26. Jahrgang | Nummer 1 | 2. Januar 2023

Russland und der Westen – das Tischtuch ist zerschnitten

von Gabriele Muthesius

 

Unter Wladimir Putin verabschiedet sich Russland,

das eigentlich größte europäische Land,
aus Europa.

 

Michael Thumann,
DIE ZEIT

 

Wenn man die Frage stellt, wann nach dem Ende des Kalten Krieges der Westen im Verhältnis zu Russland falsch abgebogen ist, landet man eher früher als später bei der Osterweiterung der NATO, die im Jahre 1999 mit der Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns begann, wogegen Putins Vorgänger im Amt des russischen Präsidenten, Boris Jelzin, sich – und nicht nur einmal – vergeblich gewandt hatte. Damit war eine Büchse der Pandora einen Spalt breit geöffnet, wie sich schon in der damals mit viel Beifall bedachten Rede Putins im Deutschen Bundestag im September 2001, in der er dem Westen praktisch beide Hände entgegenstreckte, andeutete. Der russische Präsident verwies auf Entscheidungen des Westens, die „ohne uns getroffen“, doch mit der nachträglichen Aufforderung an Moskau versehen worden seien, „sie zu bestätigen“. Putin fragte, „ob das normal ist, ob das eine echte Partnerschaft ist“, und ließ erste grundsätzliche Zweifel durchblicken: „Noch vor kurzem schien es so, als würde auf dem Kontinent bald ein richtiges gemeinsames Haus entstehen, in welchem Europäer nicht in östliche und westliche, in nördliche und südliche geteilt werden. […] Trennungslinien bleiben aber erhalten […].“

Von noch einschneidenderer Wirkung allerdings dürfte ein anderes, nahezu zeitgleiches Ereignis gewesen sein, an das Orlando Figes, der Autor von „Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland“ (siehe Blättchen 5/2009), kürzlich erinnerte: „Nach dem 11. September 2001 waren Bush und Putin ziemlich eng. Russland hatte etwas zum Krieg gegen den Terror beizutragen. Und das war der Moment, als Putin in einem informellen Gespräch mit Bush sagte: ‚Nun, wann wird Russland der Nato beitreten?‘ Und er erhielt eine Abfuhr. […] von diesem Moment an wurde Putin, der zu diesem Zeitpunkt seiner Karriere noch ein ziemlich unsicherer Mann war, durch die Abfuhr klar, dass die NATO ein antirussisches Bündnis geblieben war.“

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Auch nach dem Beginn des bewaffneten Aufstandes in der Ostukraine, dem ohne massive, dauerhafte Unterstützung durch Russland schnell die Luft ausgegangen wäre, und trotz der Annexion der Krim durch den Kreml im Jahr 2014 ist in diesem Magazin an der Perspektivvorstellung einer Sicherheitspartnerschaft mit Moskau festgehalten worden. Das gilt insbesondere für Wolfgang Schwarz und seine vielteilige Beitragsreihe „Der Westen und Russland – zum Diskurs“. Schwarz‘ zentrales Argument: Eine militärische Auseinandersetzung zwischen der NATO und Moskau könnte zu einer allgemeinen thermonuklearen Katastrophe eskalieren; ein konfrontatives Verhältnis zwischen beiden Seiten erhöhe dieses Risiko; (gemeinsame) Sicherheitsgewährleistung erfordere daher Entfeindung und Kooperation.

Von einer vergleichbaren Warte aus hat Sarcasticus kürzlich gegen von ihm ausgemachte sicherheitspolitische Denkfehler des SPD-Ko-Vorsitzenden Lars Klingbeil Stellung bezogen (Blättchen 23/2022), insbesondere gegen dessen Verkündung, dass die „Aussage, dass es Sicherheit und Stabilität in Europa nicht gegen, sondern nur mit Russland geben kann, […] keinen Bestand mehr“ habe. Heute ginge es darum, „Sicherheit vor [Hervorhebung – G.M.] Russland zu organisieren“. Dazu Sarcasticus: „Angesichts des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine klingt das schlüssig. Allerdings nur solange, wie man den Sachverhalt ausblendet, dass ein Krieg zwischen der NATO und Russland zur allgemeinen atomaren Vernichtung führen könnte […].“

