Jene Aktivisten und Kreise hierzulande, die nicht nur trotz, sondern gerade auch wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine an der (längerfristigen) Perspektive eines gedeihlichen und vor allem friedlichen Verhältnisses zu Russland festhalten, sehen sich derzeit mit einem doppelten Dilemma konfrontiert: Einerseits vertreten sie im Spektrum der politisch wahrnehmbaren Kräfte in Deutschland eine Minderheitsposition und sind in der Gesamtschau der veröffentlichten Meinungen weitgehend marginalisiert, andererseits sind ihnen aber zugleich im tonangebenden politischen Establishment in Moskau jegliche potenziellen Ansprechpartner für eine Rückkehr zu kooperativeren Beziehungen zwischen dem Westen und Russland verloren gegangen.
Dem erstgenannten Malus kann man womöglich mit unverdrossen fortgesetzten Stellungnahmen Paroli bieten. Mit dem zweiteren müsste man sich zumindest auseinandersetzen, will man nicht dem in Politik und Medien sowieso grassierenden Vorwurf der Naivität und Weltenferne (milde Variante), respektive aggressiveren Widerworten – „senile[…] Idee“ (Andrij Melnyk, ukrainischer Ex-Botschafter in Berlin und jetzt Vizeaußenminister in Kiew) – zusätzlich Vorwand und Nahrung liefern.
Ich hatte mich in der Ausgabe 1/2023 dieses Magazins in einem „Russland und der Westen – das Tischtuch ist zerschnitten“ betitelten Beitrag unter anderem mit dem in Moskau inzwischen vorherrschenden sicherheitspolitischen Denken befasst. Zwei jüngste Wortmeldungen aus Deutschland und Russland lieferten dieser Tage die Veranlassung zum folgenden Nachtrag.
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Die Initiative „Waffenstillstand und gemeinsame Sicherheit jetzt“ – initiiert von Peter Brandt, Historiker; Reiner Braun, Internationales Friedensbüro; Reiner Hoffmann, ehemaliger DGB-Vorsitzender, und Michael Müller, Bundesvorsitzender der Naturfreunde, – weist eine durchaus beeindruckende Phalanx von Unterzeichnern auf, die nicht einmal nur aus den alten Bundesländern stammen: auch Dieter Klein (Gesellschaftswissenschaftler), Hans Misselwitz (ehemaliger Leiter der DDR-Delegation bei den 2-plus-4 Verhandlungen) und Wolfgang Thierse (SPD, Ex-Bundestagspräsident) sind mit dabei.
Zumindest von der Berliner Zeitung und der Frankfurter Rundschau wurde die Initiative am 1. April 2023 im Wortlaut publiziert. Darin heißt es unter anderem: „Die Friedens- und Entspannungspolitik, der wir die deutsche Einheit und die Überwindung der europäischen Spaltung verdanken, ist nicht überholt. Wir haben uns in der Vergangenheit für ihre Ziele eingesetzt und tun das auch heute. […] Die Vereinten Nationen haben mit dem Konzept der gemeinsamen Sicherheit den Weg in eine friedliche Welt aufgezeigt. Es hat seine Wurzeln in der deutschen Friedens- und Entspannungspolitik. In diesem Geist kam es zur Schlussakte von Helsinki und zur Charta von Paris für ein neues Europa. Daran knüpfen wir an. Frieden kann nur auf der Grundlage des Völkerrechts und auch nur mit Russland geschaffen werden.“ Mit dem Ziel, „zu einer gemeinsamen Sicherheitsordnung in Europa“ zu kommen.
Im Hinblick auf den Ukraine-Krieg enthält die Initiative die Aufforderung an Bundeskanzler Olaf Scholz, zusammen mit Frankreich Staaten wie „Brasilien, China, Indien und Indonesien für eine Vermittlung zu gewinnen, um schnell einen Waffenstillstand zu erreichen. Das wäre ein notwendiger Schritt, um […] Friedensmöglichkeiten auszuloten.“ Die genannten Staaten wären zumindest solche, mit denen Russland im Unterschied zu jenen des Westens, die aus Moskauer Sicht längst Kriegspartei sind (siehe dazu ausführlicher Blättchen 4/2023), nach wie vor konstruktive Beziehungen pflegt – eine Voraussetzung für eine Vermittlerrolle, die nicht von vornherein auf verlorenem Posten stände.
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Doch was den Bezug auf das „Konzept der gemeinsamen Sicherheit“ und eine „gemeinsame[…] Sicherheitsordnung in Europa“ anbetrifft, so ist Moskau davon heute so weit entfernt, wie in jenen Jahrzehnten des ersten Kalten Krieges, in denen Begriff und Konzeption von Common Security* noch gar nicht „erfunden“ worden waren.
Nachdrücklich deutlich geworden ist dies gerade erst wieder durch den vom russischen Präsidenten Wladimir Putin am 31. März 2023 unterzeichneten Ukas Nummer 229 über die Grundzüge der künftigen Außenpolitik der Russischen Föderation.
Der Duktus des gesamten Dokumentes, soweit es die Beziehungen zum Westen betrifft, spricht eine Sprache abwehrender Sicherheitsgewährleistung, ja der Konfrontation im Stile klassischer Machtpolitik, wie sie über Jahrhunderte und auch während des ersten Kalten Krieges – nicht nur sowjetischerseits – bis 1985 (Machtantritt Gorbatschows) Usus war. Dazu passt, dass Moskau sich heute davon leiten lässt, dass – alle nachfolgenden Zitate, soweit nicht anders ausgewiesen, stammen aus dem Putin-Ukas – zum einen die „Rolle des Faktors Macht in den internationalen Beziehungen“ zu- sowie zum anderen „die Wirksamkeit der Diplomatie als Mittel der friedlichen Streitbeilegung“ abnehme. In diesem Kontext dürfte auch zu sehen sein, dass Moskau, wie der Ukas hervorhebt, selbst Einsätze seiner Streitkräfte „zum Schutz seiner im Ausland befindlichen Bürger“ prinzipiell als in Übereinstimmung mit Artikel 51 der UNO-Charta (Recht auf Selbstverteidigung) stehend betrachtet.
