25. Jahrgang | Nummer 4 | 14. Februar 2022

Bemerkungen

Über einen Menschenfreund im Kiefernwald

Franz Fühmann – am 15. Januar war sein 100. Geburtstag – ist ein als Persönlichkeit schwer zu fassender Autor. In den 1950ern sah er noch hoffnungsvoll auf eine sozialistische Zukunft des Landes, in das ihn der Krieg und seine Folgen gespült hatten. Aber spätestens mit der Niederschlagung des Prager Frühlings entzog er sich zunehmend dem offiziellen Literaturbetrieb der DDR. Gleichwohl blieb er Mitglied der Akademie der Künste. Die Angebote für Kinder zu den „Tagen der Akademie“ gingen auf seine Initiative zurück. Und Kinder waren über mehrere Jahre die ersten, denen er neue Werke vorstellte. Konkret seine Neuerzählungen klassischer Mythen und Sagen: die Epen um Troja und den Weltenfahrer Odysseus, die Sage von Prometheus und die große Erzählung von der Nibelungen Not und der fürchterlichen Rache Kriemhilds. Das war nur möglich durch die Unterstützung einer umtriebigen Deutschlehrerin – der Name sei hier unbedingt genannt: Irmgard Pöche – an der POS in Märkisch Buchholz. Und das Bewundernswürdigste: Franz Fühmann arbeitete oft nach den Vorschlägen der Kinder um … Dass dies an einer von Berlin, hier wohnte er eigentlich, dermaßen abgelegenen Schule passierte, war kein Zufall. Bei Märkisch Buchholz hatte der Dichter sein Schreibdomizil: „Berlin ist mir zu laut, ich kriege dort keine Luft …“ Das Häuschen, „eigentlich nur ein halbes Häuschen, […] zwei Zimmerchen, eine Kochstelle, ein halber Keller, das Klohäusl draußen“, liegt drei Kilometer weg vom eigentlichen Ort im Wald verborgen. Die Schreibwerkstatt selbst war seit 1976 eine unbeheizbare Wellblechgarage etwas abseits vom Haus, vollgestopft mit den aus Berlin herbeigeschafften Teilen der Fühmannschen Bibliothek, die wichtig für das jeweilige Schreib-Thema waren. Paul Alfred Kleinert stellt den Ort in einem der wunderbaren „Frankfurter Buntbücher“ vor. Kleinert beschreibt das ambivalente Verhältnis Franz Fühmanns zur märkischen Landschaft („… ich bin kein Märker …“), die Beziehungen zu den Bewohnern des Ortes – im Gegensatz zu den Kindern hielt er wohl zu den Erwachsenen immer ein wenig Distanz. Er bilanziert auch das hier geschriebene Werk. „Brandenburgisches“ findet man da kaum. Dafür aber viel Welt. Und einen ganzen literarischen Kosmos, den zu erschließen es wohl der Stille des dortigen Kiefernwaldes bedurfte. Franz Fühmann liegt in Märkisch Buchholz begraben, auf eigenen Wunsch. Er suchte wohl auch im Tode die Stille und wollte von der Freundlichkeit des Ortes nicht lassen.
Vom Umfang her ist es nur ein schmales Büchlein, das Kleinert hier vorgelegt hat. Von der Gewichtigkeit her ist es umgekehrt. Wie die meisten der Hefte dieser Reihe ist es vom Verlag hervorhebenswert ausgestattet worden. Und es gibt eine hübsche Beigabe. Ein faksimilierter Brief Fühmanns an die Buchhändlerin Anke Knieper beschreibt, wie man zu ihm hinfindet.
Paul Alfred Kleinert hat sein Büchlein Irmgard Pöche gewidmet. Eine anrührende Geste, finde ich.

Wolfgang Brauer

Paul Alfred Kleinert: Ein „österreichischer Schriftsteller“ im Brandenburgischen – Franz Fühmann in Märkisch Buchholz, Verlag für Berlin-Brandenburg (Frankfurter Buntbücher 70), Berlin 2022, 32 Seiten, 8,00 Euro.

