25. Jahrgang | Nummer 12 | 6. Juni 2022

Einwürfe 2.0

von Wolfgang Schwarz

Es entsteht […] der Eindruck, dass Washington
sich schrittweise an die Schwelle herantastet,
an der der Kreml einen Teil seiner zahlreichen
taktischen Atomstreitkräfte in Bewegung setzt.

Helmut W. Ganser,
Brigadegeneral a. D.

Es wurde ja auch langsam Zeit, dass mal jemand diesen ewigen Blättchen-„Diskurslern“ – jenen „mit dem Thema ‚Der Westen und Russland‘ maßgeblich befassten Autoren“ – ordentlich den Marsch geigt, „die seit Jahr und Tag permanent Verständnis für Putin aufbringen“ und die trotz der russischen Aggression gegen die Ukraine „noch immer zu glauben [scheinen], dass der Westen Ursache allen Übels ist“.

Das Verdienst, damit aufgeräumt zu haben, gebührt Heinz Jakubowski mit seinen „Einwürfen“ in der vorangegangenen Ausgabe dieses Magazins. Und Jakubowski hat natürlich schon deshalb Recht, weil Angriffskriege bekanntlich immer aus heiterem Himmel beginnen, weswegen sich ja hinterher auch stets alle verwundert die Augen reiben und sich fragen, wie um Himmels Willen das nun schon wieder passieren konnte. Auf das Geschwätz alter Männer, ob sie nun George F. Kennan heißen oder John Mearsheimer, muss man in diesem Zusammenhang tatsächlich nichts geben. Der eine hatte in den 1990er Jahren, als Washington Kurs darauf nahm, „die NATO bis an die Grenzen Russlands auszuweiten“, orakelt, dies sei „der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik“ seit dem Ende der Systemkonfrontation und werde „die Ost-West-Beziehungen wieder in die Atmosphäre des Kalten Krieges […] versetzen und die russische Außenpolitik in eine Richtung […] lenken, die uns ganz und gar nicht zusagt“. Und der andere glaubte vor wenigen Monaten, der Meinung sein zu müssen, dass die aktuelle Krise „eine direkte Folge der närrischen Entscheidung der USA und ihrer Verbündeten [ist], die Ukraine in die Nato bringen zu wollen“, denn: „Russland möchte kein westliches Bollwerk vor seiner Haustür […]. Ich verstehe nicht, warum so viele im Westen diese simple Tatsache nicht begreifen können.“

Wunderbar deshalb auch, dass Jakubowski in seinen „Einwürfen“ Moskau und dessen paranoider Sicht auf die NATO die Leviten gleich mit gelesen hat. Von löblicher Stringenz ist dabei vor allem seine Feststellung, dass „diese NATO-Erweiterung in der Realität nichts zu sicherheitspolitischen Lasten Russlands verändert“ habe, ja mehr noch: „Der Westen müsste schwachsinnig sein, von Ost- oder Nordeuropa aus Russland überfallen zu wollen […], weil es für das grandiose Scheitern solcher Versuche in der Geschichte unvergessene Präzedenzfälle gibt.“

Basta! Mehr muss dazu wirklich nicht gesagt werden.

Allenfalls könnte man untermauernd ergänzen: Und weil im Westen eben allenthalben so viel und gründlich aus der Geschichte gelernt wird, sind die USA samt anderen nach 9/11 auch gar nicht erst in Afghanistan eingefallen. Man hätte ja anderenfalls über 20 Jahre dort hängebleiben können, nur um am Ende dann doch mit heruntergelassenen Hosen dazustehen – wie in den 160 Jahren zuvor bereits die Briten (seit 1842, gleich mehrfach) und die militärische Supermacht Sowjetunion. Im Übrigen kann es im Westen natürlich per se gar nicht vorkommen, dass ein tumber oder auch nur irrational agierender Staatsführer, dem seine Generäle und Geheimdienste erklären, dieses Mal würde es (aus welchen Gründen auch immer) ganz bestimmt klappen, wider die unvergessenen Präzedenzfälle trotzdem losmarschiert.

