Seit Wochen eskaliert der Konflikt um die Ukraine, in dem es unter anderem um grundlegende Fragen der internationalen Sicherheit zwischen dem Westen und Russland geht.
Am 15. Dezember 2021 hatte die russische Regierung den USA und der NATO Vertragsentwürfe unterbreitet, um die künftigen militär-politischen Beziehungen zwischen beiden Seiten auf der Grundlage der Prinzipien der unteilbaren und der gleichen Sicherheit völkerrechtlich verbindlich zu regeln. Russland unterbreitete damit folgende Kernvorschläge und -forderungen (hier in der zusammenfassenden Darstellung durch RT DE)
– zum einen gegenüber den USA:
- „ Die Seiten dürfen das Hoheitsgebiet anderer Staaten nicht zur Vorbereitung oder Durchführung eines bewaffneten Angriffs gegen Russland oder gegen die Vereinigten Staaten nutzen.
- Die USA sollten sich verpflichten, eine fortgesetzte Osterweiterung der NATO auszuschließen und die Aufnahme von Staaten, die früher zur UdSSR gehörten, in das Bündnis abzulehnen. Dies gilt zumindest für die Ukraine und Georgien, die immer wieder den Wunsch geäußert haben, dem Bündnis beizutreten.
- Die USA sollten keine Militärstützpunkte auf dem Territorium ehemaliger Sowjet- und Nicht-NATO-Staaten errichten, deren Infrastruktur nicht für militärische Aktivitäten nutzen und keine bilaterale militärische Zusammenarbeit mit ihnen entwickeln.
- Russland schlägt außerdem vor, gegenseitig auf die Stationierung von Streitkräften und Waffen – auch im Rahmen internationaler Organisationen, Militärbündnisse oder Koalitionen – in Gebieten zu verzichten, in denen eine solche Stationierung von der anderen Seite als Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit empfunden würde, ebenso auf Flüge schwerer Bomber außerhalb des nationalen Luftraums, die für nukleare oder nichtnukleare Waffen ausgerüstet sind, sowie auf Überwasserkriegsschiffe aller Klassen in Gebieten außerhalb der nationalen Hoheitsgewässer, von denen aus sie eingesetzt werden könnten, zu verzichten.
- Russland schlägt auch vor, zu dem Grundsatz zurückzukehren, dass landgestützte Mittelstreckenraketen und Kurzstreckenraketen nicht außerhalb des eigenen Hoheitsgebiets stationiert werden dürfen.
- Moskau hält es auch für notwendig, die Stationierung von Atomwaffen außerhalb des eigenen Territoriums auszuschließen.“
– und zum anderen gegenüber der NATO:
- „ Die Nichtverlegung von Streitkräften und Rüstungsgütern durch Russland und die NATO-Länder in das Hoheitsgebiet aller anderen europäischen Staaten, zusätzlich zu den Streitkräften, die sich am 27. Mai 1997 bereits in diesen Hoheitsgebieten befanden.
- Die Beseitigung der Stationierung von landgestützten Mittelstrecken- und Kurzstreckenraketen in Gebieten, von denen aus sie Ziele im Hoheitsgebiet anderer Parteien angreifen können.
- Den Verzicht auf die fortgesetzte NATO-Erweiterung, einschließlich des Beitritts der Ukraine und anderer Staaten.
- Die NATO-Staaten sollten auf alle militärischen Aktivitäten in der Ukraine sowie in anderen osteuropäischen, transkaukasischen und zentralasiatischen Staaten verzichten.
Noch während Moskau auf die angemahnte schriftliche Beantwortung wartete (die inzwischen erfolgt ist, wobei die russischen Kernvorschläge und -forderungen im Wesentlichen abgelehnt worden sind), gab Dmitrij Trenin, Direktor des Carnegie Moscow Centers, der Kommersant-Korrespondentin Jelena Tschernenko (J.T.) das folgende Interview, das wir im Wortlaut dokumentieren.
