25. Jahrgang | Nummer 25 | 5. Dezember 2022

Stalinistische Brauchtumspflege?

von Ulrich Busch

Nach einer Phase weitgehender Sprachlosigkeit in Bezug auf mögliche Alternativen zum Kapitalismus gibt es gegenwärtig unter linken Gesellschaftskritikern, Umweltaktivisten und Veränderungswilligen wieder Bemühungen, sich eine Welt ohne Kapitalismus vorzustellen, das heißt Konturen einer postkapitalistischen Gesellschaft zu entwerfen. Auch wenn auf kurze bis mittlere Sicht noch die Meinung überwiegt, dass „kein Kapitalismus auch keine Lösung“ sei (Ulrike Herrmann), so gewinnt langfristig doch die Überzeugung Raum, dass sich die Menschheit in einem globalen Umbruch befindet, am Beginn einer großen Transformation, in deren Verlauf sich eine andere Produktions- und Lebensweise durchsetzen wird, eine alternative Ordnung gegenüber dem neoliberalen Kapitalismus. Das Spektrum der Vorstellungen hierzu ist außerordentlich breit, mitunter sind sie auch chaotisch und illusionär. Bemerkenswert ist jedoch, dass im Kontext von Postkapitalismus, großer Transformation und Postwachstum auch die Idee des Kommunismus wieder im Gespräch ist – und zwar nicht als Relikt vergangener Zeiten, sondern als Lösungskonzept für anstehende Probleme, als Zukunftsentwurf: „Der Kommunismus steht wieder vor der Tür.“ (Slavoj Žižek)

Wenn heute von Kommunismus die Rede ist, so weder im Sinne einer Rückbesinnung auf den „Urkommunismus“, als einem der Menschheit im Verlaufe ihrer Entwicklung vermeintlich verloren gegangenen Paradies, noch in Erinnerung an das „Gespenst“ der 1840er Jahre, auch nicht in Erwartung eines gewaltsamen revolutionären Umsturzes wie 1871 in Frankreich oder 1917 in Russland. Vielmehr geht es nunmehr, nachdem der Kapitalismus wirtschaftlich, sozial, ökologisch und ethisch immer mehr an seine Grenzen kommt, um den Übergang „aus der kapitalistischen Produktionsweise in die assoziierte“ und infolgedessen um die „Ablösung der bürgerlichen Gesellschaft durch die kommunistische“ (Karl Marx). Damit wird der Kommunismus als ein Projekt zur Verwirklichung einer humanistischen Idee und Zukunftsvision der Menschheit perspektivisch zu einem realistischen Vorhaben, zu einem wissenschaftlich fundierten Zukunftsentwurf. Er ist damit als etwas grundsätzlich anderes zu begreifen, als ihn der politische Mainstream gegenwärtig behandelt, indem dieser neben der Idee einer auf Gleichheit, Freiheit, Solidarität und gemeinschaftlichem Besitz beruhenden Ordnung und den sozialen Bewegungen, welche die Errichtung einer derartigen Ordnung anstreben, zugleich sämtliche historischen Vorläufer, misslungenen Versuche und gescheiterten Experimente unter diesen Begriff subsumiert. In der Wahrnehmung des Mainstreams gelten alle Gesellschaften, die ihrer Verfassung nach einst „sozialistisch“ waren (oder es bis heute sind), als „kommunistisch“ und ist der Kommunismus folglich nicht als eine bislang unerfüllt gebliebene Utopie aufzufassen, als ein Zukunftsprojekt, sondern als eine vergangene, mit dem Untergang des Staatssozialismus historisch erledigte Realität. Diese Lesart stößt freilich nicht nur bei orthodoxen Marxisten auf Widerspruch, sondern auch bei vielen ehemaligen Bürgern der DDR, der ČSSR, Ungarns und anderer realsozialistischer Staaten. Nicht zuletzt auch bei all jenen, die im Kommunismus eine Option für die Zukunft erblicken.

