24. Jahrgang | Nummer 6 | 15. März 2021

ICBMs und atomarer Erstschlag

von Wolfgang Schwarz

Wenn wir an der Option eines Erstschlags
festhalten, dann besitzen wir die Atomwaffen
nicht ausschließlich zur Abschreckung.
Die gesamte Kalkulation unserer Gegner
wird dadurch beeinflusst, sie müssen damit rechnen,
dass sie als Erste nuklear angegriffen werden.

Adam Smith
Vorsitzender des Streitkräfte-Ausschusses
des US-Repräsentantenhauses[1]

Die tödlichen Interkontinentalraketen
jedes Landes rechtfertigen auf perverse Weise
die Existenz der Raketen des jeweils anderen
Landes und halten das Risiko eines massiven
nuklearen Schlagabtauschs aufrecht, der durch
einen falschen Alarm oder einen zukünftigen Cyberangriff
auf nukleare Kommando- und Kontrollsysteme
ausgelöst werden könnte.

Daryl G. Kimbal
Executive Director
of the Arms Control Association[2]

Nach Reduzierungen im Zuge der Umsetzung des russisch-amerikanischen New START-Abkommens von 2010 verfügen die USA derzeit über 400 nuklear bestückte bodengestützte ballistische Interkontinentalraketen (ICBM) vom Typ Minuteman III, die im Abstand von jeweils etwa zehn Kilometern voneinander in unterirdischen, gegen einen Atomangriff gehärteten Startsilos aufgestellt sind. In drei Gruppen, sogenannten Wings. Diese wiederum sind im Umfeld von großen Luftwaffenstützpunkten disloziert – in den dünn besiedelten US-Bundesstaaten Montana (Malmstrom Air Force Base/AFB in Great Falls), North Dakota (Minot AFB nördlich von Minot), Wyoming (F. E. Warren AFB in Cheyenne), Nebraska und Colorado. (50 weitere Startsilos sind zwar von Raketen beräumt, aber noch funktionsfähig.)

Die Minutemen III verfügen über eine Reichweite von 13.000 Kilometern und sind mit thermonuklearen Gefechtsköpfen von bis zu 335 Kilotonnen Sprengkraft ausgestattet, was mehr als der 25-fachen Stärke der Hiroshimabombe entspricht. Mit einem CEP (Zielabweichungsradius) von aktuell etwa 160 Metern gilt diese Trägerrakete US-Experten wie Hans Kristensen als nicht ausreichend punktzielfähig für einen sogenannten nuklearen Erstschlag zur „Enthauptung“ und „Entwaffnung“ eines atomaren Gegners.[3]

In Dienst gestellt wurden die Projektile in den 1970er Jahren. 30 Jahre später erfolgte durch Austausch der Feststoffantriebe und der Lenksysteme eine „Lebensdauerverlängerung“ um weitere drei Dekaden.

Die Minutemen III wurden ab 1978 permanent in so hoher Einsatzbereitschaft gehalten, dass ein Alarmstart zum Gegenschlag bereits bei Anzeichen eines gegnerischen Raketenangriffs erfolgen konnte (US-Jargon: launch on warning oder launch under attack), also bevor deren Silos von gegnerischen Gefechtsköpfen vernichtet würden.[4]

Die aktuellen, unter der Obama-Administration fixierten nuklearen Rüstungsplanungen Washingtons sehen vor, das Modell Minuteman III wegen Überalterung ab Ende des laufenden Jahrzehnts durch ein neues Trägersystem zu ersetzen – mit „erhöhter Genauigkeit, erweiterter Reichweite und verbesserter Zuverlässigkeit“, so General Tim Ray, Kommandeur des Air Force Global Strike Command.[5] Für dieses System existiert bisher nur ein Terminus technicus: Ground Based Strategic Deterrent (GBSD). Beschafft werden sollen laut Bulletin of the Atomic Scientists 642 Flugkörper[6] – davon 400 zur Stationierung in Silos und der Rest als Ersatz und für Tests. Das GBSD-System soll 2029 in Dienst gestellt werden und bis mindestens 2075 aktiv bleiben.

