Vor über 90 Jahren brannte in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 der Berliner Reichstag. Der Plenarsaal wurde völlig zerstört, die Seitenflügel wiesen aber wie durch ein Wunder nur kleinere Schäden auf. Als Einzeltäter wurde der arbeitslose, sehbehinderte holländische Anarchist Marinus van der Lubbe auf frischer Tat festgenommen, der mit vier Päckchen Kohlenanzünder der Marken „Feuerfix“ und „Fleißige Hausfrau“ sowie mit Streichhölzern hantierte und der – welche Inszenierung – sogar noch die Kaufquittung für die Kohlenanzünder bei sich trug. Alles mit dem Ziel, ihn der Welt als Teil einer „bolschewistischen Terrorbande“ präsentieren zu können.
Uwe Soukup hat in seinem Buch über den „Mythos Reichstagsbrand“ akribisch Tatsachen von Fiktionen unterschieden und kommt zu dem Ergebnis, dass van der Lubbe mit Sicherheit „Helfer“ hatte, die den Brand vorbereiteten und/oder selbst legten. Diese „Helfer“ sind geflohen, aber nicht ohne vorher dafür gesorgt zu haben, dass die alleinige Schuld auf van der Lubbe fiel – was seine inszenierte In-flagranti-Festnahme beweist.
Der gesamte von den Nazis behauptete Tatablauf kann sich gar nicht so zugetragen haben. Van der Lubbe, halb erblindet und gebehindert, soll bei Dunkelheit und Frost ohne Hilfsmittel an der Hauptfassade acht Meter hochgeklettert sein und ein doppeltes Sicherheitsglas mit seinen bestiefelten Füßen eingetreten haben – ohne sich an den Scherben zu verletzen. Zeugen dafür, dass es sich so und nicht anders zugetragen hatte, gab es nicht. Es sind einzig und allein van der Lubbes Aussagen, die die eifrigen Verfechter der Alleintätertheorie ungeprüft als Fiktion übernahmen und bis heute übernehmen.
Der damals 22 Jahre alte Student Hans Hinrich Flöter hatte gesehen, „wie ein Mensch mit einem lodernden Feuerbrand in der Hand auf dem Balkon des ersten Fensters rechts des Hauptportals […] stand und die Scheiben zerschlug. Allerdings weiß ich nicht, ob man dort stehend die Scheiben dann mit Hammer und Axt? – jedenfalls war die Person in heftiger Körperbewegung begriffen – zertrümmern kann.“ Aber es war dunkel, und er konnte nur erkennen, dass es ein Mann war. Die Geschichtsverfälscher machten daraus die Aussage, dass Flöter gesehen hätte, wie van der Lubbe mit dem brennenden Kohlenanzünder in den Reichstag einstieg. Was insofern ein Unding ist, weil jeder, der mit Kohlenanzünder gearbeitet hat, weiß, dass man ihn nach dem Anzünden sofort aus der Hand legen muss, um sich nicht zu verbrennen.
Um den Plenarsaal innerhalb von 20 Minuten total abzubrennen, reichte der mitgebrachte Kohlenanzünder jedenfalls nicht. Van der Lubbe müsste wie vom Wahnsinn befallen hin- und hergelaufen sein und an vielen Stellen Feuer entzündet haben – und dennoch ist das gewaltige Ausmaß der Brandschäden so nicht zu erklären. Es müssen also Mittäter am Werke gewesen sein. Auch die Feuerwehrleute vor Ort und die damaligen Brandgutachter gingen von mehreren Tätern aus.
Natürlich hatte man in der Geschichtsschreibung der BRD für diese merkwürdige Brandbeschleunigung mit anschließender Explosion eine Erklärung. Sven Felix Kellerhof von der Zeitung Die Welt hatte vor Jahren schon versucht, die Sache damit zu erklären, dass sich Rauchgase explosionsartig entzündet hatten („Backdraft“ in der Sprache der Feuerwehr). Soukup befragte den ehemaligen Berliner Landesbranddirektor Albrecht Broemme zu dieser Theorie. Dieser Experte stellte fest, dass es in dem riesigen Plenarsaal mit Sicherheit einen stundenlangen Schwelbrand bedurft hätte, um eine Rauchgasexplosion herbeizuführen. Es mussten größere Mengen von Brandbeschleunigern gegeben haben, was auch heißt, dass es mehrere Täter gab.
Die Interessen des Gegenwärtigen bestimmen die Art des Erinnerns und des Aufarbeitens. Das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel wollte 1959 die Alleintäterthese beweisen, und es bediente sich eines Beamten und Amateurhistorikers des westdeutschen Inlandgeheimdienstes Verfassungsschutz. Man entlastete ihn sogar arbeitsmäßig, weil der Beweis, dass van der Lubbe alleine gehandelt hatte, politisch im Klassenkampf eine entscheidende Rolle spielte.
