26. Jahrgang | Nummer 21 | 9. Oktober 2023

Nie wieder MAD?

von Peter Linke, zz. Almaty

Im März waren es 40 Jahre, dass US-Präsident Ronald Reagan seinen Plan einer nationalen ballistischen Raketenabwehr verkündete. Das als Strategische Verteidigungsoffensive (SDI) bezeichnete Rüstungsprogramm sollte mit 1000 landgestützten und hunderten weltraumgestützten Raketenabfangsystemen ein hocheffektives Schutzschild bilden, mit dem sowjetische Interkontinentalraketen abgewehrt werden sollte. Mit SDI, frohlockten damals nicht wenige Militärtheoretiker, werde die traditionelle Logik der Abschreckung und der „gegenseitig garantierten Vernichtung“ (Mutual Assured Destrution, MAD, was sinnigerweise auch verrückt bedeutet)) überwunden, die über Jahrzehnte die Menschen in Ost und West zu nuklearen Geiseln gemacht habe.

Reagans Vorhaben, schwärmt Patty-Jane Geller von der konservativen Heritage Foundation noch heute, sei ambitioniert, aber auch hoffnungsvoll gewesen. Leider spüre man davon derzeit nur noch sehr wenig. Auf Reagan seien Politiker gefolgt, die mit SDI nur begrenzt etwas anfangen konnten. Bereits die erste Bush-Administration habe sich mit ihrem System „globaler Verteidigung gegen begrenzte Schläge“ (PALS), bestehend aus weltraumgestützen Interzeptoren (genannt „Brilliant Pebbles“), auf die Abwehr eines nuklearen Angriffs mit maximal 200 Sprengköpfen beschränkt. Ein noch schlankeres Raketenabwehrprogramm ohne weltraumbasierte Abfangmittel sei von der Clinton-Regierung verfolgt worden. Unter Präsident George W. Bush sei dann nur noch die Rede von einer „begrenzten Verteidigung der Heimat“ gewesen – mit lediglich einer Handvoll landgestützter Interzeptoren in Fort Greely, Alaska, und der Weltraumwaffenbasis Vandenberg in Kalifornien. Mit derart mageren Kapazitäten, lamentiert Geller, können sich die USA lediglich gegen Angriffe durch kleine nukleare „Schurkenstaaten“ wie Nordkorea oder Iran zur Wehr setzen, aber nicht gegen „fast gleichwertige Gegner“ wie Russland oder China …

Kein Wort wiederum verliert die Heritage-Expertin über den von George W. Bush vorangetrieben Ausstieg aus dem ABM-Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen im Jahre 2002 – 30 Jahre nach dessen Unterzeichnung. Die zeitgleich erfolgte Gründung des US-Raketenabwehramtes (MDA), betraut mit der Schaffung eines mehrschichtigen Abwehrsystems gegen ballistische Raketen, macht vor allem eines deutlich: Unbeirrt orientiert Washington auf die Einbeziehung des erdnahen Raums in die eigenen militärischen Planungen – getestet und gebaut werden sollten und sollen nationale Raketensysteme zur Abwehr „nuklearer Erpressungsversuche“ durch jedwede „Schurkenstaaten“.

Dass derartige Systeme bei anderen Ängste vor einem US-amerikanischen Erstschlag auslösen könnten, da solche Systeme den Vergeltungsschlag der angegriffenen Seite irrelevant machen würden (siehe dazu ausführlicher Blättchen 7/2014), was wiederum eventuell Betroffene verstärkt darüber nachsinnen lässt, wie diese Abwehrmittel gegebenenfalls neutralisiert oder ausgeschaltet werden könnten (womit wir wieder am Anfang wären), darüber scheinen sich Heritage & Co. keine allzu großen Gedanken zu machen …

Doch unabhängig davon: Wie effektiv sind eigentlich die existierenden US-Raketenabwehrkapazitäten, in die Washington in den letzten 70 Jahren insgesamt 350 Milliarden US-Dollar investiert hat?

Eine im Februar 2022 veröffentliche Studie („Ballistic Missile Defense: Threats and Challenges“) der renommierten Amerikanischen Physikalischen Gesellschaft (APS) kommt diesbezüglich zu einem eher ernüchternden Fazit: Selbst auf einen hypothetischen nordkoreanischen Nuklearschlag mit einer technisch nicht besonders komplexen Hwasong-15-Rakete seien die USA nicht wirklich vorbereitet. Die Studie untersuchte die Fähigkeiten folgender Systeme:

  • des sogenannten Bodengestützten Raketenabwehrsystems für die mittlere Flugphase (Ground-Based Midcourse Defens, GMD) mit Abfangkomponenten der nächsten Generation (Next Generation Interceptors, NGI);
  • des Aegis-Systems der Kriegsmarine (dessen landgestütztes Pendant inzwischen in Rumänien und Polen stationiert ist – siehe ausführlicher Blättchen 4/2019 sowie 5/2019) und des THAAD-Systems des Heeres;
  • Abwehrmittel zur Bekämpfung von Raketen in ihrer Start-Phase, die entweder kinetische oder Energiewaffen verwenden.