Jelena Tschernenko – Ich möchte, wie in dem berühmten Film, fragen: „Stehen wir am Vorabend eines großen Schreckens?“ Aber die Lage scheint ernst zu sein und deshalb stelle ich meine Frage so: Stehen wir am Vorabend eines realen bewaffneten Konflikts?
Dmitrij Trenin – Wenn wir über eine sehr kurzfristige Perspektive, etwa über den nächsten Monat sprechen, denke ich nicht. Was eine längere Sicht betrifft, habe ich hier Fragen an beide Seiten.
Die Frage für die westliche Seite ist, ob die Kiewer Staatsmacht oder einige ihrer Untergliederungen oder einige Elemente, die nicht so sehr unter ihrer Kontrolle stehen, zusammen mit einigen zwielichtigen Akteuren eine Provokation arrangieren werden, um Russland hineinzuziehen? Die Antwort auf diese Frage ist eher verneinend. Ein solches Szenario würde dem keinen großen Vorteil bringen, der über Kiew steht.
Eine solche Provokation kann nicht anders als mit einer Niederlage der ukrainischen Streitkräfte enden.
Das Ausmaß der Niederlage für die Ukraine könnte unterschiedlich ausfallen. Und wie hoch der Preis dieses Sieges für Russland auch sein mag, er wird den kolossalen Schlag nicht ausgleichen, den eine Niederlage der Ukraine dem Ansehen der Regierung von Joe Biden – und vor allem innerhalb der USA – zufügen wird. Nach Afghanistan zum zweiten Mal einen prominenten regionalen Verbündeten zu verlieren, wäre für die Regierung gerade im inneramerikanischen Kontext äußerst gefährlich. Hinzu kommen der Kontext der NATO und der Faktor des amerikanischen Ansehens in der Welt. Schließlich beobachten Länder wie China und der Iran diese Situation sehr genau.
Halten Sie die georgische Option für unwahrscheinlich?
Ja, ich habe den Eindruck, dass die Amerikaner genügend Kontrolle über die ukrainische Regierung und die in der Ukraine operierenden Elemente haben.
Und wie lautet die Frage für Russland?
Es gibt eine Menge Fragen an Russland. Ich denke, alles wird davon abhängen, welche Bewertung der Oberste Befehlshaber, der Präsident der RF [Russischen Föderation], all dem gibt, was sich vor unseren Augen abspielt. Ich spreche von all den jüngsten diplomatischen Bemühungen, die durch militärische Manöver und Hinweise auf militärische und militärtechnische Maßnahmen unterstützt werden. Hier gibt es wirklich eine Menge Fragen, denn wir können nicht wissen, was genau Wladimir Putin vorhat. Was ist sein Plan? Was ist seine Strategie? Welche Optionen sieht er für verschiedene Szenarien der Lageentwicklung? Das ist von außen sehr schwer zu beurteilen.
Klar ist jedenfalls, dass die von Russland vorgetragenen Forderungen, die es als Schlüssel bezeichnet, vom Westen nicht erfüllt werden können. Zumindest nicht in der Form, in der diese Forderungen gestellt wurden. Und da dies für jeden offensichtlich ist, weiß dies natürlich auch der Präsident. Die Frage ist, was er als Antwort auf die Ablehnung vorbereitet.
Sie schließen also die Möglichkeit aus, dass die USA und ihre Verbündeten der Forderung Russlands nach einer Art Garantie für die Nichterweiterung der NATO nachkommen werden?
Es wird keinerlei rechtsverbindlichen Vertrag über eine Nicht-Erweiterung der NATO geben. Es wird auch keine schriftliche politische Verpflichtung geben, dass die Ukraine und Georgien „zu keiner Zeit – unter gar keinen Umständen“ (worauf die russische Seite besteht) in die NATO aufgenommen werden. Die Frage ist, wie sich Russland verhalten wird, wenn endlich klar ist, dass diese Forderungen, die Russlands Offizielle wiederholt als „absoluten Imperativ“ bezeichnet haben, von den westlichen Ländern abgelehnt werden.
Welche Möglichkeiten sehen Sie in dieser Situation?
