26. Jahrgang | Nummer 15 | 17. Juli 2023

Bemerkungen

Menschenwürde und Justizvollzug

 

Der kürzlich erschienene Jahresbericht 2022 der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter zeigt, dass es in deutschen Haftanstalten nach wie vor zu Verletzungen der Menschenwürde von Gefangenen kommt.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, lautet der erste Absatz in Artikel 1 unseres Grundgesetzes. Er stellt die Menschenwürde somit an prominente Stelle. Zugleich wird ein Leitbild formuliert, das unsere Verfassung prägt. Nach dem Willen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE Band 156, 63) liegt eine Verletzung dieser Würde immer dann vor, wenn der Mensch zum bloßen Objekt des Staates gemacht oder einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell infrage stellt. Gleichzeitig bindet Artikel 1 Absatz 3 des Grundgesetzes alle staatliche Gewalt, also auch die Vollzugsbehörden, an die Garantien der Grundrechte. Menschen in Haft bleiben somit Grundrechtsträger. Ihre Menschenwürde gilt es zu achten und zu wahren.

Ob und inwiefern diese verfassungsrechtlichen Vorgaben in deutschen Haftanstalten tatsächlich praktisch umgesetzt werden, dazu äußert sich der oben erwähnte Jahresbericht. Im Jahr 2022 besuchte die Nationale Stelle bundesweit 17 Justizvollzugsanstalten. Auf Basis der erworbenen Erkenntnisse über die Lage der Gefangenen spricht die Nationale Stelle Empfehlungen an die Bundesländer aus. Zwei Schilderungen im Bericht lassen dabei besonders aufhorchen.

Unter dem Punkt „Besondere Sicherheitsmaßnahmen“ wird zunächst die sogenannte Absonderung als Maßnahme diskutiert. Absonderung bedeutet die „vollständige Isolierung von allen Mitgefangenen“. Über die vollzugspraktische Umsetzung und die Dauer dieser Absonderungen heißt es im Bericht: „Bei den Besuchen mehrerer Justizvollzugsanstalten und der damit verbundenen Einsicht in die Dokumentationen fielen der Nationalen Stelle unausgesetzte Absonderungen auf, die über Monate oder – wie es in den Justizvollzugsanstalten Ravensburg und Dresden der Fall war – in einzelnen Fällen sogar über Jahre hinweg andauerten. Im Rahmen einer unausgesetzten Absonderung verfügen die Gefangenen häufig lediglich über die Gelegenheit eines einstündigen Hofgangs täglich und müssen die übrigen 23 Stunden in den jeweiligen Haft- bzw. Absonderungsräumen verbringen.“

In einigen Anstalten werden Menschen also monate-, teilweise jahrelang abgesondert und müssen unmenschlich lange in Einzelhaft leben; ein beeindruckendes Zeugnis lieferte vor Jahren auch die taz. Unter dem Titel „Lebendig begraben“ schilderte sie 2011 das Leben eines in Einzelhaft inhaftierten Menschen.

Darüber hinaus spricht der Jahresbericht die Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum an. In diesem Haftraum werden vor allem renitente Gefangene aus Sicherheitsgründen vorübergehend untergebracht. Er ist – auch aus Sicherheitsgründen – karg ausgestattet. Was das in der Praxis bedeuten kann, schildert der Bericht wie folgt:

„In nahezu allen besuchten Justizvollzugsanstalten waren die besonders gesicherten Hafträume lediglich mit einer am Boden liegenden Matratze ausgestattet. Eine Sitzgelegenheit in geeigneter Höhe stand nicht zur Verfügung.“ Für die bayerische Haftanstalt Bernau ist gar von einem „Glaskäfig“ die Rede. Zudem wurde den Gefangenen als spezielle Bekleidung teilweise „lediglich ein Überzug, welcher in bestimmten Sitz- und Hockpositionen, den Intimbereich der betroffenen Person nicht bedeckte, eine Papierunterhose bzw. Kleidung aus durchsichtigem Stoff, durch den der Intimbereich erkennbar war, ausgehändigt“.