Solche Argumentationsmuster kann man natürlich in der gegenwärtig stark aufgeheizten Konfrontation mit Russland ignorieren oder ausblenden, wie das im sicherheitspolitischen Mainstream des Westens nahezu durchgängig der Fall ist, oder man kann sie alternativ unter Defätismus-Verdacht stellen. Damit ist die Faktenlage allerdings nicht aus der Welt: Russland bleibt nukleare Supermacht mit Mitteln für alle möglichen unangenehmen Szenarien. Daran hat seit Februar 2022 Putins wiederholte atomare Rhetorik ebenso erinnert wie die vor einigen Monaten in die Öffentlichkeit lancierte Meldung, wonach – laut SPIEGEL – „westliche Geheimdienste […] Funksprüche der russischen Marine von einem Manöver auf der Ostsee abgefangen hatten. Man sprach von Nuklearschlägen gegen Deutschland und nannte drei Ziele: Berlin, die US-Air Base in Ramstein und den Fliegerhorst Büchel, wo die Amerikaner ihre Atombomben lagern.“

Wenn man daher weiterhin die Auffassung vertritt, dass Konfrontation der falsche Weg zur Sicherheitsgewährleistung im Verhältnis zu Russland sei, dann wäre es allerdings umso wichtiger, stets auch die Frage nach den potenziellen Ansprechpartnern für kooperative Ansätze in Moskau im Auge zu behalten – eine Frage, zu der bei Schwarz und Sarcasticus eigentümlicher Weise nichts zu finden ist.

Vielleicht das Ergebnis einer frustrierender Ernüchterung?

Die nämlich stellt sich bei der Sichtung russischer Stimmen nahezu zwangsläufig ein.

Das betrifft zum einen die Weltsicht des russischen Präidenten, der ein ums andere Mal auf den wieder aufgebrochenen Antagonismus zwischen dem Westen und Moskau abhebt. So zum Beispiel, als er Anfang Oktober 2022 anlässlich der Annexion weiterer ukrainischer Gebiete in einer Rede unter anderem sagte: „Der Westen sucht inzwischen immer wieder nach neuen Chancen, Russland einen Schlag zu versetzen, Russland zu schwächen und zu zerstückeln.“ Der Westen wolle „keine Freiheit für uns“, er wolle „uns als Kolonie“, er wolle „keine gleichberechtigte Zusammenarbeit, sondern uns ausplündern“. Und: „Es war der sogenannte Westen, der die Grundsätze der Unverletzbarkeit der Grenzen mit Füßen getreten hat und nun im eigenen Ermessen entscheidet, wem dieses Recht zur Selbstbestimmung zusteht und wem es aberkannt werden soll.“

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Exkurs: Natürlich kann man solche „Ausfälle“ einer ausgemachten Paranoia Putins zuschreiben. Der Präsident selbst sah sich allerdings jüngst einmal mehr bestätigt, als die deutsche Ex-Kanzlerin Angela Merkel Äußerungen von sich gab, die den Eindruck hinterließen, dass der gesamte unter deutsch-französischer Schirmherrschaft veranstaltete Minsker Prozess samt der beiden zugehörigen Abkommen westlicherseits nie auf eine friedliche Lösung des Ukraine-Konflikts hin angelegt war, sondern vor allem auf Zeitgewinn für die Ukraine zur Vorbereitung auf einen Krieg mit Russland. Dem SPIEGEL erklärte Merkel, sie glaube, „bei den Verhandlungen von Minsk die Zeit gekauft zu haben, die die Ukraine nutzen konnte, um sich einem russischen Angriff besser widersetzen zu können. Sie sei ein stärkeres, wehrhafteres Land jetzt.“ Damit strafte sich Merkel selbst Lügen, denn sie hatte 2015 erklärt: „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass dieser Konflikt nur politisch gelöst werden kann. Das Minsker Maßnahmenpaket setzt hierfür klare Wegmarken.“ Und genau auf diesen Eindruck schien es ihr, aus welchen Gründen auch immer, anzukommen, denn warum hätte sie diese Darstellung sonst wenig später praktisch wörtlich der ZEIT noch einmal wiederholen sollen? Putin jedenfalls hat diese Steilvorlage prompt aufgenommen, um den Westen als Verhandlungs-, gar Vertragspartner grundsätzlich in Frage zu stellen – am 9. Dezember auf einer Pressekonferenz im Anschluss an die 19. Sitzung des Obersten Eurasischen Wirtschaftsrates in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek: „Nun, das (Merkels Äußerung gegenüber dem SPIEGEL – G.M.) wirft die Frage des Vertrauens auf, denn das Vertrauen ist bereits fast auf dem Nullpunkt, und nach solchen Äußerungen stellt sich die Frage, wie man verhandeln kann, worüber, ob es möglich ist und wo die Garantie liegt.“ (Bereits einige Tage zuvor hatte Putin bei einem Treffen mit Müttern im Ukraine-Krieg eingesetzter russischer Soldaten die Minsk-Abkommen – also das Setzen auf Diplomatie unter Einbeziehung des Westens statt des sofortigen Rückgriffs auf die eigene militärische Stärke – als einen Fehler bezeichnet, den er nicht wiederholen werde.)