Das eine Szenario ist das logische. Es wird bekannt gegeben werden, dass wir im Allgemeinen nicht damit (mit einer Vereinbarung über eine Nicht-Erweiterung der NATO und so weiter – J. T., Kommersant) gerechnet haben. Wir sind keine dummen Menschen, wir verstehen alles sehr gut. Aber notwendig war, die Situation aus der Sackgasse herauszuholen, die ganze westliche politische, diplomatische und militärische Masse aufzurütteln, vor allem in Washington, um ihnen die Ernsthaftigkeit unserer Absichten zu zeigen. Und als Ergebnis haben wir etwas bekommen.
Erstens haben sie unsere Vorschläge nicht von vornherein abgelehnt, sondern sind darauf eingegangen. Und außerdem haben sie sich bereit erklärt, schriftlich auf unsere Vorschläge zu antworten, was ernst zu nehmen ist. Und das bedeutet, dass sie damit de facto die Ernsthaftigkeit unserer Bedenken und Forderungen anerkennen.
Zweitens erklärten sie sich bereit, über jene Themen zu sprechen, die für uns wichtig waren und die sie bisher ignoriert hatten. Zum Beispiel unser Vorschlag für ein gegenseitiges Moratorium für die Stationierung von Mittelstreckenraketen und Kurzstreckenraketen. Vorher wollten sie nichts davon hören, aber jetzt fordern sie uns auf, zu verhandeln. Sie sind jetzt auch bereit, über Begrenzung von Militärmanövern in der Nähe unseres Territoriums zu sprechen, über all diese Übungen auf See- und in der Luft, einschließlich der simulierten Starts von Atomraketen. Wir haben ihnen wiederholt angeboten, sich in diesem Bereich zurückzuhalten, aber sie haben erst jetzt auf uns gehört. Es gibt eine Antwort auf eine Reihe anderer Initiativen Russlands.
Die russischen Forderungen wurden auf so entschiedene Art und Weise vorgetragen, um die Westmächte, insbesondere die Vereinigten Staaten, zu einem für uns sicherheitspolitisch günstigen Verhalten zu bewegen.
Für uns war es wichtig, nicht nur die Situation an unseren Westgrenzen zu entschärfen, sondern vor allem den Westen dazu zu bringen, sich endlich mit uns in europäischen Sicherheitsfragen zu arrangieren.
Dies ist bereits geschehen, weil der Dialog begonnen hat. Zum ersten Mal seit den Gesprächen über die Vereinigung Deutschlands hat sich der Westen bereit erklärt, mit Russland über die Sicherheit Europas zu sprechen. Von 1999 bis 2021 beruhte die Sicherheit in Europa auf dem guten oder schlechten Willen der Vereinigten Staaten, wobei die NATO das wichtigste Instrument war. Heute verhandeln die USA und die NATO wie zu den Zeiten von Jalta und Helsinki mit Russland über die Sicherheit Europas. Und diese Sicherheit selbst wird sich auf zwei Säulen gründen statt auf einer.
Müssen wir in einem solchen Szenario auch damit rechnen, dass der Westen, besonders die USA bereit sein werden, erheblichen Druck auf die Ukraine auszuüben, damit sie die Minsker Vereinbarungen umsetzt?
Ich hoffe sehr darauf. Aber ich würde derzeit noch nicht mit einer solchen Aktion der USA rechnen. Die Minsker Vereinbarungen sind ein diplo-matischer Sieg für Russland. Er beruht auf dem militärischen Sieg, den die Milizen und die sie unterstützenden Kräfte im Februar 2015 über Streitkräfte der Ukraine errungen haben. Ich bin mir nicht sicher, ob in den USA die Auffassung vorherrscht, dass der Schlüssel zur Entschärfung der Situation um die Ukraine in der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen liegt – auch wenn dies genau so ist.
Diese Vereinbarungen können im Prinzip noch umgesetzt werden. Das Gebiet Donbass kann nach wie vor zu diesen Minsker Bedingungen wieder in die Ukraine eingegliedert werden, wobei die Rechte der Bewohner der Region gewährleistet bleiben und die territoriale Integrität der Ukraine innerhalb der von Russland anerkannten Grenzen gewahrt wird. Bislang sehe ich jedoch nicht die Bereitschaft Washingtons, Kiew zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen zu drängen.