Wenn Menschen in durchsichtiger Stoffkleidung in einen Glaskäfig gesperrt werden, dann ist es mit der Menschenwürde im Vollzug nicht weit her. Auch ist man fast geneigt zu glauben, dass ein sogenannter Schäbigkeitswettbewerb der Bundesländer, wenn auch nicht allgemein, im Bereich der „Besonderen Sicherheitsmaßnahmen“ dennoch stattfindet.

Kurzum, der Bericht der Nationalen Stelle macht schockierend deutlich klar: Es besteht weiterhin dringender Handlungsbedarf, um die Menschenwürde hinter Gittern zu wahren.

Lorenz Bode

 

Priamos‘ Jüngste

von Eckhard Mieder

Die jüngste Tochter aber des Königs von Troja
haben sie übersehen, sie alle, die marodierenden
Sieger, die knapp Entflohenen, die Erzähler, die
Interpreten, sie alle haben vergessen
die Blüte Trojas.

 

Sie ging nicht unter.
Sie welkte nicht.
Sie stand stumm zwischen den Meeren
mit den riesigen Augen, in denen
alles versank, alles auferstand,
alles
seinen Gang ging.

Sie trug einen Namen, den niemand mehr weiß.
Homer nahm sie nicht auf mit der Kamera
für seinen Horrorfilm; im langen Abspann
ist nichts vermerkt. Schliemann fand ein
zerschlissenes Kleidchen, das er
in den Müll warf; da war nichts zu holen
an Deutung, Bedeutung, Symbolik, Triumph.

Sie geht nicht unter.
Sie welkt nicht.
Sie steht stumm zwischen den Meeren
mit den riesigen Augen, in denen
alles versinkt, alles aufersteht,
alles
seinen Gang geht.

Juni 2023

 

Die CSU – ein toxisches Biotop

 

Nun müssen wir Steuerzahler also knapp eine Viertelmilliarde Euro an die Betreiberfirma Autoticket zahlen, weil der damalige Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) die Verträge zum Eintreiben der seinerzeit geplanten Ausländer-Maut auf Autobahnen unbedingt vor Abschluss der rechtlichen Bewertung des Vorhabens durch den EuGH abschließen musste. Der EuGH hat das Vorhaben bekanntlich 2019 gekippt, so dass die Verträge wieder zu kündigen waren. Was umgehende Schadenersatzforderungen von Autoticket nach sich zog. Dafür sind jetzt genau 243 Millionen Euro zu berappen, die für dringend notwendige Infrastrukturinvestitionen somit nicht mehr zur Verfügung stehen. (Das Gute im Schlechten: Haben wollte Autoticket ursprünglich das Doppelte.)

Doch das sind Peanuts im Vergleich zum Großdesaster Deutsche Bahn, das ebenfalls weitgehend die bayerische Splitterpartei angerichtet hat. Der Staatskonzern sollte fit gemacht werden für Privatisierung und Börsengang und wurde daher durch Sparen, bis es quietscht, auf Profit getrimmt: durch Stillegung von knapp 20 Prozent aller früheren Strecken, wobei Groß- und Mittelstädte vom Fernverkehr einfach abgekoppelt wurden, durch Schließung von Bahnhöfen, durch rigorosen Personalabbau. Fuhrpark und Verkehrswege wurden auf Verschleiß und damit direkt an die Wand gefahren. 50 Prozent aller Weichen wurden außer Dienst gestellt, so dass Züge nun nicht mehr ausweichen können, wenn vor ihnen einer liegen bleibt. Und so weiter und so fort. Wer als Reisender heute noch eine Routenführung mit Umsteigen wählt, dem ist wahrlich nicht mehr zu helfen. Besser mit dem ICE 613 direkt von Bremen nach München. Dauert zwar fahrplanmäßig irrsinnige acht Stunden und acht Minuten, wozu sich schon mal 74 Minuten Verspätung addieren können, aber wenigstens nicht stundenlang in Hannover auf den verpassten Anschluss gewartet, weil der ICE in Bremen bereits mit über 20 Minuten Verspätung gestartet war. Das ist heutiger normaler Horroralltag auf der Schiene.

