Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein.
Boris Pistorius, Bundesverteidigungsminister,
am 5. Juni 2024 im Deutschen Bundestag
„Kriegstüchtig“ bedeutet, sich vorzubereiten.
Nicht nur darauf, im Kriegsfall bestehen zu können.
Sondern darauf, gewinnen zu können.
André Bodemann, Generalleutnant der Bundeswehr
Das stern-Interview, in dem der General letzteres von sich gab, ließ keinen Zweifel daran, gegen wen im Kriegsfall gewonnen werden soll – Moskau. Dass Russland jede drohende militärische Niederlage auf eigenem Territorium durch Einsatz von Kernwaffen zu einem vernichtenden Debakel auch für den potenziellen Sieger zu wandeln in der Lage wäre, scheint dem General entgangen zu sein oder ihn nicht zu interessieren. Dito die beiden Interviewer des Nachrichtenmagazins; jedenfalls haben sie nicht nachgefragt. In der Unterzeile ihres Textes heißt es vielmehr: „Da kommt auch auf Zivilisten einiges zu“. Wie – möglicherweise tödlich – wahr.
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Montag, 7. Oktober 2014: In einem Bericht der Berliner Zeitung über das gerade beendete Jahrestreffen des Warsaw Security Forum, das vom Blatt als „im Kern eine zweitägige Kampagne für mehr Aufrüstung in europäischen NATO-Staaten“ bezeichnet wird und unter dessen „15 ‚Industriepartnern‘ […] ausländische Rüstungskonzerne das Gros“ bilden, darunter „die amerikanischen Rüstungsriesen Lockheed Martin und Northrop Grumman“, heißt es: „Ein Überfall Russlands zum Beispiel auf die Baltischen Staaten – trotz NATO und dem Artikel 5 des Bündnisses – wird als realistisches Szenario bewertet.“
Montag, 14. Oktober 2024: Die Präsidenten der drei deutschen Nachrichtendienste (BND, Verfassungsschutz, MAD) haben ihren Auftritt im Bundestag, vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium für die Geheimdienste. Was üblicherweise hinter verschlossenen Türen stattfindet, wird diesmal mit einer expliziten Botschaft an die Öffentlichkeit zelebriert; das „Besondere“ dabei, laut FAZ, dass „alle drei Präsidenten in eindringlichen bis dramatischen Worten vor Russland warnen“. O-Ton Bruno Kahl, BND-Chef: „Die russischen Streitkräfte sind wahrscheinlich spätestens [Hervorhebung – W.S.] ab Ende dieses Jahrzehnts personell und materiell in der Lage, einen Angriff gegen die NATO durchzuführen.“ O-Ton Thomas Haldewang, Chef des Bundesverfassungsschutzes, der im vergangenen Jahr mit Blick auf die Bedrohungslage für Deutschland gemeint hatte, dass Russland der Sturm sei: „[…] aus dem Sturm ist inzwischen ein militärischer Hurrikan geworden. Dieser Hurrikan zieht mit Macht von Ost nach West.“
Es erübrigt sich natürlich, Geheimdienstchefs nach dem Quellenhintergrund für derart alarmistische Fanfarenstöße zu fragen. Absoluter Quellenschutz ist ein sine qua non nachrichtendienstlicher Tätigkeit. Doch andere Fragen hätten in einem Parlamentarischen Kontrollgremium, das seine Funktion ernst nimmt, durchaus gestellt werden können, ja müssen. Etwa die, welche russischen Streitkräfte, die „mit Macht von Ost nach West“ zögen, Kahl und Haldewang im Visier haben. Doch nicht etwa jene,
- die nach jüngsten Äußerungen von NATO-Generalsekretär Mark Rutte im Ukraine-Krieg bereits Verluste von mehr als 600.000 Mann – „getötet oder verwundet“ – erlitten haben und deren Verluste laut Berliner Zeitung „seit Frühjahr 2024 […] zeitweise weit über 1000 Mann pro Tag“ betragen?
- die nach Angaben des Londoner International Institute for Strategic Studies bereits knapp 3000 Kampfpanzer verloren haben, mehr als sich vor Kriegsbeginn überhaupt im aktiven Dienst befanden?
- die schon wenige Wochen nach dem russischen Überfall ihren Vormarsch auf die ukrainische Hauptstadt unter erheblichen Verlusten abbrechen mussten?
- die im November 2022 die Gebietshauptstadt Cherson, die ihnen zu Beginn des Krieges nahezu kampflos in die Hände gefallen war, wieder räumen und sich auf das Ostufer des Dnipro zurückziehen mussten?
- die seit Kriegsbeginn nicht in der Lage sind, die Lufthoheit über der Ukraine zu gewinnen und ukrainische Drohnen- und Raketenangriffe gegen Ziele auf russischem Staatsgebiet und auf der Krim zu unterbinden?