Der ungelöste Konflikt im Donbass ist der beste formale Vorwand, um weiterhin Druck auf Moskau auszuüben. In den zurückliegenden Jahren hat die US-Politik darauf – die Ukraine ist nur ein Element davon – abgezielt, den Druck auf Russland zu erhöhen. Wenn ich die westliche Strategie richtig verstehe, wird dieser Druck in dem Moment seinen Höhepunkt erreichen, wenn der Prozess des Machtwechsels in Russland beginnt. In einer Konfrontation mit China brauchen die Amerikaner ein nachgiebigeres Russland. Aber das ist ein langfristiges Ziel, kein kurzfristiges.
Okay, das ist das eine Szenario, verstanden, und wir nehmen, was Sie uns angeboten haben.
Ja, hier ist daran zu erinnern, dass Politik die Kunst des Möglichen ist; es gibt weitere Argumente anzuführen, die für dieses Szenario sprechen.
Das andere Szenario geht davon aus, dass die Lage tatsächlich sehr ernst ist. Wir sind bereits an dem Punkt angelangt, an dem eine neue Politik Russlands beginnt, die alte zu verdrängen. Mein Buch „Das neue Kräftegleichgewicht“ beschreibt, dass die russische Außenpolitik – sowohl unter Jelzin als auch unter Putin, einschließlich der Medwedew-Periode – auf den Schultern der Politik von Gorbatschow steht. Auf die eine oder andere Weise geht es um die Fortsetzung der Integration in die westliche Welt, um die Suche nach dem eigenen Platz in dieser Welt, die Suche um ein gewisses Gleichgewicht der Interessen in den Beziehungen zu den USA und anderen westlichen Ländern, wobei der Schwerpunkt auf der Zusammenarbeit liegt.
Was aber, wenn dieser Kurs nun radikal überdacht wird? Und das gilt nicht nur für die Außenpolitik, sondern auch für den Weg, den Russland insgesamt einschlägt. Was ist, wenn wir uns von einer Zeit entfernen, in der die Hauptaufgabe darin bestand, sich in eine gemeinsame Welt zu integrieren, wenn auch zu unseren eigenen Bedingungen? Und was wäre, wenn der Bruch mit dem Westen, von dem Präsident Putin in Reaktion auf die perspektivischen amerikanischen „Sanktionen aus der Hölle“ sprach, Wirklichkeit werden würde? Was, wenn Russland infolgedessen ein völlig anderes außen- und innenpolitisches (einschließlich wirtschaftliches, soziales und ideologisches) Projekt in Angriff nimmt?
Möglicherweise ist bereits ein selbstständiges „russländisches Projekt“ im Entstehen, bei dem es nicht mehr darum geht, sich in eine Welt einzubetten, in der der Westen eine zwar nicht dominante, aber doch führende Rolle spielt.
Bei einem Bruch mit dem Westen könnte Russland viel engere, darunter auch de facto Bündnisbeziehungen mit bedeutsamen nicht-westlichen Ländern eingehen, in erster Linie mit China, aber auch mit Iran sowie mit den Opponenten der USA in der westlichen Hemisphäre – Venezuela, Kuba und Nicaragua. In dieser Option könnte die politische Aktivität Russlands wesentlich zunehmen. Moskau könnte sich vornehmen, was ihm der Westen gewöhnlich vorwirft.
Sprechen Sie über die Schaffung von Einflusszonen?
Sowohl über Einflusszonen als auch über das Recht, unerwünschte Regime mit Gewalt zu stürzen. Die USA haben, zum Beispiel, im Irak ein diktatorisches Regime gestürzt. Ja, sie haben dort keine Massenvernichtungswaffen gefunden. Aber im Großen und Ganzen ist der Westen der Meinung, dass sie bei der Beseitigung eines Diktators recht gute Arbeit geleistet haben.