Das Congressional Budget Office (CBO) schätzt die Gesamtkosten des Programms (einschließlich 30-jähriger Betriebszeit) auf 150 Milliarden US-Dollar.[7] Auf die Frage, ob er derartige Berechnungen ernst nähme, entgegnete der Vorsitzender des Streitkräfte-Ausschusses des US-Repräsentantenhauses, der Demokrat Adam Smith, kürzlich: „Ja, und zweifellos werden sie sich noch als zu niedrig erweisen. Ich habe es schon oft erlebt, dass die tatsächlichen Kosten höher liegen als die Annahmen – und ganz sicher ist dies so bei der Produktion und Wartung von Atomwaffen.“[8]

Im September 2020 hat die US-Air Force einen 13,3 Milliarden-Dollar-Alleinauftrag an den Rüstungskonzern Northrop Grumman zu Entwicklung des neuen Waffensystems vergeben. Der ursprüngliche Mitbewerber Boeing war zuvor bereits aus dem Rennen um dieses Programm ausgestiegen.

Allerdings sind ICBM in den USA – im Unterschied zu früheren Jahrzehnten – kein quasi sakrosankter Bestandteil der sogenannten nuklearstrategischen Triade, der „‚Heilige Dreifaltigkeit‘ des Pentagons“[9] mehr, zu der neben ICBMs Träger-U-Boote mit ballistischen Interkontinentalraketen (SLBM) sowie atomar bestückte Langstreckenbomber zählen.

Kritik an den ICBMs wird vor allem aus militärstrategischen und aus budgetären Gründen geübt. Einen initialen Beitrag dazu lieferte der frühere US-Verteidigungsminister William Perry, der im Jahre 2016 in der New York Times (NYT) unter dem programmatischen Titel „Why It’s Safe to Scrap America’s ICBMs“ („Warum es sicher ist, Amerikas ICBMs zu verschrotten“) seine Fundamentalkritik auf folgenden Aspekte fokussierte:

  • „Die [nuklearstrategischen – W.S.] U-Boot-Streitkräfte allein sind ausreichend, um unsere Feinde abzuschrecken“[10], und hinzu kämen ja noch „atomar bewaffnete […] Bomber“[11].
  • ICBMs hingegen „gehören zu den gefährlichsten Waffen der Welt. Sie könnten sogar einen versehentlichen Atomkrieg auslösen. – Wenn unsere Sensoren anzeigen, dass sich feindliche Raketen auf dem Weg in die Vereinigten Staaten befinden, müsste der Präsident den Abschuss der ICBMs in Erwägung ziehen, bevor die feindlichen Raketen sie zerstören können; sind sie einmal gestartet, können sie nicht mehr zurückgerufen werden. Der Präsident hätte weniger als 30 Minuten Zeit, um diese schreckliche Entscheidung zu treffen.“[12]

Konkret wäre die Entscheidungszeitspanne nach Auffassung von US-Experten jedoch sogar noch deutlich kürzer: Die Flugzeit russischer ICBMs wird mit etwa 30 Minuten angenommen. Von dieser Zeit würden die USA etwa zehn Minuten benötigen, um den Angriff durch Frühwarnsysteme (Satelliten, Radar) aufzuklären und zu bewerten. Weitere zehn Minuten wären erforderlich, um den Startbefehl für die US-ICBMs so rechtzeitig zu übermitteln, dass diese einem angezeigten Angriff entkommen könnten. Nur die restlichen etwa zehn Minuten wären somit die tatsächliche Spanne für eine Entscheidung, die den Tod von Millionen bis Milliarden von Menschen zur Folge haben könnte.[13] An den möglichen Fall eines Fehlalarms durch technisches Versagen, wie es während des Kalten Krieges sowohl auf sowjetischer als auch auf amerikanischer Seite und danach mindestens in Russland wiederholt vorgekommen ist, denkt man da besser nicht. Dies alles für selbstmörderischen Wahnsinn zu halten hat sich in der politischen und militärischen Führung der USA bis heute allerdings nie dauerhaft handlungsleitend durchgesetzt. Frank von Hippel, US-amerikanischer Physiker und profunder Analytiker sicherheitspolitischer Fragen, brachte es auf den Punkt: „Die ICBMs sind im besten Fall eine zusätzliche Versicherung, die wir nicht brauchen; im schlimmsten Fall sind sie eine nukleare Katastrophe, die nur darauf wartet, zu passieren.“[14]

Weitere zentrale Kritikpunkte in den USA an ICBMs sind die folgenden:

