[…] wir sollten uns nicht von den Chinesen
dazu drängen lassen, unseren nationalen Reichtum
in Atomwaffen zu stecken, die wir nicht brauchen.
Rose Gottemöller
Ex- Unterstaatssekretärin für Rüstungskontrolle und
internationale Sicherheit im US-Außenministerium
Bereits als er ab 1947 die Geschäfte als erster US-Verteidigungsminister führte, war James Forrestal von der sowjetischen Bedrohung „hypnotisiert“ (DER SPIEGEL). Er litt unter entsprechendem Verfolgungswahn, der neben Kommunisten auch Zionisten sowie Liberale einschloss und der durch Moskaus Berlin-Blockade (1948) zusätzlich befeuert worden sein dürfte. Am 22. Mai 1949 sprang Forrestal aus dem 16. Stock des Militärkrankenhauses in Bethesda, Bundesstaat Maryland, wo er sich wegen eines Nervenzusammenbruchs in stationärer Behandlung befand, in den Freitod. Die Russen hatten das Nachsehen …
So schlimm muss es mit dem aktuellen US-Luftwaffenminister Frank Kendall nicht kommen, allerdings geben einige Symptome schon zu denken, wenngleich bei ihm nicht die Russen im Fokus stehen, sondern die Chinesen. Kendall am 20. September 2021 auf einer Pressekonferenz: „Sie werden es leid sein, mich immer wieder über China und die zunehmende Bedrohung zu hören, der wir ausgesetzt sind.“ Zuvor hatte der Minister auf einer Konferenz gewarnt, China könnte auf dem Weg zu einer nuklearen Erstschlagskapazität sein, und die USA aufgefordert, ihre eigene Waffenentwicklung zu beschleunigen, um mit Peking Schritt zu halten. Die Online-Plattform Defense One, die darüber berichtete, merkte zugleich an: „China verfügt über etwa 320 nukleare Sprengköpfe, während die USA etwa 5.500 besitzen.“
Kendalls Aufhänger: Peking baut seinen Bestand an verbunkerten Startsilos für nuklear armierbare ballistische Interkontinentalraketen außerordentlich aus und zwar in zügigem Tempo.
Offenbar geworden war dies durch Satellitenfotos.
Im September 2019 hatte Hans Kristensen, der führende Atomwaffenexperte der Federation of American Scientists, berichtet, dass auf dem chinesischen Übungsgelände Jilantai im Südwesten der Provinz Innere Mongolei ein ICBM-Startsilo neuen Typs in Bau sei, dessen technische Merkmale verdeutlichten, dass es für Raketen mit Feststoffantrieb vorgesehen sei. (Zuvor hatte China ausschließlich Silos für Raketen mit Flüssigtreibstoff betrieben.) Kristensen brachte dies in Zusammenhang damit, dass Peking auf eine zweite Abschussvariante für seine neuen Feststoff-ICBMs vom Typ Dongfeng 41 (DF-41) (mit Mehrfachsprengköpfen und mit möglicherweise bis zu 15.000 Kilometern Reichweite) ziele, für die bis dato nur mobile Startrampen existierten.
Im Juli 2021 informierte Kristensen mit seinem Kollegen Matt Korda darüber, dass inzwischen zwei umfangreiche Raketensilofelder mit gitterartiger Struktur im Aufbau seien:
- in der Nähe von Yumen, Provinz Gansu, mit bis zu 120 Startschächten und
- in der Nähe von Hami, autonomes Gebiet Xinjiang, mit bis zu 110 Startschächten. (Auf kommerziellen Satellitenfotos entdeckt hatte diesen Silokomplex Matt Korda.)
Der Abstand zwischen den einzelnen Silos liege bei drei Kilometern; beide Areale umfassten jeweils etwa 800 Quadratkilometer.
Da China seit Jahrzehnten lediglich rund 20 Startsilos für Flüssigtreibstoffraketen des Typs DF-5 unterhalten hat, findet also gerade eine mehr als Verzehnfachung in diesem Bereich statt.
Für den Fall, dass die neuen Silos mit DF-41 bestückt werden, rechnen Kristensen und Korda damit, dass sich die Anzahl der derzeit etwa 185 Atomsprengköpfe auf chinesichen ICBM auf mehr als 875 erhöhen könnte. Zugleich urteilen beide Experten: „Auch wenn eine solche Ausweitung erheblich wäre, würde China immer noch nicht annähernd mit den Atomwaffenbeständen Russlands und der USA gleichziehen […].“ Selbst die Indienststellung weiterer chinesischer Träger-U-Boote für ballistische Langstreckenraketen vom Typ JuLang 3 (JL-3) und die Ausrüstung künftiger strategischer Tarnkappenbomber vom Typ H-20 mit Atomwaffen hebt diesen Sachverhalt nicht aus den Angeln.
Nichts also von wegen „Erstschlagskapazität“, vulgo der Fähigkeit zu einem derart entwaffnenden Überraschungsschlag etwa gegen die USA, dass diese nicht mehr vernichtend Vergeltung üben könnten.