Verantwortlich – in erster Linie die Bundesverkehrsminister. In den für die Verkehrswende wegweisenden Jahren 2009 bis 2021 waren das, in der Reihenfolge ihrer Ernennung: Peter Ramsauer, Alexander Dobrindt, Christian Schmidt und Andreas Scheuer. Alle aus Bayern, alle von der CSU und „alle sehr selbstbewusste, für Kritik kaum empfängliche Super-Egos, wie sie die CSU seit Jahren und Jahrzehnten in beachtlicher Schlagzahl respektive Taktung hervorbringt“ (Süddeutsche Zeitung).

Eine nicht nur zeitgemäße, sondern überfällige Forderung an die Bundesregierung kann daher nur lauten: wegen fortgesetzter schwerster Schädigung des deutschen Volkes – Verbot der CSU.

Und zwar – pronto!

Hannes Herbst

 

Van der Lubbe unter Drogen?

 

Uwe Soukup, der Autor des unlängst im Blättchen besprochenen Buches über den Reichstagsbrand, hat jetzt in Die Zeit darüber berichtet, dass die Stadt Leipzig die Obduktionsergebnisse zu Marinus van der Lubbe veröffentlichte, dessen Gebeine im Januar 2023 ausgegraben wurden.

Die Identität konnte sicher nachgewiesen werden, da man im Sarg unter anderem den vom Fallbeil durchtrennten Halswirbel van der Lubbes gefunden hatte; letzte Sicherheit gab ein DNA-Abgleich mit dem Enkel eines Bruders van der Lubbes. Die sterblichen Überreste und auch der Sarg waren erstaunlich gut erhalten geblieben, was auf den lehmigen Boden zurückzuführen ist. Spuren von Drogen, die van der Lubbe möglicherweise mit der Nahrung verabreicht wurden, konnten aber nach 90 Jahren Liegezeit nicht mehr festgestellt werden. Das bedeute jedoch keinesfalls, so Soukup, dass es diese nicht gegeben hat. „Eine andere Erklärung für den bemitleidenswerten Zustand van der Lubbes während der Verhandlung als eine Vergiftung ist nur schwer vorstellbar. Wäre der Nachweis toxischer Substanzen gelungen, hätte dies ein neues Licht auf die manipulativen Hintergründe des damaligen Schauprozesses geworfen.“

Dr. Bernd Kopetz, renommierter Rechtsmediziner aus Bad Saarow, schrieb kürzlich dazu: „Auch wenn in den Knochen des Täters Substanzen gefunden worden wären, ergibt sich die Frage, um welche Stoffe handelt es sich, wie könnten sie die Psyche eines Lebenden beeinflussen, welche Medikamente hat der Verurteilte zu Lebzeiten eingenommen, ist es auszuschließen, dass nach 90-jähriger Liegezeit irgendwelche Substanzen aus der unmittelbaren Umgebung diffundiert oder eingeschwemmt wurden und wie würden sich die Substanzen nach 90-jähriger Erdgrabliegezeit auf natürlichem Wege verändern? Psychische Auffälligkeiten müssen unter den gegebenen Umständen nicht unbedingt auf eine Substanzbeeinflussung zurückzuführen sein, sondern können allein auf die Haft- und Verhörsituation bezogen werden, auch unter dem Aspekt einer Disposition der Täterpersönlichkeit.“

Dem ist nur hinzuzufügen, dass die These, Marinus van der Lubbe habe ganz allein den Reichstag angezündet, schon durch das Buch von Uwe Soukup exzellent ad absurdum geführt worden ist. Dazu braucht es keinen zusätzlichen Drogennachweis.

Gerhard Jaap

 

Biografie im Taschenformat

 

Er war sicher der Schauspieler mit der längsten Filmkarriere der Welt: Curt Bois. 1901 in Berlin-Schöneberg als Spross einer jüdischen Familie geboren, feierte er bereits als Siebenjähriger ein vielbeachtetes Bühnendebüt als Heinerle in Leo Falls Operette „Der fidele Bauer“, stand im selben Jahr in dieser Rolle vor der Filmkamera und wurde damit der erste deutsche Kinderstar. In der Reihe „Jüdische Miniaturen“ (Band 302) hat der Publizist und Film- und Fernsehwissenschaftler F.-B. Habel die Lebensstationen von Curt Bois in sechs Kapiteln kompakt und doch umfassend nachgezeichnet – von der Kindheit in einer Familie assimilierter Juden bis zu seinen letzten Auftritten und seinem Tod am ersten Weihnachtstag 1991.