  • Silobasierte Trägerraketen gelten wegen der Aufklärbarkeit ihrer Standortkoordinaten durch Satelliten als grundsätzlich anfällig für Zerstörung durch einen Präventivschlag. Diese Befürchtung besteht bereits seit den 1970er Jahren, als absehbar wurde, dass die Treffgenauigkeit sowjetischer Interkontinentalraketen sich der dafür erforderlichen Schwelle näherte. (In der Konsequenz verweigerte der US-Kongress im Juli 1976 Finanzmittel für neue silobasierte ICBM vom Typ MX Peacekeeper – wegen deren vorgeblicher Verwundbarkeit.[15] Geprüft wurden daraufhin Alternativen zu festen Silos, darunter die mobile Stationierung unter Nutzung des US-Eisenbahnnetzes. 1979 genehmigte Präsident Carter ein gigantomanisches Programm zur Errichtung von insgesamt 4600 Schutzbunkern, zwischen denen die Peacekeeper in unregelmäßigen Zyklen hin und her bewegt werden sollten.[16] Präsident Reagan versuchte, zur Stationierung in festen Silos zurückzukehren, was der Kongress 1982 erneut ablehnte.[17])
  • Angesichts des zweifelhaften sicherheitspolitischen Wertes von ICBM seien die Kosten des GBSD-Programms nicht zu rechtfertigen. Überdies könnten das horrende Defizit im US-Bundeshaushalt sowie finanzielle Zwänge, die aus der Bewältigung der Coronakrise resultieren und in den nächsten Jahren nicht ohne Auswirkungen auf das Pentagonbudget bleiben.[18] Sparzwänge könnten daher gegen neue silobasierte Interkontinentalraketen wirksam werden.[19]

Perry hat seine ICBM-Kritik seit seinem NYT-Beitrag von 2016 mehrfach wiederholt und im Dezember 2020 dem damals noch designierten neuen US-Präsidenten Biden über das Bulletin of the Atomic Scientists empfohlen, „die schrittweise Abschaffung der ballistischen Interkontinentalraketen des Landes“[20] in Angriff zu nehmen.

Adam Smith fasste seinen derzeitigen Erkenntnisstand dahingehend zusammen: „Trägt das bodengebundene System noch etwas zu unserer Abschreckung bei? Davon bin ich nicht überzeugt […].“[21]

Die Auffassungen von Perry, Smith und anderen Kritikern sehen sich allerdings einer mächtigen Phalanx von ICBM-Befürwortern gegenüber, die von einer ganzen Palette durchaus unterschiedlicher Interessen geleitet werden:

  • Da ist zunächst die Führungsspitze der US Air Force, in deren „Portfolio“ die ICBMs ebenso fallen wie die strategischen Bomberkräfte und die in dieser doppelten nuklearen Zuständigkeit einen Macht- und Einflussvorteil im permanenten internen Konkurrenzgerangel der US-Teilstreitkräfte sieht, nicht zuletzt im jährlichen Ringen um höhere Anteile am Budget des Pentagons.[22]
  • Hinzu kommt eine „potente Lobby-Koalition“[23] zur gezielten Beeinflussung im US-Kongress. Diese Koalition hat sich um Northrop Grumman – der Konzern erwartet durch das GBSD-Programm jährliche Einnahmen zwischen 800 und 900 Millionen Dollar[24] – durch die Einbindung zahlreicher Unterauftragnehmer in das Projekt (Aerojet Rocketdyne, Bechtel, Clark Construction, Collins Aerospace, General Dynamics, HDT Global, Honeywell, Kratos Defense and Security Solutions, L3Harris, Lockheed Martin, Textron Systems sowie Hunderte von kleinen und mittelständischen Unternehmen aus dem gesamten Verteidigungs-, Ingenieur- und Bausektor) gebildet.[25] Northrop allein leistete sich im Jahre 2019 57 individuelle Lobbyisten für die Bearbeitung des US-Kongresses und „investierte“ dafür in jenem Jahr 13,6 Millionen Dollar; auch beschäftigte der Konzern zu jener Zeit nach Angaben von Project on Government Oversight, einer überparteilichen Beobachtungsorganisation, zwei Dutzend frühere hochrangige Mitarbeiter des Pentagons.[26]
  • Im Kongress selbst wirkt eine ICBM-Community, die in der Lage ist, Vorstöße von GBSD-Kritikern und -Gegnern immer wieder zu blockieren.[27] Sie besteht unter anderem aus den Senatoren der strukturschwachen Bundesstaaten Montana, North Dakota und Wyoming, die jene großen Luftwaffenbasen beherbergen, denen die Minuteman III-Stationierungsgebiete zugeordnet sind, sowie Utahs, wo die Raketen gewartet werden. Die ICBM-Infrastruktur ist dort ein nicht unbedeutender Wirtschaftsfaktor, der etwa im Falle der erst genannten drei Bundesstaaten jährliche Einnahmen in der Größenordnung von je 100 Millionen Dollar generiert.[28]

