26. Jahrgang | Nummer 1 | 2. Januar 2023

Anmerkungen zur Sozialismus-Kommunismus-Debatte

von Ulrich Knappe

Seit gut zehn Jahren beschäftige ich mich mit dem Sozialismus und der eine oder andere Leser des Blättchens wird sich an die Sonderausgabe vom November 2019 erinnern.

Erhard Crome und Ulrich Busch (Blättchen 20, 23 und 25/2022) haben zwar auf meine Publikationen keinen Bezug genommen, aber ich fühle mich durch die jetzt von ihnen ausgelöste Sozialismus-Kommunismus-Debatte angesprochen.

Vorweg sei gesagt, es ist nicht einfach, den Kern ihrer Auseinandersetzung zu begreifen, da überlagernd Emotionen im Spiel sind, die eine sachliche Diskussion behindern. So gesehen finde ich die Aufforderung von Ulrich Busch berechtigt, einen produktiven Dialog anzustreben.

Erhard Crome hat die Herausgabe der gesammelten Schriften des DDR Philosophen Peter Ruben genutzt, um dem deutlichen Interesse der nachwachsenden Generation am Sozialismusthema Orientierung zu geben. In seinen inhaltlichen Aussagen nimmt er ausschließlich auf Peter Ruben Bezug, leider ohne konkrete Quellenangaben zu machen. Die anschließende, eher hinderliche Polemik möchte ich nicht werten, sondern bei der inhaltlichen Bestimmung bleiben.

Also; Ruben zeichnet einen Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, den er bei Marx unberücksichtigt sieht. Crome nimmt das auf und zieht eine Parallele zur zweiten Rubenschen Unterscheidung von Sozialismus und Kommunismus.

Ich kann noch nicht erkennen, warum sich aus einer Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft ein Zusammenhang zur Unterscheidung von Sozialismus und Kommunismus herstellen soll. Hier sehe ich Klärungsbedarf und es wäre weiterführend, das ausführlicher zu erörtern.

Was ich bestätigen kann, ist eine Ungenauigkeit bei Marx, Gemeinschaft und Gesellschaft in Bezug auf das Eigentum in einer nachkapitalistischen Gesellschaft abzugrenzen. Im Kapital beschreibt er die Aufhebung des zersplitterten Privateigentums (von Bauern und Handwerkern) im ursprünglichen Akkumulationsprozess des Kapitals als Voraussetzung für das spätere Entstehen gesellschaftlichen Eigentums im Sozialismus (MEW, Band 23; S. 791).

In seiner Kritik des Gothaer Programms, schränkt er die große Gesellschaftlichkeit ein und definiert das gesellschaftliche Eigentum im Sozialismus, als sich im Verein freier Menschen als genossenschaftliches Gemeineigentum an Produktionsmitteln realisierend (MEW, Band 19, S. 19). Es handelt sich hier nicht um Haarspalterei, wie ein Blick in die Geschichte der sowjetischen „Enteignungen“, die zur „Herstellung gesamtgesellschaftlichen Eigentums“ führten, zeigt.

Crome nimmt, ausgehend von der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft, die zweite Rubensche Unterscheidung von Sozialismus und Kommunismus ins Visier. Ruben entwerfe zwei Konzepte. Das eine beschreibe den Kommunismus, mit seiner Abschaffung des persönlichen Produktivvermögens und der abrupten Abschaffung des Geldes, des Kredites und der Warenproduktion. Das andere Konzept beschreibe den Sozialismus mit einer Beibehaltung von Kapital, privaten Produktivvermögens, der Familie, der Gesellschaft und des Staates unter der Herrschaft der Arbeit. Das so beschriebene, beibehaltende, vorsichtige Sozialismuskonzept wird Lorenz von Stein, einem Zeitgenossen von Karl Marx und deutschem Soziologen, zugeschrieben. Weil nur das erstgenannte, das rabiate, auf Abschaffung setzende Kommunismus-Konzept gescheitert ist, sei der Sozialismus quasi gerettet und einer weiteren wissenschaftlichen Ausarbeitung offen. Soweit die mir verständlichen Inhalte der Rubens/ Cromeposition.