Und ich stelle fest, dass Russlands Diplomaten und der Außenminister, vor allem wenn sie über die Behörden der Ukraine sprechen, immer häufiger den Begriff „Regime“ verwenden. Regime ist etwas Nichtlegitimes. Zumindest unter moralischen und ethischen Gesichtspunkten. Und wenn die Machthaber illegitim sind, warum wäre dann nicht gesunden Kräften zu helfen, sie zu stürzen?
Ich habe das Gefühl, dass Russland nach einem neuen Kristallisationspunkt für den postsowjetischen Raum sucht. Hier sind alle möglichen Entwicklungen denkbar, zum Beispiel die Ausweitung des Begriffs „Unionsstaat“ auf den Einschluss neuer Territorien. Sollten die Behörden Russlands zu dem Schluss kommen, dass die Vereinbarungen von Minsk nicht umgesetzt werden können, könnten sie die selbsternannten Republiken Donezk (DNR – die Redaktion) und Lugansk (LNR – die Redaktion) als einen oder zwei Staaten anerkennen und sie in den Unionsstaat Russland und Weißrussland einbeziehen. Hypothetisch könnten auch Südossetien und Abchasien in diese Union einbezogen werden.
Wenn Russland das überwinden will, was ihm nicht gefällt, heißt das es wird gehandelt nach dem Prinzip „Wenn wir es nicht auf einfache Art und Weise machen können, werden wir Gewalt anwenden.“. Es ist unwahrscheinlich, dass die USA dies wirklich verhindern können; sie werden sich auf einen direkten Konflikt mit Russland nicht einlassen.
Sie haben so zwei sehr unterschiedliche Szenarien beschrieben. Ähnlich wie beim Schach ist die erste Szenario ein raffiniertes Spiel mit vorbereiteten Zügen, bei dem die Risiken kalkuliert werden. Im zweiten Fall kippt einer der Spieler einfach das Brett mit allen Steinen um.
Ja, das ist richtig.
Welches Szenario wird also jetzt umgesetzt?
Ich weiß es nicht. Nur eine Person in unserem Land kann diese Frage beantworten. Es ist unmöglich, seine Antwort von außen zu berechnen.
Russland hat die Möglichkeit, sowohl das erste als auch das zweite Szenario umzusetzen. Der russische Staat und seine Streitkräfte werden bereit sein, jede der ihnen gestellten Aufgaben zu lösen.
Aber beide Szenarien haben jedoch ihren Preis und bergen einige bekannte Risiken. Im ersten Fall geht es um Reputationsverluste, sowohl international als auch im Inland. Wenn Russland abrückt von seinen Forderungen, die es als „absoluten Imperativ“ bezeichnet hat, könnte man Russland vorwerfen, dass es blufft. Großmächte bluffen nicht. Wenn Russland blufft, dann steigt es ab, auf eine niedrigere Stufe der internationalen Rangordnung. Auch wenn dies von einem Teil der Bevölkerung negativ wahrgenommen wird, ist es aber im Allgemeinen nicht schlimm. Die Macht ist innerhalb des Landes genug gefestigt. Das internationale Ansehen wird eher leiden. Und Russland könnte in Zukunft weniger ernst genommen werden. All dies kann man jedoch überstehen.
Das zweite Szenario, bei dem auf eine gewaltsame Entwicklung gesetzt wird, führt zu einem sehr schweren Zusammenbruch der Beziehungen, dabei auch innerhalb des Landes. Es macht die Hoffnungen eines kleinen, aber einflussreichen Teils der Elite Russlands zunichte, der immer noch hofft, dass sich die Beziehungen zum Westen irgendwann normalisieren werden. In der radikalen Version, die von einer Reihe westlicher Denkfabriken beschrieben wird, wird es auch breite Schichten der russischen Bevölkerung auf die Probe stellen. Wir sprechen über das Szenario „Besetzung der Ukraine“.
Heißt das, wenn die Anerkennung der Unabhängigkeit der DNR und der LNR nicht ausreicht?
Ja, wenn die Staatsmacht der RF zu dem Schluss kommt, dass die einzige Garantie – dafür, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt und es keine US-Raketenbasen auf ihrem Territorium geben wird, – die direkte Kontrolle über die Ukraine von Seiten Russlands oder die Einsetzung einer Moskau-freundlichen oder -loyalen Regierung in Kiew ist. So oder so wird dieses Machtszenario nicht wie auf der Krim sein, wo kein einziger Schuss fiel und niemand verletzt wurde.