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Wohin Russlands Reise nach Putins Vorstellungen gehen soll, erklärte kürzlich Dmitri Trenin, bis vergangenes Jahr Chef der Moskauer Carnegie-Dependance und international geschätzter Experte, seither häufiger Russland-Erklärer bei RT DE: „Das gespaltene russische Volk und dessen Lebensräume wieder zu vereinen, ist im Grunde das Hauptelement der neuen russischen Idee, die Putin seinen Landsleuten anbietet.“ Dabei ginge es „nicht so sehr um die Wiederherstellung der Sowjetunion: Eine solche Wiederherstellung ist nach Putins Worten nicht das Ziel Moskaus. Das Baltikum, der Südkaukasus und Zentralasien sind wahrscheinlich nicht als Teil des neuen Konstrukts vorgesehen. Wie Außenminister Sergei Lawrow in der Staatsduma andeutete, könnten allerdings in Zukunft andere ukrainische Regionen die Chance erhalten, Cherson und Saporoschje zu folgen.“ Und weiter: „Für Putin ist Großrussland eine eigenständige Zivilisation, die sich nicht nur der hegemonialen Politik Amerikas widersetzt, sondern auch der Projektion der westlichen Werte als universelle Werte. Dies ist nicht nur eine Kehrtwende gegenüber Gorbatschows Träumereien über ein gemeinsames europäisches Haus, sondern auch gegenüber Putins eigenen Ambitionen, ein Großeuropa von Lissabon bis Wladiwostok zu schmieden, und seinen Bemühungen, einen Weg für den NATO-Beitritt Russlands zu finden. Ein Großeuropa hat es nicht gegeben; ein Großasien, das Russland einschließt, ist de facto im Entstehen begriffen.“

Zum anderen tragen zur Ernüchterung beim Blick nach Moskau die regelmäßigen Auftritte des russischen Außenministers Sergei Lawrow bei, so etwa auf einer Pressekonferenz zu Fragen der europäischen Sicherheit am 1. Dezember 2022. Einem Bericht von RT DE zufolge erklärte Lawrow mit Blick auf die Ukraine, dass „die USA, Großbritannien und Frankreich, also drei Atommächte, […] alles täten, um ihre direkte Beteiligung an dem Stellvertreterkrieg gegen Russland zu verstärken. Die USA und die NATO lieferten nicht nur Waffen an die Ukraine, sondern bildeten auch ihre Militärs aus.“ Ein Seitenhieb traf die OSZE: Diese „werde zu einer marginalen Randgruppe. Polen, das heute den Vorsitz in der OSZE innehat, habe der Organisation seit einem Jahr ein ‚Grab geschaufelt‘ und die Reste der Konsenskultur zerstört.“ Und die Perspektive? „Lawrow stellte klar, dass es keine Wiederherstellung der Beziehungen zu den westlichen Ländern und der OSZE geben werde. […] kein ‚Business as usual‘ mehr […].“ Moskau lehne „eine europäische Sicherheit ohne Russland und Weißrussland ab“.

Dies korrespondiert damit, dass Lawrow bereits im Oktober 2022 vor Absolventen der russischen Diplomatenschmiede MGIMO geäußert hatte, dass die neuen Prioritäten der russischen Außenpolitik abseits des globalen Westens lägen, in Asien, Afrika und Lateinamerika. Er begründete den Wandel mit der zunehmend offenen Feindseligkeit des Westens. Daher habe es auch keinen Sinn, die gleiche diplomatische Präsenz wie bisher im Westen aufrechtzuerhalten.

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Nicht zuletzt angesichts der hier skizzierten gegenwärtigen sicherheitspolitischen Verfasstheit des russischen Führungspersonals im Hinblick auf den Westen, von der Experten annehmen, dass sie den aktuellen Kreml-Chef überdauern wird, klingt Schwarz’ Behauptung – „Sicherheit vor einer Atommacht wie Russland ist […] nur als gemeinsame, kooperative Sicherheit zu haben. Daher sollte man mit Russland keinesfalls verfeindet, besser befreundet, noch besser verbündet sein, um jede Möglichkeit einer militärischen Auseinandersetzung schon vom Grundsatz her auszuschließen.“ – wie von einem anderen Stern. Mindestens aber aus der Zeit gefallen. Falsch ist sie deswegen nicht. Jedoch – it takes two to tango!

Im Übrigen ist im Westen offenbar nur noch wenigen führenden Politikern, wie etwa dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, klar, dass nach dem Ukraine-Krieg eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa diskutiert werden muss, in der die seit 1990 offene Frage, „wie man Russland Garantien gibt“ (Macron), endlich beantwortet wird. Ob oder gar wann solch ein Ansatz im Westen allerdings handlungsleitend werden könnte, das steht heute nun wirklich in den Sternen …