Woran stößt sich Ulrich Busch, der im Heft 25/2022 auf die beiden Crome-Beiträge aus den Blättchen-Ausgaben 20/2022 und 23/2022 eingeht? Indem Ruben/Crome mittels der verschiedenen Sozialismus und Kommunismus Konzepte nur den Kommunismus desavouiert sehen, stehe ihre Darstellung der „totalitarismustheoretischen Geschichtsauffassung“ nahe, die den Mainstream bedient und den Realsozialismus mit kommunistischer Diktatur gleichsetzt. Folglich werde die tragfähige, wissenschaftlich fundierte kommunistische Idee mit dem gescheiterten kommunistischen Versuch gleichgesetzt und beides beerdigt. Ein Nachdenken über die Ablösung der neoliberalen spätkapitalistischen Gesellschaft durch den Kommunismus würde dadurch als „stalinistische Brauchtumspflege“ verunglimpft.

Mag sein, dass ich die beiden Positionen nicht vollständig erfasst habe. Es sei mir aber gestattet, beiden Kontrahenten etwas Wasser in den Wein zu gießen.

Das Entstehen der kapitalistischen Produktionsweise schuf in Mitteleuropa ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein neues gesellschaftliches Problem, die soziale Frage. Warum waren gerade jene Menschen, die den neuen ungeahnten Reichtum schufen, von seiner Nutznießung ausgeschlossen? Die Empörung angesichts dieser Ungerechtigkeit vereinte Menschen, machte sie zu Weggefährten, zu Genossen, zu socius(i), umgangssprachlich zu Sozis. In Arbeitervereinen, später in Gewerkschaften und Arbeiterparteien suchten diese Genossen nach Organisationsformen und die klügsten Köpfe erkannten, dass Empörung allein nicht ausreichen würde, um die missliche Lage zu verändern. Um sich auf Dauer erfolgreich zu wehren, war theoretische Arbeit vonnöten, taktische und strategische Ziele waren in einem neuen gesellschaftlichen Umfeld zu markieren.

War bis zu dieser Einsicht das schillernde Ideal des Kommunismus das einigende geistige Band zwischen ihnen gewesen, so drängte jetzt der nüchterne Begriff des Sozialismus in den Vordergrund. Sozialismus sollte die auf wissenschaftlicher Grundlage von freien und gleichen Produzenten verwirklichte (nachkapitalistische) Gesellschaft sein. Die notwendige theoretische Arbeit, das Schaffen einer wissenschaftlichen Grundlage zur Lösung der sozialen Frage, stellte das Thema des Sozialismus in den Vordergrund.

Bleibt festzuhalten: Die Begriffe Kommunismus und Sozialismus zeigten in ihrem sozialdemokratischen Ursprung keine Trennung. Vielmehr waren sie Synonyme und der Sozialismus war die Präzisierung, die wissenschaftliche Begründung eines eher moralisch abgeleiteten Kommunismus.

Als sich die deutsche und die europäische Arbeiterbewegung deutlicher zu strukturieren begannen und programmatische Arbeit nötig wurde, ging es auch um das Wie. Auf welchem Wege sollte der Sozialismus/Kommunismus gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten. In der Diskussion um das Gothaer Parteiprogramm vertrat Marx die Auffassung, dass es selbstverständlich eine Übergangsgesellschaft geben müsse, die noch mit den Muttermalen der alten kapitalistischen Gesellschaft behaftet sei. Aber diese Übergangsgesellschaft wurde nicht Sozialismus und die Vollendungsgesellschaft wurde nicht Kommunismus genannt. Nur eins war klar, die bürgerliche Produktionsweise, sprich der entwickelte Kapitalismus, war notwendige Voraussetzung, um überhaupt eine neue, humanistischere Gesellschaft zu entwerfen. Bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1883 sahen Marx und seine sozialdemokratischen Weggefährten den Sozialismus als ein westeuropäisches Ereignis an. Alle wissenschaftliche Arbeit, vor allem von Karl Marx vorangetrieben, analysierte den westeuropäisch geprägten Kapitalismus und die aus ihm hervortretenden Möglichkeiten hin zu einer sozialistischen Gesellschaft. Russland, seine Geschichte, seine Produktionsverhältnisse, seine Klassen- und Gesellschaftsstruktur standen nicht zur Diskussion.