Nach seiner Rolle als Wunderkind flatterten weitere Angebote ins Haus Bois. Curt wurde bald zum Hauptverdiener der Familie. Nach dem Ersten Weltkrieg begann seine eigentliche Karriere als „Komiker neuen Typs“. In den 1920er Jahren spielte er in vielen Filmen und wurde Liebling des Berliner wie auch des Wiener Publikums. Eine Paraderolle war „Charleys Tante“. Mit der Machtübernahme endete die Erfolgsserie von Bois, der daraufhin mit seiner Frau Hedi nach einer Odyssee ins amerikanische Exil ging. In New York wirkte er 1935/36 in einigen Inszenierungen am Broadway mit, zog dann aber nach Hollywood. Mit der Hilfe bereits etablierter Emigranten fiel ihm der Einstieg ins US-Filmgeschäft nicht allzu schwer. So spielte er bis 1950 in 45 amerikanischen Kinofilmen und einer frühen TV-Serie mit. In kleinen bis mittleren Rollen stellte Curt Bois meist Europäer dar (darunter in „Casablanca“).

Nach der Rückkehr 1950 zog das Ehepaar zunächst nach Ost-Berlin. Doch am Deutschen Theater und beim Berliner Ensemble bekam Bois nur Stückverträge. Daher ging er 1954 nach West-Berlin, wo er aber zunächst boykottiert wurde. Die Rettung war schließlich Fritz Kortner, der ihn in mehreren seiner Inszenierungen besetzte. Die 1960er Jahre brachten dann zahllose Erfolge, sowohl auf der Bühne als auch vor der Kamera. Später wirkte Bois sowohl in Ost (u.a. am Berliner Ensemble oder an der Staatsoper) wie in West. Später Höhepunkt in Bois‘ Filmlaufbahn sollte der Wim-Wenders-Film „Der Himmel über Berlin“ (1987) an der Seite von Bruno Ganz und Otto Sander werden. Für seine Rolle des witzigen Geschichtenerzählers Homer wurde er mit dem Europäischen Filmpreis geehrt. Am 25. Dezember 1991 starb Curt Bois in Berlin.

Die Leser sollten sich von dem kleinen Format und dem schmalen Umfang nicht täuschen lassen. Eine wunderbare Darstellung über einen der größten deutschsprachigen Komiker, den Kritiker in eine Reihe mit Charlie Chaplin, Buster Keaton und Harold Lloyd stellten. Warum? Lesen Sie selbst! Außerdem versteht es Habel, in die Biografie auch die deutsche Theater- und Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts einfließen zu lassen.

Manfred Orlick

Frank-Burkhard Habel: Curt Bois – Schauspieler in zehn Jahrzehnten, Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin / Leipzig 2023, 86 Seiten, 8,90 Euro.

 

Diskriminierung der Mehrheit?

 

Allenthalben beklagt wird von Politik, Fachverbänden sowie in den Medien im Lande ein fast schon ubiquitär wirkender – Fachkräftemangel. Hauptursache – die Demografie: zu viele gehen in Rente respektive Pension, zu wenige wachsen nach. Verschlimmert werden dürfte das Dilemma jedoch durch woke Stellenanzeigen, deren Abschreckungspotenzial allerdings noch einer wissenschaftlichen Aufarbeitung harrt. Da heißt es dann zum Beispiel in einem Angebot der Alice Salomon Hochschule in Berlin (ASH Berlin) für „eine drittmittelgeförderte Stelle […]: Angestellte (m/w/d) für Öffentlichkeitsarbeit und Beteiligung von Studierenden im Projekt alice gesund (Entgeltgruppe 9 TV-L) Kennzahl 44/2023 mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 19,8 h / 50 %“: „Die ASH Berlin schätzt die Vielfalt ihrer Mitglieder und verfolgt die Ziele der Chancengleichheit. Anliegen ist es, die Diversität der Hochschulangehörigen zu erhöhen und sie an die Zusammensetzung der Berliner Stadtgesellschaft, besonders mit Hinblick auf Migrationsgeschichte, anzugleichen. Die ASH Berlin erwünscht daher ausdrücklich Bewerbungen von Menschen, die von intersektionaler Diskriminierung betroffen sind. BIPoC, Menschen mit Migrationsgeschichte und Antisemitismus-/Rassismuserfahrungen, Frauen, trans-, intergeschlechtliche und (andere) nicht-binäre Personen werden nachdrücklich eingeladen sich zu bewerben. BIPoC, Menschen mit Migrationsgeschichte und Antisemitismus-/Rassismuserfahrungen werden bei entsprechender Eignung besonders berücksichtigt.“