Im Selbstverständnis der Kreml-Führung ist Russland eine „einzigartige[…] Staatszivilisation“, deren Stellung in der Welt sich unter anderem daraus ergäbe, dass sie „eine der beiden größten Atommächte der Welt und […] Nachfolgestaat (Rechtsnachfolger) der UdSSR“ sei. Als „eines der souveränen Zentren der Weltentwicklung“ erfülle Russland die „historisch einmalige Aufgabe, das globale Gleichgewicht der Kräfte aufrechtzuerhalten und ein multipolares internationales System aufzubauen“. Von diesem Nabel der Welt aus betrachtet wird etwa der UNO und anderen multilateralen Institutionen lediglich noch der „Zweck“ zugebilligt, als „Plattformen für die Angleichung der Interessen der führenden [Hervorhebung – G.M.] Mächte“ zu fungieren. Wer diesem erlauchten Kreis zugerechnet wird, definiert der Ukas zwar nicht, aber allein das attributive führend legt nahe, dass die überwiegende Mehrzahl der Staaten dieser Welt nicht dazu zählt und folglich keinen Anspruch auf Interessenangleichung erwarten kann.
In Sachen Schuldzuweisung für die gefährliche Zuspitzung der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland sowie im Hinblick auf Kompromisslosigkeit dem Gegner gegenüber steht Moskau dem Westen im Übrigen in nichts nach: die andere Seite habe sich gefälligst zu bewegen oder es bewegt sich gar nichts. Sollten allerdings „die Staaten der westlichen Gemeinschaft in Zukunft die Sinnlosigkeit ihrer Konfrontationspolitik und ihrer hegemonialen Ambitionen erkennen, die komplexen Realitäten einer multipolaren Welt berücksichtigen und zu einer pragmatischen Interaktion mit Russland zurückkehren“, dann sei „die Russische Föderation zu Dialog und Zusammenarbeit bereit“.
Nicht zuletzt enthält der Putin-Ukas ein geopolitisches Ranking. In demselben findet sich die „Europäische Region“ zwar noch vor „USA und andere angelsächsische Staaten“, doch trotzdem – hinter allen anderen Weltregionen einschließlich der Arktis – nur auf dem drittletzten Platz. (Nach den Angelsachsen folgt dann nur noch die Antarktis.) Auch mit der Erklärung für diesen abgehängten Stellenwert des nichtrussischen Europas hält der Ukas nicht hinter dem Berge: „Die meisten europäischen Staaten verfolgen gegenüber Russland eine aggressive Politik, die darauf abzielt, die Sicherheit und Souveränität der Russischen Föderation zu bedrohen, einseitige wirtschaftliche Vorteile zu erlangen, die innere politische Stabilität und die traditionellen geistigen und moralischen Werte Russlands zu untergraben sowie Hindernisse für die Zusammenarbeit Russlands mit Verbündeten und Partnern zu schaffen.“
Dass die russische Führung dabei offenbar selbst keinen gesteigerten Wert mehr darauflegt, überhaupt noch als europäisch angesehen zu werden – womit sie das im Westen nicht nur semantisch seit langem dominierende „Narrativ“ übernähme –, macht in diesem Zusammenhang folgende Offerte deutlich: „Das Bewusstsein der europäischen Staaten, dass es keine Alternative zu einer friedlichen Koexistenz und einer für beide Seiten vorteilhaften gleichberechtigten Zusammenarbeit mit Russland gibt, die Stärkung ihrer außenpolitischen Unabhängigkeit und der Übergang zu einer Politik der guten Nachbarschaft mit der Russischen Föderation wären für die Sicherheit und das Wohlergehen der europäischen Region von Vorteil und würden den europäischen Staaten helfen, den ihnen zustehenden Platz in der Eurasischen Großpartnerschaft und in einer multipolaren Welt einzunehmen.“
Dem Westen insgesamt, in dem der Ukas die USA nicht zu Unrecht „als Hauptinitiator, Organisator und Umsetzer der aggressiven antirussischen Politik“ ausmacht, schreibt dieser schließlich noch ins Stammbuch: „Als Antwort auf die unfreundlichen Aktionen des Westens beabsichtigt Russland, sein Recht auf Existenz und freie Entwicklung mit allen verfügbaren Mitteln zu verteidigen.“ Neben „unfreundlichen […] Staaten“ werden in diesem Zusammenhang die NATO, die EU und der Europarat direkt angesprochen.
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Nimmt man die europäische Geschichte der Neuzeit als Bezugsrahmen, dann dürfte sich dieser Kontinent derzeit in einer Periode befinden, die jener vor dem Westfälischen Frieden um einiges näher kommt als dem schmalen Fenster der Möglichkeiten unmittelbar nach 1989/90, als gemeinsame Sicherheit tatsächlich zum Greifen nahe schien.
* – Diesen Titel trug der „Palme Bericht. Bericht der Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit“ von Experten aus Ost und West sowie der Dritten Welt, der 1982 publiziert wurde.
Schlagwörter: Außenpolitik, der Westen, Europa, gemeinsame Sicherheit, Putin, Russland, Ukas, Ukraine, USA