Erst als die, im Schweizer Exil lebenden, russischen Revolutionäre (Brief von Vera Sassulitsch, März 1881) eine Frage an Karl Marx richteten, begann er, seine Segel auch in diese Richtung zu setzen. Es war ihm aber nicht mehr vergönnt, Klarheit zu schaffen. Nur eines wurde deutlich: Bisher hatten er und seine Gefährten lediglich einen Sonderfall der geschichtlichen Entwicklung analysiert. Für den Fall, dass sich dieses eurasische Riesenreich auf einen sozialistischen Weg wälzen würde, war nichts vorbedacht.

Und so nimmt das, was ich als wesentliche Kritik in die momentan geführte Debatte einwerfen will, seine Konturen an.

Jegliche Diskussion, die heute um den Sozialismus und/oder den Kommunismus geführt wird, müsste berücksichtigen, dass sich im revolutionären Russland, dann in der Sowjetunion eine bis heute gesellschaftstheoretisch unerforschte Übergangsgesellschaft herauszubilden begann, die sich der sozialistisch/kommunistischen Idee (Theorie, Wissenschaft) bemächtigte und sie durch Oktroyieren auf andere Verhältnisse, deren Untersuchung ihr verwehrt wurden, erstarren ließ. Die Abneigung, die Ulrich Busch gegenüber den sicherlich etwas unbeholfenen Erklärungsversuchen von Peter Ruben/Erhard Crome bezüglich der beiden Konzepte von Sozialismus und Kommunismus hat und die er in einem abwehrenden Totalitarismusvorwurf münden lässt, zeigt mir das Unverständnis für diese Problemlage an.

Wir haben es in Gestalt des sowjetischen Sozialismusentwurfes mit etwas Neuem, einem großen gesellschaftlichen Paradoxon zu tun, das die wissenschaftliche Theorie des Sozialismus, bis heute, weitgehend unberührt gelassen hat. Lenin, Bucharin, Trotzki, Preobraschenski, Stalin und andere wähnten sich einer anderen Gesellschaft gegenüber als jener, die unter ihren Händen entstand. So gesehen führen uns heute unkomplexe Fehlerdiskussionen, die Beschuldigung von Verrätern an der sozialistischen Sache oder bloßes Abwarten, bis sich der Mantel des Vergessens über die historischen Sachverhalte gelegt hat und man alten Wein dann wieder in neuen Schläuchen verkaufen kann, auf die falsche Fährte.

Aus meiner Sicht bedarf es zur Weiterentwicklung der Sozialismus-Kommunismus-Debatte der Vertiefung zweier Untersuchungsfelder:

  • Das eine nimmt die vorliegenden, umfangreichen Ergebnisse der Geschichtswissenschaft zur Kenntnis und leitet daraus gesellschaftstheoretische, philosophiehistorische Verallgemeinerungen ab. (Diese qualitative Analyse der ersten Übergangsgesellschaft, der vielleicht noch viele weitere folgen werden, hat begonnen und wäre zu vertiefen.)
  • Das andere Untersuchungsfeld führt die so gewonnenen Verallgemeinerungen aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Es ist nicht unerheblich für die ab dem Zusammenbruch der Sowjetunion Fahrt aufnehmende globale Neoliberalisierung, welche Bastionen geräumt werden mussten. Das, was uns heute transformatorisch auf den Nägeln brennt, zog seine Inhalte auch aus dem Scheitern des sowjetischen Sozialismusentwurfes. Beispielsweise denke ich an Fukuyamas „Das Ende der Geschichte“ oder an Hayeks „Der Weg zur Knechtschaft“.

Ich bin gespannt, ob die Debatte noch andere Gesichtspunkte in den Fokus rücken wird. Inhaltlich liegt einiges auf dem Tisch, über das nachzudenken wäre.