Maschinen des Verkehrs und der Arbeit

Ein einsames Blatt tanzt am kahlen Zweig im Wind. Bilder wie dieses, Beobachtungen von (Stadt)Landschaften, Wegen und Hausfassaden treffen die Atmosphäre der Texte, die Gertrud Kolmar, geboren 1892 in Berlin, umgebracht 1943 in Auschwitz, in ihren Gedichten beschrieb. Der Filmemacher Sven Boeck hat über ein Jahrzehnt ohne Förderung an einer Trilogie über die Dichterin, die zwischen 1917 und 1938 nur drei Bücher veröffentlichte und heute als eine der bedeutenden Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts angesehen wird, gearbeitet. Er hat den Film geschrieben und selbst produziert, hatte die Regie inne, führte die Kamera, montierte das Werk selbst – und die Mühe hat sich gelohnt.
Boeck gab seiner Trilogie den Titel „Herzbergmaschine“, denn er konzentriert sich im ersten Teil auf die Arbeit der Kolmar, die sie zwangsweise in einer Kartonage-Fabrik in der Lichtenberger Herzbergstraße zu verrichten hatte. Glücklicherweise gibt es zahlreiche Briefe aus dieser Zeit, aus denen zitiert werden kann und die den Alltag von Juden unter den Nazis fassbar machen. Kolmar hatte zu dieser Zeit eine späte, schüchterne Liebe, schrieb auch an einem Roman, dessen Manuskript offenbar ebenso wie sie selbst vernichtet wurde. Im Vordergrund des ersten (und umfangreichsten) Filmteils steht der Einsatz in der Fabrik. „Die Maschinen des Verkehrs füttern die Maschinen der Arbeit mit Menschen“, heißt es im Filmtext. Den Kontrast bildet Kolmars Liebe zur Natur, ihre Sehnsucht nach Finkenkrug bei Falkensee, wo ihr Vater, der Jurist Ludwig Chodziesner, ein Häuschen hatte. Anders als ihre Geschwister ging Gertrud Kolmar nicht in die Emigration, weil sie den Vater nicht allein lassen wollte. Weder ihn noch sich selbst konnte sie letztlich vor der Deportation retten.
Die beiden kürzeren Teile der Trilogie widmet Sven Boeck der Schwester Gertrud Kolmars und ihrer Nichte, die der Regisseur im brasilianischen Exil ausfindig machen konnte. Hilde Wenzel, die das Schicksal ihrer Schwester und des Vaters in der Ferne sehr bewegte, führte ein Traumtagebuch, aus dem zitiert wird. Sabina Wenzel schließlich hat sich in internationalen Organisationen engagiert und lebte lange in der Schweiz. Auch an ihrem Beispiel erzählt Boeck sensibel von Narben und Wunden der Überlebenden. Diesen drei Filmen sind viele Zuschauer zu wünschen.

F.-B. Habel

Herzbergmaschine 1–3, Regie: Sven Boeck, nächste Aufführungen: 17.2., 19 Uhr im ACUD-Kino Berlin-Mitte; 23.2., 17.30 Uhr, Kino Delphi LUX am Bahnhof Zoo, Berlin; 10.4., 11 Uhr, Bundesplatz-Kino Berlin-Wilmersdorf.

PARISER PHANTASIEN

von Germain Nouveau (1851 bis 1920)

Welch Freuden köstliche Gemälde uns verschaffen:
Fastnächte von Boucher und Tänze von Watteau,
Faune im Moschusduft, Zierdämchen, Fürsten, Grafen
Mit schwarzer Halbmaske und ganz inkognito.

Stets frohe Liebhaber, Schönheiten, die nicht geizen,
Füllen die Schlossräume mit frischen Küssen aus
Oder sie fahren mit bizarr geschminkten Reizen
Im wundersamen Boot nach Kythara hinaus.

All dies galante Volk weiß sich nicht abzufinden
Mit Prosa und dem, was an Tatsachen man sieht;
Auf ihren Wegen, die zuletzt in Wollust münden,
Sind um das Ausstreuen von Rosen sie bemüht.

An Liebe glauben sie, die leichte Kunst verzierte,
Schrecken vor Ausbrüchen der Leidenschaft zurück,
Und niemand kennt, selbst wenn man reizend sich verirrte,
Werther mit bleicher Stirn, René mit Denkerblick!