Könnte man wohl einfach auch mit dem Zusatz versehen: Wer keiner Minderheit angehört, braucht sich eigentlich gar nicht zu bewerben.

Hans-Peter Götz

 

Eine Rechtspflegerin in der Spur

 

„Nichts ist so spannend wie Menschen, die sich in Luft auflösen. Sie gehen aus dem Haus, um Milch zu kaufen, und kommen nie zurück.“ Das sagte einst der berühmte Kommissar Kurt Wallander in Henning Mankells Kriminalroman „Mord im Herbst“. Nicht bekannt ist, ob die Frau aus Lichterfelde unterwegs war, um Milch zu kaufen. Aber der Fall ist überaus spannend, vor allen Dingen der Weg seiner Aufklärung.

Denn erst nach acht Jahren war eine bisher unbekannte tote Frau in Berlin identifiziert worden, wie die Berliner Zeitung am 23. November 2022 berichtete. Und zwar nicht durch die Polizei, die eine eigene Vermisstenstelle betreibt, sondern durch eine Rechtspflegerin! Nur sie löste das Rätsel um die unbekannte Wasserleiche, die am 25. Februar 2014 im Teltowkanal in Berlin-Steglitz gefunden worden war. Eine Identifizierung der Frau gestaltete sich damals sehr schwierig, denn sie hatte zwei bis vier Wochen im Wasser gelegen.

Im Jahr 2022 wurde nun bei einer Testamentseröffnung für zwei Brüder eine verschollene Schwester erwähnt. Die zuständige und sehr umsichtige Rechtspflegerin wies darauf hin, dass auf der Internetseite der Polizei das Foto einer unbekannten Toten veröffentlicht sei, die die Schwester sein könnte. Durch einen DNA-Abgleich mit den Brüdern konnte bewiesen werden, dass die Tote die damals 51-jährige Frau aus Lichterfelde war.

Das wirft viele Fragen auf. Wurde die Schwester von den Brüdern nicht der Polizei als vermisst gemeldet? Was wissen die Brüder vom Verschwinden ihrer Schwester? Warum konnten die Beamten der Vermisstenstelle den Fall nicht lösen?

Die Rechtspflegerin beherrschte jedenfalls das kriminalistische Denken perfekt. Sie wusste, dass im kleinsten Räderwerk unseres Denkens nur eine einzige Frage die Grundfesten unserer Erklärungen sprengen kann, und sollte als Dozentin für Kriminalistik eingesetzt werden, damit Identität nicht ein Begriff unfassbarer Metaphysik bleibt.

F.-R. Schurich

 

Weltmusik in Rudolstadt und Nürnberg

 

Zwei traditionsreiche Musikfestivals fanden bzw. finden im Juli 2023 ihre Fortsetzung. Im thüringischen Rudolstadt gab es vom 6. bis 9. Juli die mittlerweile 31. Auflage des Rudolstadt Festival, dessen Ursprünge weit in die DDR-Zeit zurückreichen: Denn 1955 fand hier das „1. Fest des deutschen Volkstanzes“ statt und entwickelte sich in den Folgejahren zu einem Tanz- und Folklorefest, zu dem auch zahlreiche Gruppen aus Osteuropa anreisten.

Bereits zum 46. Mal findet an verschiedenen Spielstätten in der fränkischen Metropole Nürnberg vom 21. bis 23. Juli 2023 das Bardentreffen statt. Der Name mutet fast schon antiquiert an; es ist schon verwunderlich, dass hier noch kein moderne anglizistische Wortschöpfung für eine neue Namensgebung gesorgt hat.