- die gegen ausgepowerte, militärisch unterversorgte ukrainische Verteidiger, die nennenswerten personellen Nachschubs ermangeln, derzeit in den ostukrainischen Frontgebieten lediglich im Schneckentempo vorankommen?
- die seit Wochen nicht in der Lage sind, die Besetzung russischen Territoriums durch ukrainische Kräfte in der Region Kursk zu bereinigen?
- die westlichen Medienberichten zufolge inzwischen auf nordkoreanische Hilfstruppen („spricht nicht für Russlands Stärke“, FAZ) zurückgreifen müssen, um personellen Engpässen gegenzusteuern?
Diese russischen Streitkräfte also sollen spätestens ab Ende des Jahrzehnts zu einem Angriff auf die NATO in der Lage sein?* Man ist versucht zu fragen, ob Kahl, Haldewang und ihr mediales Begleitorchester, das deren Alarmismus ungeprüft und durch die eigene Breitenwirkung noch verstärkend kolportiert, einer wodurch auch immer induzierten Selbsttäuschung aufsitzen oder ob hier nicht vielmehr ein propagandistischer Popanz hochgezogen wird, um die Öffentlichkeit auf Linie zu bringen. Die Linie wäre: Krieg mit Russland.
Doch andererseits – ist da nicht noch die russische Kriegswirtschaft, die auf Hochtouren läuft? In jüngerer Zeit ging durch die Medien:
- „Putin will noch mehr Waffen und Munition. Deshalb schwört er Russland jetzt auf eine jahrzehntelange Kriegswirtschaft ein.“ (ProSieben)
- „Russland hat seine gesamte Volkswirtschaft mittlerweile auf Kriegswirtschaft umgestellt und produziert Waffen und Munition weit über dem gegenwärtigen Bedarf. […] deutlich mehr, als im Krieg gegen die Ukraine verbraucht wird.“ (Friedrich Merz, Kanzlerkandidat der Union)
- „[…] der Kreml setzt auf Kriegswirtschaft.“ (Konrad-Adenauer-Stiftung)
Und einschlägige Experten wie Sönke Neitzel, „Deutschlands einziger Professor für Militärgeschichte“ (WDR), wissen: „Russland versucht mit allen Mitteln seine technologischen Fähigkeiten zu verbessern, um wieder größere Gebiete erobern zu können“, etwa um „die grenznahen Städte Narwa [drittgrößte Stadt Estlands – W.S.] oder Vilnius [Hauptstadt Litauens – W.S.] überraschend einzunehmen“.
Was an diesen Einlassungen zur russischen Kriegswirtschaft verwundert, sind ihre überwiegend sehr allgemein gehaltenen Aussagen, die mit immer wieder zu lesenden Meldungen über von Russland dringend benötigte massive Lieferungen iranischer Drohnen und nordkoreanischer Artilleriemunition eigentümlich kontrastieren. Werden diese Einlassungen doch mal konkreter – die russische Kriegswirtschaft produziere bereits „1500 neue Panzer jährlich“ (Süddeutsche Zeitung) –, dann kann man sich nur darüber wundern, dass diese Panzermassen offenbar nicht an den ukrainischen Fronten auftauchen. Jedenfalls wurde darüber bisher nichts berichtet. Das mag daran liegen, dass eine im September 2024 veröffentlichte Studie der Carnegie Foundation („Russian Military Reconstitution: 2030 Pathways and Prospects – Russischer militärischer Wiederaufbau: Wege und Aussichten bis 2030“) in ihrer Analyse vielleicht doch zutreffender ist: „Bei der Mehrheit der von Russland an die Front gelieferten Ausrüstung handelt es sich um aufgearbeitetes Material. […] Wenn die Verlustraten […] anhalten, läuft Russland Gefahr, dass die verfügbaren Bestände aus der Sowjetzeit für bestimmte Ausrüstungsarten möglicherweise 2026 erschöpft sind.“ (Diese Einschätzung wird bestätigt durch einen Bericht der FAZ vom 28. Oktober 2024, in dem anhand von Satellitenaufnahmen russischer Panzerdepots verständlich wird, wie stark sich deren Bestände seit Mitte 2021 verringert haben.) Und was die Aussichten Moskaus anbetrifft, die eigenen Streitkräfte nach Mannschaftsstärke und Ausrüstung bis 2030 auf ein den Zustand vor dem Ukraine-Krieg sogar noch übertreffendes Niveau auszubauen, meinen die Carnegie-Autoren: „Eine Erweiterung der Streitkräfte würde erhebliche Investitionen in die Produktion neuer Ausrüstung, die Rekrutierung zusätzlicher Berufssoldaten in einer Gesellschaft, die sich in letzter Zeit an hohe Löhne und teure Sozialleistungen und -ansprüche gewöhnt hat, sowie den Bau neuer Militärstützpunkte erfordern. Diese Ausgaben würden mit dem Beschaffungsdruck auf einen bereits aufgeblähten Verteidigungshaushalt und eine bereits angespannte männliche Erwerbsbevölkerung zusammenfallen.“
Nicht dass eine Erweiterung der russischen Streitkräfte über das Niveau von 2022 hinaus völlig ausgeschlossen wäre, zumal in einem autoritären System, doch solange die Kremlführung zugleich Wert auf innergesellschaftliche Ruhe und Stabilität legt, ist zumindest mit einem Durchmarsch in diese Richtung schwerlich zu rechnen. Diese Annahme stützt sich nicht zuletzt auf das bisher äußerst zurückhaltende Agieren des Kremls im Hinblick auf Mobilisierungen für die personellen Ausfälle an den Fronten.