Übersetzt von Frank Stückemann, Soest, 2021

Zitiert: Tucholsky über Charlie Chaplin

[…] Er bekommt es fertig, nur durch seine Erscheinung andere Leute lächerlich zu machen. Er braucht nur aufzutreten, mit dem kleinen Hütchen, mit dem kleinen Stöckchen, mit dem kleinen Schnurrbärtchen, watscheln auf seinen unmöglichen Beinen – und alles drum herum hat plötzlich unrecht, und er hat recht, und die ganze Welt ist lächerlich geworden. Es gibt ein Bild von ihm aus dem Kriege, auf dem der Zeichner den deutschen Kaiser abgebildet hat und seine Generäle – mit starrenden Schnurrbärten und furchteinflößenden Helmen. Ihre Augen kullern ihnen fast aus dem Kopf, sie sehen alle auf eine Sache. Denn vor ihnen latscht Chaplin durch den Saal, sich leise einen pfeifend und unbeschreiblich frech sein Stöckchen schwingend. Und der ganze Militarismus ist hinten heruntergefallen.
„All der Unsinn, den Mister Chaplin macht, kommt aus den mißlingenden Versuchen, so zu sein, wie andere Leute auch.“ Er hat einmal gesehen, wie der Mixer mixt und wie er in dem Affentanz von Eisstückchen, Cherrycoblern, Silberbechern und Herumhantieren an jedem Ei kurz riecht, bevor er es in den Topf schlägt … Aha, das macht man so. Und wenn er, Chaplin, mixt, riecht er auch an dem Ei. Aber bevor er es aufschlägt. Das kommt in der Fixigkeit nicht so genau darauf an …
Man sagt, daß er alle seine Filme probeweise Kindern vorspiele. Wenn das nicht wahr ist, ist es brillant erfunden. Denn diese Filme mit der nachdenklichen Komik, mit der lustigen Tragik wenden sich an das Kind im Menschen, an das, was wohl bei allen Völkern gleich geblieben ist: an die unverwüstliche Jugendkraft. Er stellt das primitivste dar, aber das genial. Und er zeigt, wie lächerlich es ist, ein erwachsener Mensch zu sein, der sich ernst nimmt.
Als er einmal von Europa zurück nach Los Angeles fuhr, begrüßten ihn auf einer kleinen amerikanischen Station zweihundert kleine Jungen, alle als Mister Chaplin verkleidet: mit dem kleinen Hütchen, mit dem kleinen Bärtchen und mit dem kleinen Stöckchen. So watschelten sie auf ihn zu … Und weil er sehr kinderlieb ist, hat er ihnen allen Guten Tag gesagt.
Er ist, wie alle großen Komiker, ein Philosoph. Versäumen Sie nicht, ihn sich anzusehen. Sie lachen sich kaputt und werden ihm für dieses Lachen dankbar sein, solange Sie leben.
Da geht er hin und ruckt nach all dem Kummer an einem kleinen Hut und watschelt ab und sagt mit den Beinen: „Auf Wiedersehn –!“

Kurt Tucholsky, 1922 

Elektronischer Rock in eckigen Klammern

Für eine Band, die bereits Mitte des vergangenen Jahrzehnts gegründet wurde, ist der quantitative Output relativ überschaubar. 2017 erschien die erste EP von [LEAK], eine zweite folgte zwei Jahre später und Ende 2021 erschien dann – endlich – ihr erstes Album.
Ihre Musik entsteht im Kollektiv. Gestartet sind sie als Quintett, die nun veröffentlichte CD „Ghost“ nahmen sie zu sechst auf. Das kollektive Soundtüfteln führt zwar nicht zu artifiziellen Werken, doch sie lassen sich viel Zeit …Oder sie nutzen die Zeit, die ja in Coronazeiten auch massive Auswirkungen auf das künstlerische Wirken hat(te).
Die [LEAK]-Musiker kreieren einen synthesizerlastigen Sound, der zwar keine klassischen Refrains kennt, aber durchaus melodisch ist. Selten bombastisch wirkend, eher changierend zwischen getragenen und von heftigen Gitarrenbeats getragenen Melodieläufen.
Die englischen Liedtexte sind nicht einfach zu verstehen. Das liegt nicht an der Sängerin Rachel Hackbarth, deren glasklare Stimme melancholische bis sehnsüchtige Stimmungen erzeugt.
Vielmehr vermeiden die Texte platte Aussagen oder Inhalte. Es finden sich stattdessen originelle Passagen. Im Lied „Thief“ heißt es beispielsweise: „A thief came and stole all the melodies out of my head.“ Oder in „Screaming Underwater“, einem der stärksten Songs (von dem auch eine sehenswerte Filmversion auf der Homepage der Band existiert) finden sich die Zeilen:
„I swim in a pond of youth for a week
Until I’m old, I feel fatigue“
Die Band hat mit ihrem ersten Album ein beeindruckendes Werk vorgelegt. Sie hat durchaus das Potential, über den fränkischen Dunstkreis hinaus ein Publikum zu gewinnen, das auf emotional wie intellektuell ansprechende Musik steht.
Im März und April kann man sich die Band mit den eckigen Klammern um den Bandnamen auch live zu Gemüte führen (so in München, Leipzig und Hamburg).