Beide Musikwochenenden bieten Weltmusik satt. Nun ist der Begriff Weltmusik auch zu einer Schublade geworden, in die alles gepackt wird, was nicht offensichtlich in die Rock-, Pop-, Jazz- oder Klassikschublade passt. Und so finden sich hier klassische Liedermacher, jiddische Musik, harte Beatrhythmen, wilde Tanzmusik …in unterschiedlichsten Sprachen und auch instrumental. Der Rezensent verzichtet hier ausnahmsweise auf die Benennung persönlicher Anspieltipps. Gerade die Unterschiedlichkeit ist der Pluspunkt beider CD-Zusammenstellungen, die beide durch das ambitionierte Zeitschriftenprojekt Folk Galore erfolgten.

Wessen Gehörgänge nicht bereits durch die alltäglich abgenudelten Welthits seitens der großen Radiosender verstopft sind, der kann sich – zu einem wahrlichen Sonderpreis – höchst vielfältige wie unterhaltsame Hörerlebnisse gönnen. Etwas spartanisch sind leider die Band- und Musikinfos in den CD-Booklets. Wer hier mehr erfahren möchte, der sollte sich zusätzlich die aktuelle Ausgabe der Folk Galore gönnen.

Thomas Rüger

Various Artists: „Rudolstadt Festival 2023“, DoCD, Label Folk Galore 2023, 13,00 Euro. Various Artists: „Bardentreffen 2023“, CD, Label Folk Galore, 12,00 Euro.

 

Film ab

 

Mit knapp 300 Millionen US-Dollar Produktionskosten und vermutlich weiteren 100 Millionen für Marketing ist es einer der teuersten Filme ever. Und um es gleich vorweg zu sagen: Nimmt man als Maßstab das formidable, von Kritik und Publikum gleichermaßen weggelachte Desaster, als das sich vor 15 Jahren bereits der vierte Aufguss der Indiana Jones-Reihe („Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels“) erwiesen hatte, so muss der Ende Juni angelaufene fünfte Streifen – „Indiana Jones und das Rad des Schicksals“ – den Vergleich keinesfalls scheuen. Zwar hat Altmeister Steven Spielberg dieses Mal vorsorglich darauf verzichtet, selbst noch einmal Regie zu führen. Allerdings – ein cineastisches Genie wie der junge Spielberg mit seinen ersten drei Filmen dieser Reihe (1981, 84 und 89) ist James Mangold, der jetzige Regisseur, leider auch nicht. Und so bekommt der Zuschauer wieder nichts geboten, was ihm die Indy-Filme nicht schon viel besser offeriert hätten: irrwitzige Verfolgungsjagden, unglaubliche Stunts und permanente Lakonie des Hauptdarstellers Harrison Ford. Dem Fass die Krone vom Haupt schlägt überdies eine Handlung, die so offensichtlich jeder Logik Hohn spricht, dass darauf im Detail einzugehen sich nachgerade verbietet. Trotzdem wird das Ganze durch das hanebüchene Ende der Story sogar noch getoppt. Unglaublich.

„Indiana Jones und das Rad des Schicksals“, Regie und Drehbuch (Mit-Autor): James Mangold; derzeit in den Kinos.

*

Die Heisenbergsche Unschärferelation gehört zur Quantenphysik und besagt, dass zwei komplementäre Eigenschaften eines Teilchens nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmbar sind – nicht wegen unzulänglicher Messinstrumente, sondern wegen des Wellencharakters der Materie, also aus prinzipiellen Gründen. Etwas verständlicher als in dieser Definition wird das Phänomen zwar auch in einer Szene des neuen Filmes von Lars Kraume erläutert, doch wer das überhört oder auf die Schnelle doch nicht versteht, der erlebt trotzdem das faszinierende Kammerspiel zweier großartiger Schauspieler, Caroline Peters als Schulsekretärin mit pathologischer Eloquenz und Burghart Klaußner als Fleischermeister mit Hang zum Grübeln, um einen Anflug von Liebe in höherem Lebensalter. Mit durchaus ungewissem Ausgang.