Halten Sie dieses Szenario auch für annähernd wahrscheinlich?
Wahrscheinlich nicht. Es ist mit einer großen Anzahl von negativen Folgen, großen menschlichen und finanziellen Verlusten verbunden.
Ist das ein Worst-Case-Szenario?
Das hängt ganz von Ihren Vorlieben und Interessen ab. Für die einen ist es das Beste, für die anderen das Schlimmste. Meiner Meinung nach birgt die Sache enorme Risiken für Russland selbst in sich.
Ich habe Ihrem Buch entnommen, dass die NATO-Erweiterung, nach Ihrer Ansicht, keine so große Bedrohung für Russland darstellt. Ist das richtig?
Das militärische Gleichgewicht und die Nachhaltigkeit der realen Abschreckung werden durch eine NATO-Erweiterung, auch um die Ukraine, nicht gefährdet. Durch die Aufstellung von Raketen in der Nähe von Charkiw werden die USA keinen ernsthaften militärstrategischen Vorteil gegenüber der Russischen Föderation erlangen.
Was ist mit all den Behauptungen über verkürzte Flugzeiten, fünf bis sieben Minuten nach Moskau?
Sie stehen nicht im Widerspruch zu dem, was ich gesagt habe. Denn was würde in dieser Situation passieren? Russland wird Hyperschallraketen, zum Beispiel die „Zircon“, auf seinen U-Booten installieren, die entlang der Küste der USA kreuzen werden. Dadurch haben sie die gleiche Flugzeit zu wichtigen amerikanischen Zielen. Die Abschreckung wird aufrechterhalten, aber auf einem höheren und gefährlicheren Niveau. Auch eine amerikanische Brigade in Polen oder Nato-Bataillone im Baltikum können die Sicherheit Russlands nicht ernsthaft beeinträchtigen.
Das Einzige, was Russland ernsthaft beunruhigen könnte, sind Elemente des Raketenabwehrsystems der USA in Rumänien und in Polen. Die anderen Dinge stellen keine große Bedrohung dar.
Was die militärische Sicherheit betrifft, so halte ich die NATO-Erweiterung wirklich nicht für eine so beängstigende Bedrohung.
Aber es gibt noch einen weiteren Faktor: Ein Land, das Mitglied der NATO wird, erfährt eine tiefgreifende Umformatierung, die sich auf alle Lebensbereiche auswirkt. Es findet eine politische und ideologische Transformation statt. Solange die Ukraine außerhalb der NATO steht, besteht immer noch die Möglichkeit, dass das ganze Land oder ein Teil davon beschließt, dass der Slawismus, die russische Welt und andere Dinge für sie von Bedeutung sind. Und es könnte zu einer Normalisierung der Beziehungen zu Russland, ja sogar zu einer Annäherung an Russland kommen. Zumindest aus der Sicht Moskaus bleibt diese Möglichkeit bestehen.
Wenn ein Land der NATO beitritt, war es das, der Zug ist abgefahren. In diesem Falle gibt es zwar eine Bedrohung, allerding handelt es sich nicht um eine militärische, sondern um eine geopolitische und eine geokulturelle Bedrohung.
Übrigens haben der Oberste Befehlshaber und die militärpolitische Führung des Landes, nach den veröffentlichten Artikeln zu urteilen, doch ganz andere Überlegungen zu diesem Thema, die ernst genommen werden sollten.
Russland hat dem Westen eine „militärtechnische Antwort“ angedroht, wenn seine Forderungen nicht erfüllt werden. Worum könnte es, außer dem, was Sie gesagt haben, noch gehen?
In dem Fall, wenn sich die Geschichte mit der Anerkennung der DNR und LNR nach der abchasischen Variante entwickeln wird, könnten Truppen und Basen Russlands dort stationiert werden. Aber ich denke, dass der Hauptteil der militärtechnischen Antwort mit der Entfaltung einiger Waffensysteme an jenen Orten zusammenhängt, wo es diese zurzeit noch nicht gibt.