Durch das Buch „Wir klagen an. 800 Nazi-Blutrichter – Stützen des Adenauer Regimes“, 1959 in Berlin (DDR) herausgegeben vom Ausschuss für Deutsche Einheit, wurde der Welt klargemacht, dass die Altnazis und Kommunistenhasser wieder auf dem Vormarsch waren. Fritz Tobias, der besagte niedersächsische Verfassungsschützer, hatte 1959 in einer Spiegel-Serie und dann in einem Buch die Einzeltäter-These „bewiesen“. Nach eigenen Aufzeichnungen handelte er im dienstlichen Auftrag zur Abwehr des Kommunismus. So begründete er seine zeitaufwändige Arbeit im März 1963 in einem Bericht an seine Vorgesetzten damit, dass „deren Bedeutung für den heutigen Abwehrkampf gegen die aus dem Osten herandrängende Propagandaflut unbedingt verstanden werden muss.“
Die Methoden von Tobias waren alles andere als seriös. Er erpresste beispielsweise konservative wissenschaftliche Kritiker mit seinem „Herrschaftswissen“ über ihre Nazivergangenheit und hatte mit Unterstützung von höchster Stelle, auch von Ministerpräsident Kopf, zu privaten Zwecken Auskünfte aus dem Berlin Dokument Center bekommen, wo die zentrale Mitgliederkartei der NSDAP lagerte. Und er hielt alles zurück, was seinen „Beweisen“ widersprach. „Juristisch“, schreibt Soukup, „nennt man so etwas Beweisunterdrückung.“
Der US-amerikanische Historiker Benjamin Carter Hett besuchte 2008 den hochbetagten Tobias und fragte ihn: „Warum die ganze Aufregung?“ Die Antwort war deutlich und knapp: „Sie denken, die Kommunisten sind weg? Ihr Staat ist weg, sie nicht.“
Der ehemalige SA-Mann Martin Lennings gab gegenüber Rechtsanwalt und Notar Paul Siegel schon 1955 eine eidesstattliche Erklärung ab, die erst in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung am 26. Juli 2019 als Ablichtung veröffentlicht wurde. Lennings war als sogenannter alter Parteigenosse mit SA-Chef Ernst Röhm befreundet. Er wurde einem SA-Sondertrupp zugeordnet und war zunächst ein Spitzel in Zivilkleidung.
Lennings erklärte eidesstattlich, dass man ihn am späten Nachmittag des 27. Februar 1933 nach Berlin-Mahlsdorf in das Lokal „Zum strammen Kater“ beorderte, wo schon zwei andere Kameraden des Trupps und ein Mann namens Max Becker warteten. Dieser zeigte seinen Sonderausweis und gab den drei Sondertrupplern den Befehl, einen Mann aus dem SA-Haus Lützowstraße abzuholen. Dort wurde ihnen der Mann mit den Worten übergeben: „Bringen Sie diesen Herrn van der Lubbe in den Reichstag.“ Lennings bemerkte, dass der Mann gehbehindert war und auch nicht gut sehen konnte. Während der Fahrt sprach van der Lubbe kein Wort. Es war völlig dunkel – die Zeit zwischen 20 und 21 Uhr. Der Wagen hielt am vorbestimmten Seiteneingang des Reichstages, durch den die SA-Leute den Gehbehinderten etwas stützten und ins Innere führten. Ein weiterer Zivilist nahm van der Lubbe in Empfang und bedeutete dem Begleittrupp, dass er so schnell wie möglich abfahren möge – was die SA-Leute auch taten. Wo van der Lubbe inzwischen abblieb, wusste Lennings nicht.
Zuvor hatte er aber interessante Beobachtungen gemacht. Als sie im Reichstag zwei Zimmer durchquerten, fiel ihnen auf, „dass ein eigenartiger Brandgeruch herrschte und dass auch schwache Rauchschwaden durch die Zimmer zogen. Womit ihnen klar wurde, dass schon etwas vor der Übergabe van der Lubbes brannte.
Nimmt man die eidesstattliche Erklärung von Martin Lennings und prüft sie mit aussagepsychologischen Wahrheitskriterien, so kommt man zu dem Schluss, dass diese juristisch fixierten Aussagen nur auf einem realen Erleben basieren können. Die politischen Gegner hatten natürlich auch ein Argument, Lennings Erklärung zurückzuweisen – er habe schon immer zum Fabulieren geneigt …
Warum ist es heute noch wichtig zu wissen, wer den Reichstag angezündet hat? Soukup hat eine eindeutige Antwort, denn es handelt sich „um die folgenreichste Tat politischer Kriminalität in der Geschichte der Menschheit“. Und zuvor schreibt er: „Wir reden hier also nicht über eine Kleinigkeit. Die unglaublichen Verbrechen der Nazis, der millionenfache Mord an Juden sowie der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion konnte nur von einem Terrorregime verübt werden – und dieser Terror begann in der Nacht des Reichstagsbrandes.“
Soukups Buch ist in einem empathisch-essayistischen Stil geschrieben und für jeden verständlich, der sich unvoreingenommen mit der Materie auseinandersetzen will. Der Leser weiß nun: Marinus van der Lubbe war kein Einzeltäter. Seine Aussagen und „Geständnisse“ waren darauf zurückzuführen, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit unter Drogeneinfluss stand.
Bei der großen Mordaktion Ende Juni/Anfang Juli 1934, die die Tarnbezeichnung „Röhm-Putsch“ erhielt, ließ Hitler die Führungskräfte der Sturmabteilung (SA) umbringen, einschließlich des Obersten Stabschefs Ernst Röhm. In dieser Aktion wurden fast alle Mittäter, Zeugen und Mitwisser, die eine genaue Vorstellung von den wahren Urhebern des Reichstagsbrandes hatten, ermordet. Aber Martin Lennings konnte rechtzeitig ins Ausland fliehen.
Unbedingt muss noch Erwähnung finden, dass der Jurist und Historiker Edouard Calic im Jahr 1979 im 163. Band der Zeitschrift Archiv für Kriminologie ebenfalls zu eindeutigen Ergebnissen gekommen war, wie schon Titel und Untertitel des Fachartikels verraten: „Der Reichstagsbrand als Kriminalfall. Die Präparierung des Plenarsaals und die Benutzung des unterirdischen Ganges durch die Brandstifter“.
Uwe Soukup: Die Brandstiftung. Mythos Reichstagsbrand – was in der Nacht geschah, in der die Demokratie unterging, Wilhelm Heyne Verlag, München 2023, 208 Seiten, 22,00 Euro.
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