Darüber hinaus, um zu Jakubowski zurückzukehren, tummeln sich da ja auch noch, obzwar nicht unbedingt im Blättchen, die alarmistischen Kassandras vom Schlage eines Dmitri Trenin, bis vor kurzem Carnegie-Chef in Moskau, oder des Polit-Methusalems Peter Graf Kielmannsegg, die Russlands Überfall schamlos zum Vorwand nehmen, um ihren Senf einmal mehr dazuzugeben. Ersterer behauptet, obwohl der Ukraine-Krieg „derzeit keinen länderübergreifenden Charakter“ trage: „Die Gefahr jedoch, dass er sich zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen Russland und dem NATO-Block zuspitzt, besteht nicht nur, sondern nimmt sogar zu.“ Letzterer hat dieser Tage fabuliert: „Die nukleare Drohung grundsätzlich nicht ernst zu nehmen, weil es immer möglich ist, dass Putin nur blufft, hieße, das Risiko der Apokalypse in Kauf zu nehmen.“ Solchen knieweichen Betschwestern hat Heinz Jakubowski ein für alle Mal ins Stammbuch geschrieben, dass „nun wirklich alle Welt [weiß], dass aus einem konventionellen Krieg zwischen Russland und der NATO zwangsläufig ein Atomkrieg werden müsste – und der […] ist für niemanden gewinnbar“. Da liegt doch für jeden halbwegs klar Denkenden auf der Hand, dass das Ereignis als solches – Krieg zwischen Russland und der NATO – eine Schimäre ist: „Weil, so schließt er messerscharf, / nicht sein kann, was nicht sein darf.“ Also wenn Morgenstern hier nicht zitiert werden muss, wo dann wohl sonst!

Dass Heinz Jakubowski beiläufig auch noch die „honorigen Unterzeichner des Briefes in der ‚Emma‘“ abgefertigt hat, fügt seinem Verdienst ein weiteres Ruhmesblatt hinzu. Denn dass es, wie Jakubowski den Emma-Truppler entgegnet, „ein umgehendes Ende des Krieges [braucht]“, ist ja nun sowas von einer – weiter O-Ton Jakubowski – „Binsenweisheit, die durch die Realitäten gebrochen wird“, weil „der jetzigen Situation die jetzt so geforderten Verhandlungen vorausgegangen“ sind, dass es eigentlich keiner gesonderten Erwähnung bedarf. Zwar wurden in der jüngeren Neuzeit wahrscheinlich die meisten aller Kriege zwischen Staaten auf dem Verhandlungswege beendet, aber da die stellvertretende Direktorin des Programms für internationale Sicherheit der USA, Emily Harding, bereits zu Beginn des Ukraine-Krieges davon ausging, dass er zehn Jahre dauern könnte, muss man sich darüber jetzt in der Tat noch nicht den Kopf zerbrechen.

Abschließend spricht Heinz Jakubowski sein Machtwort über die „Diskursler“ und „mit dem Thema ‚Der Westen und Russland‘ maßgeblich befassten Autoren“ im Blättchen: Deren Beiträge seien „reine und ablenkende Relativierung dessen, was derzeit geschieht und was derzeit erforderlich ist“. Wahrlich – wacker gebrüllt, Löwe! Auch wenn das, „was derzeit erforderlich ist“, von Jakubowski nicht weiter konkretisiert wird. Doch dafür haben wir ja Anton Hofreiter, den General von den Grünen, der, landab, landauf mantraartig fordert, gegebenenfalls auch noch das letzte kampftaugliche schwere Waffensystem der Bundeswehr nach Kiew zu schicken (siehe dazu auch Antworten in dieser Ausgabe).

Und gottseidank wissen sie zumindest in Washington offensichtlich auch immer besser, „was derzeit erforderlich ist“. Am 27. Mai 2022 meldete die Internetplattform Global.Security.org jedenfalls: „Die US-Regierung hat beschlossen, Mehrfachraketenwerfer (MLRS) an die Ukraine zu liefern […], deren Reichweite je nach den verwendeten Projektilen zwischen 70 und 500 Kilometern liegt.“ Zwar soll Medienberichten zufolge nur Werfermunition mit einer Reichweite von 80 Kilometern geliefert werden, und US-Präsident Joe Biden höchst eigenhändig versicherte in der New York Times: „Wir wollen keinen Krieg zwischen der NATO und Russland.“ Doch man weiß ja nie. Beim Verpacken von Versandgut soll es schon vorgekommen sein, dass Subalterne das falsche Modell eingewickelt haben. Und vom ukrainischen Grenzort Sumy aus sind es bis nach Moskau schließlich nur knapp 570 Kilometer …