Zum Beispiel?
Lange Zeit war man der Meinung, dass Russland, wenn es in Europa aus militärischer Sicht mit etwas unzufrieden ist, weitere „Iskander“-Raketen in Kaliningrad stationieren könnte. Das Kaliningrader Gebiet wurde als vorgeschobener Brückenkopf betrachtet, von dem aus Russland jedem beliebigen Gegner drohen konnte. Kaliningrad ist physisch von dem übrigen Territorium Russlands aber getrennt. Es ist ziemlich schwierig, dorthin etwas zu liefern und die Kommunikation nach dorthin aufrechtzuerhalten, insbesondere unter Bedingungen von Feindseligkeit mit dem Westen. Das ist möglich, aber nicht einfach.
Es ist viel einfacher, etwas auf dem Territorium des befreundeten Weißrusslands, des Bündnispartners, zu stationieren, wo es zudem bisher keine Basen und Raketen Russlands, noch dazu nukleare, gab. Dies gilt umso mehr, als der Präsident von Belarus selbst …
Fordert er auf, dies zu tun?
Ja, er hat ein sehr ausgeprägtes politisches Gespür und ist bereit, der Russischen Föderation eine solche Möglichkeit zu einem verschwiegenen, aber geschätzten Preis anzubieten. Das ist eine Option. Es gibt aber auch Optionen in globaler Hinsicht – zum Beispiel eine engere Zusammenarbeit mit China, eine engere Koordinierung zwischen Moskau und Peking im militärischen Bereich und eine aktivere militärtechnische Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern.
Auch eine Annäherung auf dem militärischen Gebiet an Länder wie den Iran ist möglich. Schließlich führte der Präsident Russlands vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise Telefongespräche mit den Staatschefs von Venezuela und Kuba.
Russland könnte also als Spielverderber in einer Situation auftreten, in der die USA hoffen, dass es sich ruhig verhält und sich nicht in ihren Konflikt mit China einmischt?
Ja, natürlich, das ist eine Möglichkeit. Und im Prinzip wäre das eine normale Praxis. Länder, die zueinander in feindseligen Beziehungen stehen, wie heute Russland und die USA, üben gegeneinander mittels Stärke Einfluss aus. Das ist die Realität. Nicht durch Überzeugung und Argumente, sondern mit Stärke [Gewalt], nicht unbedingt militärischer Gewalt.
Die Amerikaner verfügen neben ihrem militärischen Potenzial auch über finanzwirtschaftliche Stärke, die sie zunehmend in Richtung von Russland einsetzen. Russland ist in erster Linie in geopolitischer, energetischer und militärischer sowie in militärtechnischer Hinsicht stark.
Es gibt Spekulationen, dass Russland Raketen in Venezuela und auf Kuba stationieren könnte.
Ich glaube nicht, dass Süd- oder Mittelamerika als mögliche Basen für Raketen Russlands ernsthaft in Betracht gezogen werden. Im Prinzip ist das nicht nötig. Außerdem, jetzt solche Anstrengungen zu forcieren, schafft für Russland genau die Art von Bedrohung, die es vermeiden möchte.
Wenn Moskau anfängt, die USA von Lateinamerika aus zu verunsichern, werden sie in Europa Vergeltung üben, wo eine Reihe von Ländern gerne Mittelstreckenraketen und Kurzstreckenraketen aufstellen würde. Warum sollte Russland dies herausfordern?
Was ist passiert, dass Sie und ich plötzlich über solch aufwühlende Szenarien sprechen? Wohin geht die Welt?
Die Welt befindet sich auf einem sehr gefährlichen Weg, aber ich weiß nicht, wohin. Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch, dass nach einem großen Kampf – sei es ein „heißer“ oder „kalter“ Krieg – die Verliererseite reagiert: Wenn sie nicht zu den ihr genehmen Bedingungen in ein neues Sicherheitssystem eingebunden wird, stattdessen in ihrem Ego verletzt wird und nicht bereit ist, ihre Souveränität aufzugeben, dann wird sie 20–30 Jahre später stärker sein und die Achtung ihrer nationalen Interessen einfordern.