Nach Meinung der Autoren, darunter so bekannte Wissenschaftler wie Fred Lamb, James Wells oder Laura Grego, werde keines dieser Systeme mittelfristig real einsatzfähig sein.

GMD bleibe ein schlecht getestetes System, das sich insbesondere beim Erkennen von Täuschkörpern schwertue. Daran dürften nach Auffassung der Experten auch das unlängst auf der Clear Weltraumwaffenbasis (Alaska) installierte Fernbereichsunterscheidungsradar (LRDR) und erst recht nicht die seit 2006 im Pazifik mehr schlecht als recht arbeitende schwimmende mobile Radarstation (SBX) etwas ändern.

Auch die für 2028 angekündigten nächsten 21 NGIs würden die Gesamtsituation nicht merklich verbessern. Gedacht als Ergänzung zu den bereits existierenden 40 Abfangraketen in Alaska sowie den vier weiteren in Kalifornien, blieben, laut MIT-Nuklearexpertin Grego, auch sie in hohem Maße unfähig, zwischen Sprengköpfen und Täuschkörpern zu unterscheiden.

Nicht zuletzt deshalb setzt man insbesondere seit Trump wieder verstärkt auf Technologien zur Vernichtung gegnerischer Raketen in ihrer Startphase, in der diese (angeblich) noch relativ langsam fliegen und noch keine Täuschkörper ausgestoßen hätten. Allerdings ist diese sogenannte Boost-Phase sehr kurz (drei bis fünf Minuten, je nach Raketentyp), was ein extrem schnelles Vorgehen erfordert. Energiewaffen gelten diesbezüglich von jeher als erste Wahl. Und auch wenn MDA-Repräsentanten wie Laura DeSimone behaupten, in jüngster Zeit habe es „reale Fortschritte“ bei Laser-Waffen gegeben, bleibt Astrophysiker Lamb skeptisch: Boost-Phase-Laser-Waffen, installiert auf Flugzeugen, Drohnen oder Weltraumplattformen seien bis 2037 (dem Zeithorizont der erwähnten APS-Studie) technisch nicht machbar. Und ergänzend fügt er hinzu: Weltraumgestützte Abfangsysteme erforderten mindestens 400 Plattformen, um eine einzige nordkoreanische Flüssigkeitsrakete abzufangen; zehn derartige Raketen, als Salve abgefeuert – mindestens 4000. Und um auch nur eine technisch anspruchsvollere Feststoffrakete (an deren Entwicklung Pjöngjang dem Vernehmen nach arbeite) abzufangen – ganze 1600 …

Eines freilich dürfte unbestritten sein: Die wirkliche Tragweite der Raketenabwehrpläne Washingtons wird erst dann deutlich werden, wenn sich der Debattennebel um die Zukunft des US-amerikanischen Militärs insgesamt gelichtet hat. Nur eines lässt sich derzeit mit Sicherheit sagen – die Einbeziehung des erdnahen Raums in der militärischen Gesamtplanung läuft auf vollen Touren. Eine diesbezüglich wichtige Wortmeldung kam im Juni 2023 vom Chef der US Space Force, Chance Saltzman: Künftig, so der General in einem Memo an seine Mitarbeiter, käme es nicht nur darauf an, US-Satelliten zu schützen, sondern aus dem Weltraum heraus US-Land-, See- und Luftstreitkräfte gegen weltraumbasierte Angriffe anderer Staaten zu verteidigen. Damit sprach sich Saltzman faktisch erstmals für den Einsatz offensiver Weltraumwaffensysteme aus.

Schützenhilfe bekam er dabei vom Planungschef des US-Weltraumkommandos, Generalmajor David Miller: „Wir müssen aufhören zu debattieren, ob der Weltraum eine Kriegführungszone [warfighting domain – P.L.] ist oder ob dort Waffen sind; lieber sollten wir uns die Frage stellen, wie wir […] deutlich machen, dass wir in der Lage sind, sie [Konflikte im Weltraum – P.L.] zu gewinnen.“

Miller erklärte dies im Sommer 2023 bei der Präsentation eines Papiers des Washingtoner Mitchell-Instituts für Luft und Raumfahrtstudien. Im Mittelpunkt des Papiers: die Frage nach „space superiority“, das heißt nach Wegen, wie die USA den Weltraum dominieren können: Die USA, so der Autor der Studie, Ex-Space-Force-Oberst Charles Galbreath, müssten als ersten Schritt ihre nationale und Militärpolitik novellieren, die Führung bei der Entwicklung von Kapazitäten für den militärischen Kampf im Weltraum übernehmen. Nötig sei des Weiteren eine militärische Architektur, die nicht nur boden-, luft-, see- und weltraumgestütze Waffen zur Bekämpfung etwa chinesischer Weltraumsysteme umfasse, sondern auch US-Militärsatelliten mit eigenen Verteidigungssystemen vorsehe.

Mit diesen Empfehlungen knüpfte Galbreath ohne größere Mühe an die SDI-Debatten der späten 1980er Jahre an. Der zentrale Gegner mag mit China heute ein anderer sein. Die Logik freilich ist dieselbe geblieben, befeuert durch gewisse technologische Fortschritte etwa bei Computern, Satelliten und Trägermitteln.