Thomas Rüger

[LEAK]: Ghost, CD, 2021, etwa 15,00 Euro. Mehr Informationen unter https://leaksound.com

WeltTrends aktuell

Die Kriegshysterie schlägt derzeit hohe Wellen. „Mehr Kalten Krieg wagen“ fordert Der Spiegel, während Die Zeit Hitler-Vergleiche „diskutiert“ und einen gespenstischen Aufruf publiziert, in dem über 70 Russland-Experten die Bundesregierung quasi dazu auffordern, gegenüber Moskau endlich blankzuziehen. Von Ausgewogenheit und Differenzierung keine Spur. Die ideologischen Scheuklappen des Kalten Krieges sind wieder da. Dieser gefährlichen Entwicklung stellen sich Wolfram Wallraf, Petra Erler und Walter Schilling im WeltBlick.
Seit fast drei Jahrzehnten begleitet WeltTrends kritisch die „neue deutsche Außenpolitik“. Mit dem Artikel „Deutschland braucht eine Neuaufstellung seiner Außenpolitik“ von Günther Maihold und Melanie Müller soll der notwendigen Debatte ein neuer Impuls gegeben werden. In einer weiteren Analyse setzt sich Botschafter a. D. Hellmut Hoffmann mit dem Stand der Verhandlungen zur Nuklearvereinbarung mit Iran auseinander.
Im Kommentar analysiert Erhard Crome die mit Blick auf die nächste Überprüfungskonferenz zum nuklearen Nichtverbreitungsvertrag abgegebene Erklärung der fünf „offiziellen“ Kernwaffenmächte.
Die Künstliche Intelligenz (KI) bestimmt mehr und mehr den Alltag der Menschen. Damit beschäftigen sich Gastherausgeber Christoph Sebastian Widdau und seine Autoren im Thema. Es geht um definitorische, politisch-theoretische und politisch-kulturelle Aspekte der KI. Welche gesellschaftspolitischen und kriegsethischen Herausforderungen sind mit ihr verbunden? Wie vertrauenswürdig ist KI?

am

WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 184 (Februar) 2022 (Schwerpunktthema: „Künstliche Intelligenz“), Potsdam / Poznan, 5,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

„Die Koordinierung der Außenpolitik Russlands und Chinas“, so der russische Präsident Wladimir Putin in einem Beitrag für die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua, „basiert auf engen und übereinstimmenden Ansätzen zur Lösung globaler und regionaler Fragen. Unsere Länder spielen eine wichtige stabilisierende Rolle im heutigen schwierigen internationalen Umfeld und fördern die Demokratisierung des Systems der zwischenstaatlichen Beziehungen, um es gerechter und inklusiver zu machen. Wir arbeiten gemeinsam daran, die zentrale koordinierende Rolle der Vereinten Nationen in globalen Angelegenheiten zu stärken und zu verhindern, dass das internationale Rechtssystem, in dessen Mittelpunkt die UN-Charta steht, ausgehöhlt wird.“

Wladimir Putin: Russland und China – eine zukunftsweisende strategische Partnerschaft, kremlin.ru, 03.02.2022. Zum Volltext hier klicken.

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„Wer die Wirtschaftsbeziehungen mit Russland in Frage stellt, der sollte umgekehrt einmal überlegen, welche Gesprächs- und Einflussmöglichkeiten Deutschland ohne Wirtschaftsbeziehungen mit Russland noch bleiben“, gibt Oliver Hermes, Vorsitzender des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft zu bedenken, und fährt fort: „Diese Brücken ganz abzubrechen, würde unsere Welt nicht sicherer machen. Die Bundesbürger wünschen sich übrigens mehrheitlich eine engere Kooperation zwischen EU und Russland: Zwei von drei Deutschen (62 Prozent) sprachen sich in einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag des Ost-Ausschusses für intensivere Beziehungen zwischen der EU und Russland aus.“

Oliver Hermes: Helsinki 2.0 statt Kriegsgeschrei, ost-ausschuss.de, 01.02.2022. Zum Volltext hier klicken.

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„In jedem Fall“, so das Fazit des Ex-Botschafters Frank Elbe zur Entwicklung des Verhältnisses zwischen dem Westen und Russland seit 1990, „sind wir in Riesenschritten in den Kalten Krieg zurückmarschiert. Es wäre fahrlässig, diese Entwicklung ausschließlich an der Annexion der Krim, an Nawalny oder anderen festgestellten oder behaupteten Fehlentwicklungen der russischen Politik festzumachen, ohne auch die Verantwortlichkeit des Westens für den gegenwärtigen Zustand zu untersuchen. Die Politik, auf Distanz zu Russland zu gehen, hat nämlich viele schon viele Jahre früher eingesetzt, als Russland keinerlei Anlass für einen westlichen Paradigmenwechsel des Westens gegeben hat.“

Frank Elbe: Zum Umgang mit Russland – Rückkehr zu bewährten Strategien, blog-der-republik.de, 19.01.2022. Zum Volltext hier klicken.