Alles in allem ist die Faktenlage bezüglich der sogenannten russischen Bedrohung folglich weit weniger klar, als es das Warsaw Security Forum sowie der Parlamentsauftritt der deutschen Geheimdienstchefs weismachen wollten.
Trotzdem musste und muss das Menetekel der Gefahr aus dem Osten (siehe auch Blättchen 25/2023) dafür herhalten, die massivste Hochrüstung der Bundeswehr (und der gesamten NATO) seit Ende des ersten Kalten Krieges loszutreten. Und weiter zu befeuern. Denn bei 100 Milliarden Sonderschulden für die Bundeswehr und der seit 2014 vollzogenen Steigerung des deutschen Verteidigungshaushalts von 32,4 Milliarden auf inzwischen 51,95 Milliarden Euro soll es nach den Vorstellungen diverser Experten und politischer Protagonisten nicht bleiben:
- „Zwei Prozent reichen für Deutschland nicht. Es muss Richtung drei Prozent gehen“, hat der höchste deutsche NATO-General, Christian Badia, zu Protokoll gegeben.
- Womit im Falle einer Kanzlerschaft von Friedrich Merz gerechnet werden darf, konnte man seinem Auftritt im „Bericht aus Berlin“ am 27. Oktober 2024 entnehmen. Auf die wiederholte Nachfrage der Interviewerin, ob er denn auf den derzeitigen deutschen Militäretat weitere 30 Milliarden draufpacken würde, um das Zwei-Prozent-Ziel der NATO allein aus dem Verteidigungshauhalt heraus sicherzustellen, antwortete der Spitzenkandidat der Union: „Meine Antwort ist ja.“ Was er vorsichtshalber gleich noch wiederholte: „Meine Antwort ist ja.“
- Experten wie Neitzel reicht das längst nicht: „Die Bundeswehr muss es sich leisten können, nicht nur vorhandenes Gerät zu verbessern, sondern parallel deren Vernetzung voranzutreiben, moderne, weitreichende Präzisionsmunition sowie Drohnen aller Leistungsklassen einzuführen und darüber hinaus in Neuentwicklungen zu investieren. Die notwendige Summe lässt sich auf mehr als 200 Milliarden Euro für die nächsten fünf bis acht Jahre schätzen. Dieser Betrag käme zu dem Verteidigungsbudget von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts noch hinzu […].“
Politische und gesellschaftliche Kräfte, die in der Lage wären, diese sicherheitspolitisch widersinnige Entwicklung aufzuhalten, sind derzeit nicht auszumachen. Wie meinte doch schon Friedrich Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“ ebenso treffend wie pessimistisch: „Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, – aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.
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Berliner Zeitung: Es ist absurd zu glauben, der Russe stünde bei uns vor der Tür?
Oskar Lafontaine: Ja, sicher. Der Russe kann ja sein riesiges eigenes Land kaum besetzen. Schon als zu Beginn des Kriegs 100.000 Soldaten an der ukrainischen Grenze standen, wussten viele Militärs, dass das keine Armee sein kann, die die ganze großflächige Ukraine erobern könnte. Als die Sowjets 1968 in die viel kleinere Tschechoslowakei einmarschiert sind, waren es 500.000 Soldaten.
* – Dass die russischen Streitkräfte bereits vor Ausbruch des Ukraine-Krieges denen der NATO konventionell hochgradig unterlegen waren, ist hier bereits wiederholt thematisiert worden – siehe unter anderem Blättchen 15/2022. Daher hat der Kreml kürzlich die russische Nukleardoktrin in Richtung eines frühzeitigen Ersteinsatzes von Kernwaffen im Kriegsfall geändert; siehe Blättchen 21/2024.
Schlagwörter: Bedrohung, Kernwaffen, Krieg, kriegstüchtig, Kriegswirtschaft, NATO, Russland, Ukraine-Krieg, Wolfgang Schwarz