow, ein gebürtiger Ukrainer, 1998/1999 russischer Ministerpräsident wurde.) Weitere IPW-Forschungsschwerpunkte waren westliche Zusammenschlüsse in den Bereichen Wirtschaft (EWG, OECD), Politik (EU-Vorläufer, Europa-Parlament) sowie Militär (NATO) und nicht zuletzt bürgerliche Ideologie.
Das Institut war mit etwa 400 wissenschaftlichen, wissenschaftlich-technischen und sonstigen Mitarbeitern das größte seiner Art in der DDR. Es verfügte über eine außerordentlich breite, stets aktuelle Quellenbasis, die sich von den maßgeblichen westlichen Tageszeitungen über politologische, wirtschafts- und militärwissenschaftliche Periodika bis zur einschlägigen Fachliteratur erstreckte. Das IPW editierte eine eigene Monatszeitschrift (IPW-Berichte), eine eigene quartalsweise Print-Reihe (IPW-Forschungshefte) und publizierte regelmäßig Buchtitel zu seinen Forschungsschwerpunkten.
Beginnend mit Häber und unter seinem Nachfolger Max Schmidt entfaltete das IPW eine sehr breite Palette von wissenschaftlichen Austauschkontakten zu entsprechenden Instituten in der BRD und anderen westlichen Ländern, aber auch zu staatlichen wie zwischenstaatlichen Institutionen und nicht zuletzt bis hinein in die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen, in die auch der Autor von 1979 bis 1990 eingebunden war. Insbesondere durch die dem Institut zugeordnete Arbeitsgruppe des Ministerrates waren Mitarbeiter des IPW auch in die staatlichen Beziehungen zur BRD einbezogen. Insgesamt ist das Institut, obwohl offiziell dem Ministerrat der DDR nachgeordnet, integraler Bestandteil der institutionalisierten Westarbeit der SED gewesen.
[4] – Vgl. dazu ausführlich Detlef Nakath / Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.): Die Häber-Protokolle, Berlin 1999 sowie Detlef Nakath: Die DDR – Analysen eines aufgegebenen Staates. Schriftenreihe Dokumente der Europäischen Akademie Otzenhausen, Band 92, Berlin 2001.
[5] – Mit dem CDU-Politiker Walter Leisler Kiep (CDU-Präsidiumsmitglied, langjähriger Bundesschatzmeister seiner Partei und Vorsitzender der Atlantik-Brücke) entwickelten sich Häbers Gesprächskontakte am intensivsten; der ersten Begegnung folgten bis 1985 etwa 20 weitere Treffen. Bis zum Tod von Kiep im Mai 2016 hatte diese Verbindung Bestand.
[6] – Dazu merkte Karl Seidel, seinerzeit Abteilungsleiter BRD im DDR-Außenministerium, an: „Herbert Häber genoß bei Honecker lange Zeit großes Ansehen und große Wertschätzung. Er war intelligent, undogmatisch, politisch beschlagen und kenntnisreich, ein guter Analytiker mit konzeptionellen Fähigkeiten; er konnte vor allem – eine seltene Gabe in SED-Führungskreisen – schnell und gut formulieren, argumentieren und hatte neue Ideen. Er hatte die fünf Punkte zur Außenpolitik in der Rede Honeckers auf dem VIII. Parteitag formuliert […].“ (Karl Seidel: Berlin-Bonner Balance, Berlin 2002, S. 28.)
[7] – Die Welt, 29.05.1984.
[8] – Johannes Kuppe: Marschroute zum XI. Parteitag festgelegt. Politische Aspekte des 11. ZK-Plenums, in: Deutschland Archiv, 1/1986, S. 2.
[9] – Theo Sommer: Mit der Geschichte auf dem Buckel, Die Zeit, 32/1984; https://www.zeit.de/1984/32/mit-der-geschichte-auf-dem-buckel/komplettansicht – aufgerufen am 03.09.2019.
[10] – Ebenda.
[11] – Ebenda.
[12] – Niederschrift über das Geheimtreffen zwischen Erich Honecker, Generalsekretär des ZK der SED und DDR-Staatsratsvorsitzender, und Konstantin Tschernenko, Generalsekretär des ZK der KPdSU und Präsidiumsvorsitzender des Obersten Sowjets der UdSSR, in Moskau am 17. August 1984 (Auszug), in: Detlef Nakath / Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.), S. 409.
[13] – Ebenda, S. 417.
[14] – Ebenda, S. 416.
[15] – Heinrich Potthoff: Im Schatten der Mauer. Deutschlandpolitik 1961 bis 1990, Berlin 1990, S. 240.
[16] – Iwan N. Kusmin: Meldungen aus Ost-Berlin: Die Krise in der DDR im Herbst 1989 und die Reaktionen der sowjetischen Führung, Deutschland Archiv: Zeitschrift für das vereinigte Deutschland, 01/2003, S. 102.
[17] – Ebenda.
[18] – Häber wurde aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Politbüro der SED 2004 wegen Anstiftung zum dreifachen Mord für schuldig befunden. Konkret ging es um Schüsse auf drei DDR-Bürger, die in den 1980er Jahren von Ost- nach West-Berlin fliehen wollten. Häbers Verurteilung erfolgte ohne Zumessung einer Strafe. Vgl. „Schuldig, aber straffrei“, FAZ, 11.05.2004; https://www.faz.net/aktuell/politik/politbuero-prozess-schuldig-aber-straffrei-1158103.html – aufgerufen am 03.09.2019.
[19] – Eine Kopie des Briefes liegt dem Autor vor.
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