Schauspieler müssen sich ja manches zumuten lassen – von übergriffigen Fans bis zu dusseligen Pressefragen. In einem anlässlich des Films geführten Interview mit Klaußner, der das dem Streifen zugrundliegende Theaterstück bereits in Düsseldorf angeregt und dann mit großem Publikumszuspruch gegeben hatte, findet sich folgende Passage: „Allerdings ist die Reduzierung des Fleischkonsums ein Thema unserer Tage, auch wegen des Klimawandels. Ist es mutig, dann einen Metzger zu spielen? Wenn das schon Mut sein soll, wo wollen wir den denn hernehmen, wenn wir ihn wirklich mal brauchen? Das ist doch lächerlich. Haben Sie, hat niemand in der Produktion überlegt, ob der Mann nicht besser Gemüse verkaufen sollte? Nein. Außerdem ist das Thema ja durchaus präsent: Die einzige sichtbare Kundin im Film, gespielt von Carmen-Maja Antoni, will im Auftrag ihrer Tochter veganes Hack kaufen.“

„Die Unschärferelation der Liebe“, Regie und Drehbuch (Mit-Autor): Lars Kraume; derzeit in den Kinos.

Clemens Fischer

 

Die Müllecke

 

Wie die Berliner Zeitung berichtete, hätten die Behörden der litauischen Hauptstadt den Bewohnern der Stadt geraten, diese wegen der drastischen Sicherheitsvorkehrungen während des NATO-Gipfels zu verlassen. Das Volk gehorchte wohl murrend, aber es gehorchte. Was für Vilnius neu ist, ist für Berlin gang und gäbe. Kein vernunftbegabter Hauptstädter hält sich im City-Bereich auf, wenn dort irgendein Großereignis angekündigt ist. Geradezu genetisch bedingt geht das alles nur am Brandenburger Tor, respektive dem „17. Juni“. Egal, ob es sich um Gipfeltreffen, Riesenpartys – oder mit legitimen Sicherheitsinteressen verbundene Staatsgäste wie Joe Biden oder die Stones handelt, wir meiden freiwillig solche Bereiche. Leider kriegen wir am Abend, wenn alles aus dem Brandenburgischen oder sonstwoher zurückschwemmt, auf den Zufahrtsstraßen die Retourkutsche zu spüren.

Vielleicht sollte man – zum Beispiel in Tegel oder auf dem Tempelhofer Feld – bevölkerungsfreie City-Kopien aufbauen, die nur für solche Events benutzt werden dürfen? Auch die Sicherheitsfragen ließen sich dann sehr leicht lösen. Und wer dann da noch in der Nähe wohnt ist selber dran schuld.

GH

 

Aus anderen Quellen

 

Dass die Feinde unserer Feinde quasi automatisch zu Freunden mutieren, wenn die Umstände sich ändern, gilt offensichtlich auch für die berüchtigte ukrainische Asow-Gruppierung. Dazu Lev Golinkin in The Nation, dem ältesten US-Magazin: „Im Jahr 2018 hatte der The Guardian einen Artikel mit dem Titel ‚Neonazi-Gruppen rekrutieren Briten für den Kampf in der Ukraine‘ veröffentlicht, in dem das Asow-Regiment als ‚die berüchtigte ukrainische faschistische Miliz‘ bezeichnet wurde. Noch im November 2020 bezeichnete der The Guardian Asow als ‚extremistische Neonazi-Bewegung‘.“ Doch nach dem russischen Überfall auf die Ukraine „versicherte der The Guardian seinen Lesern, dass die Asow-Kämpfer ‚jetzt die Verteidigung von Mariupol anführen und darauf bestehen, dass sie ihre frühere zweifelhafte Politik abgelegt haben und schnell zu ukrainischen Helden geworden sind‘. Die Kampagne, die angeblich britische rechtsextreme Aktivisten rekrutierte, gehörte nun der Vergangenheit an.“

Lev Golinkin: The Western Media Is Whitewashing the Azov Battalion, The Nation, 13.06.2023. Zur deutschen Übersetzung hier klicken.