Erhard Crome, der in zwei Beiträgen (Das Blättchen 20/2022 und 23/2022) hierzu kritisch Stellung bezieht, sieht durch das Scheitern des Realsozialismus zugleich „die Idee des Kommunismus desavouiert“. Dies setzt freilich voraus, den Realsozialismus in der UdSSR, der DDR und anderswo als Kommunismus zu begreifen, als „rohen Kommunismus“, nicht aber als Sozialismus oder als Übergangsgesellschaft. In seiner Argumentation stützt Crome sich auf den Philosophen Peter Ruben, der in den 1990er Jahren eine Reihe instruktiver Aufsätze zum Verhältnis von Sozialismus und Kommunismus veröffentlicht hat und die Ereignisse von 1989/91 in Mittel- und Osteuropa als „Zusammenbruch des rohen Kommunismus“ deutet. Er bezieht sich dabei unter anderem auf Lorenz von Stein (1842), Karl Marx (1844) und Ferdinand Tönnies (1887). Indem Ruben das Scheitern des Realsozialismus als „das experimentelle Resultat auf den Versuch, die kommunistische Idee zu realisieren“, interpretiert, befindet er sich, ungeachtet seiner Intention, die Genesis zweier unterschiedlicher Politik- und Gesellschaftskonzepte zu erörtern, in Übereinstimmung mit der totalitarismustheoretischen Geschichtsauffassung und der Deutung des Realsozialismus als „kommunistische Diktatur“, wie sie beispielsweise die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur vertritt. Auffassungen aber, wonach der Realsozialismus eine „kommunistische Gewaltherrschaft“ war und die DDR nichts weiter als ein gescheitertes „kommunistisches Experiment“, sind heute höchst strittig. Zudem diskreditieren sie antikapitalistische Aktivitäten, die eine postkapitalistische Transformation und Umgestaltung der Gesellschaft anstreben. Insbesondere, wenn sie versuchen, in ihren Zukunftsvorstellungen an die fortschrittlichen Seiten und historischen Errungenschaften der DDR und des Realsozialismus anzuknüpfen.

Auch wenn es zutrifft, dass im Kommunismus-Diskurs mitunter „mit heißen Herzen und leuchtenden Augen“ illusionäre Vorstellungen, die eher einer antikapitalistischen Romantik verhaftet sind als dass sie zukunftsweisend wären, diskutiert und singuläre Nischenlösungen zu kommunistischen „Einstiegsprojekten“ hypertrophiert werden, so rechtfertigt dies doch nicht, diese Bemühungen pauschal als „stalinistische Brauchtumspflege“ zu diffamieren und ihren Protagonisten „intellektuelle Indolenz“ zu attestieren. Worauf bezieht sich überhaupt der Vorwurf des Stalinismus? Crome verweist auf eine Veröffentlichung der KPdSU aus dem Jahr 1938, die als „Kurzer Lehrgang“ bekannt und wegen ihres rüden Umgangs mit Andersdenkenden berüchtigt ist. In dieser Arbeit, worin kursorisch die Geschichte (und Vorgeschichte) der KPdSU seit 1883 abgehandelt wird, findet sich ein Exkurs „Über dialektischen und historischen Materialismus“, der zu einer Hälfte aus Marx- und Engels-Zitaten und zur anderen Hälfte aus simplifizierenden und vulgarisierenden Interpretationen derselben besteht. Von „Kommunismus“ aber ist hier kaum die Rede. Lediglich am Ende des Buches wird der „allmähliche Übergang zur kommunistischen Gesellschaft“ in Aussicht gestellt. – Seitdem ist viel passiert und die Theorie hat Fortschritte gemacht. Wenn daher heute von Kommunismus die Rede ist, so auf einer gänzlich anderen Grundlage und historischen Erfahrung als 1938. Dies wirft die Frage auf, ob es tatsächlich sinnvoll ist, bei der Behandlung des Themas ins 19. Jahrhundert zurückzugehen. Inwieweit sind die Termini „roher Kommunismus“ (Marx) und „Sozialismus“ (von Stein) sowie der bei Ruben und Crome als „Grundidee“ und als wichtigstes Unterscheidungsmerkmal von Kommunismus und Sozialismus geltende Dualismus von Gemeinschaft und Gesellschaft für das Verständnis einer künftigen Gesellschaft noch produktiv? Zumindest aber sind sie nicht der einzig mögliche Zugang zu dieser Problematik. Die Eventualität ihrer historischen Obsoleszenz sollte daher mit in Betracht gezogen werden, wenn man derzeit über Kommunismus- und Zukunftskonzepte debattiert! Ein derart abwägendes und auch von der eigenen Meinung abweichende Standpunkte gelten lassendes Herangehen aber scheint Crome fernzuliegen. Apodiktisch beharrt er auf seiner Position und urteilt abwertend über Andersdenkende. Statt überzeugende Argumente vorzutragen und sie mit anderslautenden Ansichten im wissenschaftlichen Austausch zu messen, diffamiert er jene, die seine Auffassung nicht teilen, als „umgekleidete frühere Brotgelehrte und neuromantische Schwärmer“, als „Neukonvertiten“ und „Wanderprediger kommunistischer Erlösung“. Wer damit genau gemeint ist, bleibt offen. Crome nennt weder Ross und Reiter noch streitet er mit offenem Visier. Vielmehr bleibt seine Polemik anonym und ist in der Sache nicht immer ganz klar, gelegentlich diffus. – So aber kommt keine sachliche Debatte zustande, kein konstruktiver Meinungsaustausch, kein produktiver Dialog.