Offizielle chinesische Verlautbarungen zum sich abzeichnenden Aufrüstungsschub bei ICBMs gibt es nicht, allerdings auch keine Bemühungen, die entsprechende Bautätigkeit gegen Satellitenaufklärung abzuschirmen und anderweitig geheim zu halten. Letzteres liegt durchaus in der Logik einer Strategie der atomaren Abschreckung, der zufolge ein nuklearer Gegner wissen muss, was er im Falle eines Angriffs seinerseits zu gewärtigen hätte. Von den neuen Silofeldern aus jedenfalls liegen Washington D.C. und Los Angeles künftig ebenso in der Reichweite der DF-41 wie praktisch das gesamte übrige Territorium der USA.
Westliche Experten diskutieren derweil, welche Gründe die Pekinger Führung veranlasst haben mögen, nach Jahrzehnten nuklearen Minimalismus den jetzigen Ausweitungsschub in Gang zu setzen. Die Palette reicht von der Annahme, das nationale Prestige solle durch mehr ICBMs gestärkt werden, bis zu handfesten militärischen Argumenten wie etwa – Feststoffraketen:
- seien handhabungssicherer als Flugkörper mit hochaggressivem und -explosivem Flüssigtreibstoff;
- könnten in ständiger Einsatzbereitschaft gehalten werden und sind damit im Unterschied zu Raketen mit Flüssigtreibstoff, die vor dem Einsatz erst langwierig aufgetankt werden müssen, jederzeit alarmstartfähig und
- seien silobasiert – im Unterschied zu mobilen Startrampen – überhaupt permanent einsetzbar.
Als möglicherweise entscheidende militärstrategische und geopolitische Aspekte hob Tong Zhao, Senior Fellow am Carnegie Center in Peking, kürzlich in einer Analyse mit dem Titel „What’s Driving China’s Nuclear Buildup?“ („Was treibt Chinas nukleare Aufrüstung an?“) hervor:
- „Seit Jahrzehnten macht sich China Sorgen darüber, wie die militärischen Fähigkeiten der USA – wie Raketenabwehr (siehe Das Blättchen 7/2014 – S.) und konventionelle Präzisionsschlagwaffen (siehe Das Blättchen 18/2020 – S.) – die Glaubwürdigkeit der Fähigkeit Chinas, einen nuklearen Angriff zu vergelten, untergraben könnten.“ Dem wäre mit einer Vervielfachung der strategischen Waffensysteme zu begegnen.
- Wie die Sowjetunion während des Kalten Krieges der Ansicht war, „dass sie mit dem Atomwaffenarsenal der Vereinigten Staaten mithalten müsse, um eine echte politische Gleichstellung mit Washington zu erreichen“, scheine die chinesische Führung heute ähnliche Überlegungen zu hegen – dass nämlich „die Vereinigten Staaten ihre Feindseligkeit gegenüber China erst dann aufgeben werden, wenn sie durch die robuste strategische Macht Chinas dazu gezwungen werden“.
In China selbst, so beklagte Tong Zhao zugleich, finde eine öffentlich wahrnehmbare sicherheitspolitische Debatte zu diesen Fragen nicht statt, und auch Washington und Peking sprächen nicht miteinander, was „zu neuen Spannungen und Bedrohungswahrnehmungen“ – siehe obige Erstschlagschimäre – führe und „das Risiko einer Abwärtsspirale in den bilateralen Sicherheitsbeziehungen insgesamt“ in sich berge. Und wenn dann noch – DER SPIEGEL hatte im April 2021 darüber berichtet – hohe US-Militärs davon faseln, dass es nicht erst um 2034 zu einem Krieg zwischen beiden Supermächten kommen könnte, wie es der frühere NATO-Oberbefehlshaber und Ex-US-Admiral James Stavridis „für äußerst realistisch“ hält, „sondern eher um 2024 oder 2026“, dann sind schon reichlich Zutaten beieinander, die für eine Konfrontation vom Zuschnitt der Kuba-Krise von 1962 ausreichen, wenn nicht gar für mehr …
Nicht zuletzt ist Pekings aktuelle Silomania eine schwere Hypothek für das seit langem gefährdete globale Regime zur Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen auf der Grundlage des entsprechenden internationalen Vertrages (NPT). Konnte bisher – obwohl Peking mit Hinweis auf die sehr viel umfangreicheren Atomarsenale der USA und Russlands eine Beteiligung an internationalen Abrüstungsverhandlungen strikt ablehnt – zumindest davon ausgegangen werden, das China unter den Atommächten der NPT-Mitgliedstaaten nicht zu den Treibern der Nuklearrüstung gehört, dann sind daran nunmehr ernsthafte Zweifel angebracht. Wäre doch eine Bestückung neuer Raketensilos mit einer Vielzahl zusätzlicher ICBMs ein eklatanter Verstoß gegen Artikel VI des NPT, der auch Peking dazu verpflichtet, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle“.
Schlagwörter: Abrüstung, Atomwaffen, China, DF-41, Erstschlag, ICBM, Krieg, NPT, nuklear, Sarcasticus, Silo, USA