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„Die Bundesregierung bereitet den nächsten Schritt beim Ausbau der deutschen Militärpräsenz im Baltikum vor und kündigt die dauerhafte Stationierung einer Brigade in Litauen an“, wird auf der Website german-foreign-policy.com festgestellt und zum Hintergrund informiert: „Die Kontrolle der Ostseeregion werde ‚in einer nicht mehr auszuschließenden Konfrontation‘ mit Russland ‚eine militärische Priorität für alle Beteiligten‘ sein, urteilen Strategen der vom Kanzleramt finanzierten Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Noch habe Russland ‚legitime Rechte‘, die ‚lebenswichtigen Seeverbindungslinien in der Ostsee zu seinen Gebieten zu nutzen‘. Komme es allerdings zu einem ‚bewaffneten Konflikt‘, könne sich dies ‚dramatisch ändern‘.“

Einflusskampf im Baltikum, german-foreign-policy.com, 06.07.2023. Zum Volltext hier klicken.

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Alois Brunner, so Konrad Litschko, war einer „der schlimmsten NS-Verbrecher. Der Österreicher und einstige SS-Hauptsturmführer war die rechte Hand des Holocaust-Organisators Adolf Eichmann, er soll an der Ermordung von Zehntausenden Jüd*innen beteiligt gewesen sein – und konnte sich bis zu seinem Tod verstecken.“ Letzteres gelang, weil der westdeutsche Verfassungsschutz zwar schon ab 1960 über den Verbleib von Brunner Bescheid“ wusste, diese Erkenntnisse jedoch seinerseits unter Verschluss hielt.

Konrad Litschko: Quellenschutz für NS-Schergen, taz.de, 30.06.2023. Zum Volltext hier klicken.

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„Es ist verständlich, dass wir bei den groß angelegten Tarnungs- und Bluffmanövern des putinschen Regimes das Kriegspotenzial Russlands nicht richtig eingeschätzt haben. Erst jetzt offenbart es sich uns in seiner ganzen wilden Größe. Dementsprechend ist auch der Kampf, den die ukrainischen Soldaten im Osten zu bestehen haben, über alle menschlichen Vorstellungen hinaus hart, schwer und gefährlich. Er erfordert die Aufbietung ihrer ganzen nationalen Kraft. Hier ist eine Bedrohung der Ukraine und des europäischen Kontinents gegeben, die alle bisherigen Gefahren des Abendlandes weit in den Schatten stellt“, schrieb Thomas Arnold an das Diskussionsforum der allsonntäglichen Anne-Will-Talkshow. Sein Beitrag wurde anstandslos publiziert. Nur dass die Passage, von kleinen Aktualisierungen abgesehen, Goebbels‘ berüchtigter Sportpalast-Rede („Wollt ihr den totalen Krieg […]?“) entnommen war. Anschließend „outete“ sich der Diskutant gegenüber der Redaktion des Forums: „Es ist erschreckend, dass die Redaktion meinen Text freigegeben hat und noch erschreckender, dass Leser […] ihm womöglich zustimmen. Warum? – Es handelt sich um ein nahezu wörtlich wiedergegebenes Zitat des Reichspropagandaministers Josef Goebbels […]. Sind wir wieder so weit, dass die Worte eines der größten deutschen Naziverbrecher gesellschaftsfähig sind?“ Die Redaktion veröffentlichte daraufhin nicht etwa auch das „Outing“, sondern nahm den ursprünglichen Text kommentarlos von der Website.

Anne-Will-Diskussionsforum veröffentlicht von Goebbels entlehnten Text – und zuckt dann ohne Erklärung zurück, nachdenkseiten.de, 26.06.2023. Zum Volltext hier klicken.

Zusammengetragen von Wolfgang Schwarz.

Letzte Meldung

 

Die US-Kriege nach 9/11 forderten 4,5 Millionen Menschenleben – sowohl aufgrund direkter Kriegführung als auch wegen der dadurch bedingten schwerwiegenden Beeinträchtigungen für die Gesundheits- und Lebensmittelversorgung der Bevölkerung in Ländern wie Afghanistan, Irak und anderen. Das geht aus einer kürzlich veröffentlichten Studie der US-amerikanischen Brown University mit dem Titel „How Death Outlives War. The Reverberating Impact oft he Post-9/11 Wars on Human Health“ („Wie der Tod den Krieg überlebt. Die nachhallenden Auswirkungen der Kriege nach 9/11 auf die menschliche Gesundheit“) hervor.

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