Und der Moment ist eingetreten?
Ja, ich glaube, der Moment ist gekommen. Auf diesen Zeitpunkt wurde 30 Jahre lang hingearbeitet. Die Gewinner des Kalten Krieges glaubten zunächst, Russland habe seine frühere Bedeutung verloren. Russland sei für sie nicht mehr interessant, niemand wolle sich auf das schwierige Geschäft der Integration in die westliche Welt einlassen.
Außerdem hätte die Integration vorausgesetzt, dass die westlichen Länder, insbesondere die USA, sich bereit erklärt hätten, ihren eigenen Einfluss erheblich einzuschränken, um Russland das Recht auf eine entscheidende Stimme einzuräumen. Die USA waren darauf nicht vorbereitet. Sie waren selbst gegenüber ihren engsten Verbündeten nicht bereit, ihren Einfluss und das Recht der entscheidenden Stimme zu teilen. Washington soll immer das letzte Wort haben. Russland selbst wollte sich nicht unter den Bedingungen der vom Westen vorgeschlagenen ungleichen Partnerschaft in den euro-atlantischen Raum integrieren. Niemand bedauerte dies damals wirklich. Man ging davon aus, dass Russland eine schwache Wirtschaft und negative Demografie sowie ein labiles politisches System hatte und dass es wahrscheinlich mehr als einmal zusammenbrechen würde. Deshalb konnte man es übergehen und nicht …
Nicht übermäßige Rücksicht nehmen?
Ja. Diese Einstellung gegenüber Russland begann sich nach der Krim und insbesondere nach dem Beginn der Operation in Syrien zu ändern. Sie erinnern sich, dass Russland vom US-Präsidenten Barack Obama zuvor als „Regionalmacht“ bezeichnet wurde. Aber jetzt sahen alle, dass es sich nicht nur wieder als Subjekt internationaler Beziehungen etabliert hatte, sondern auch weit über seine eigenen Grenzen hinaus agieren kann.
Aber dabei kollidierte Moskaus Handeln mit den Interessen des Westens. Russland wurde als Gegner wahrgenommen, der bestraft und der unter Druck gesetzt werden sollte, vor allem durch Sanktionen. Schritte auf Russland zu oder Zugeständnisse an Russland wurden als eine Befriedung des Aggressors angesehen. Der Westen, der seine Schwäche spürte, wurde insgesamt viel weniger kompromissbereit. Er ist weniger bereit, sich mit anderen, sagen wir, rivalisierenden oder sogar feindlichen Regimen an den Verhandlungstisch zu setzen und mit ihnen auf Augenhöhe zu verhandeln. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat der Westen mit niemandem mehr auf Augenhöhe verhandelt, nicht einmal mit China.
Den Westen kann man auch verstehen. Er durchläuft eine sehr komplizierte Periode in seiner Entwicklung, denn es geht wirklich um den Niedergang der westlichen Dominanz und – in der Perspektive – der globalen Führung. Es ist schwierig für ihn.
Ich denke, wir steuern auf eine ernste Krise in den Beziehungen zu. Gewisse Klarheit wird wahrscheinlich erst nach einem ernsthaften Kräftemessen in verschiedenen Regionen und Funktionsbereichen entstehen. Am diplomatischen Tisch wird alles das nicht zu lösen sein, aber ein letztliches Ergebnis wird in eine rechtskräftige Form gegossen werden können. Auf diese Weise wird eine neue Weltordnung entstehen.
Kommersant, Moskau, 25.01.2021. Zum Original hier klicken.
Übersetzung aus dem Russischen: Rainer Böhme.
Zusammen mit anderen Beiträgen ist dieses Interview auch in der Reihe DGKSP – Diskussionspapiere erschienen und kann heruntergeladen werden; hier klicken.
Schlagwörter: China, der Westen, Dmitrij Trenin, Kommersant, Konflikt, NATO, Raketen, Russland, Ukraine, USA, Weltordnung