Längst haben die ICBM-Befürworter in den USA im Übrigen aus dem Makel silobasierter Raketen, aus ihrer vorgeblichen Verwundbarkeit nämlich, eine Stärke, ja das Hauptargument für deren Beibehaltung gemacht: Da Russland im Falle eines atomaren Erstschlages nicht davon ausgehen könne, die US-Raketensilos samt der zughörigen verbunkerten Startkontrollzentren mit jeweils einem Sprengkopf auszuschalten und daher eine Mehrfachabdeckung vornehmen müsste, würde dadurch ein so großer Teil des strategischen russischen Arsenals aufgebraucht, dass dies die Überlebensfähigkeit der anderen Standbeine der US-Triade und damit auch der US-Zweitschlagsfähigkeit signifikant erhöhe. Die US-Raketenfelder würden russische Sprengköpfe geradezu „aufsaugen“ wie ein „Atomschwamm“ (nuclear sponge).[29] Ohne ICBMs hingegen, so ein Bericht des Hudson Institute, eines führenden konservativen Think Tanks, „müsste ein Gegner nur fünf Ziele angreifen (drei Bomber- und zwei U-Boot-Basen), um den größten Teil der US-Atomstreitkräfte auszuschalten“[30].

*

Apropos atomarer Erstschlag: Die konzeptionelle Vorstellung, einen nuklearen Gegner (wie die USA und Russland, aber auch China) gegebenenfalls durch einen Überraschungsschlag mit hunderten von hochpräzisen nuklearen (und künftig wohl auch konventionellen[31]) Gefechtsköpfen gegen dessen politische und militärische Führung „enthaupten“ sowie gegen dessen nuklear-strategische Vergeltungsmittel „entwaffnen“ und somit in einem Atomkrieg siegen zu können, ohne einen vergleichbar verheerenden Zweitschlag befürchten zu müssen, ist eine der abstrusesten während des Kalten Krieges entwickelten Kopfgeburten amerikanischer Wizards of Armaggedon (Magier der Apokalypse), wie Fred Kaplan die Gemeinde der US-Atomkriegstheoretiker in seiner Monographie gleichen Titels genannt hat.

Seit den frühen 1980er Jahren weiß man durch Untersuchungen US-amerikanischer, später auch sowjetischer Naturwissenschaftler, dass massenhafter Einsatz von Kernwaffen, insbesondere gegen verbunkerte Bodenziele sowie gegen städtische Gebiete, einen nuklearen Winter auslösen könnte, der die natürlichen Lebensgrundlagen des „Siegers“ ebenfalls irreparabel schädigen würde.[32]

Und unter militärisch-operativen Gesichtspunkten ist ein atomarer Erstschlag eine Schimäre, eine militärstrategische Fata Morgana, weil er „ein ungetestetes und unüberprüfbares“[33] Angriffsszenario darstellte, wie Arthur Metcalf in Strategic Review, dem Quarterly des von ihm gegründeten und geleiteten United States Strategic Institute bereits 1983 resümiert hat. Metcalf hielt einen erfolgreichen Erstschlag, „der zeitlich genau auf die Vernichtung von 1000 Raketensilos (so viele Minutemen waren es damals noch – W.S.) getaktet“[34] sein müsste, weder für kalkulier-, noch für durchführbar. Denn die Raketen des Angreifers müssten abgefeuert werden „von Starteinrichtungen, die nie zuvor benutzt worden sind, über polare Flugbahnen, die nie zuvor getestet worden sind […], in nie zuvor gestarteten Stückzahlen und innerhalb eines Zeitrahmens, für den kein Hauch an statistischen Informationen im Hinblick auf die operative Betriebssicherheit existiert“[35].

Ebenfalls bereits vor Jahrzehnten[36] haben Experten überdies auf das in seinen praktischen Konsequenzen nicht im Detail prognostizierbare Phänomen des sogenannten nuklearen Fratrizids (Brudermord) verwiesen: Da verbunkerte Raketensilos, um sie mit gegen hundert Prozent gehender Wahrscheinlichkeit zu vernichten, mit wenigstens zwei Atomsprengköpfen belegt werden müssten, stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die Explosion des ersten durch das Aufwirbeln ungeheurer Mengen an Gestein und Erdreich in die Atmosphäre auf den nachfolgenden, dagegen nicht geschützten Sprengkopf haben würde. Wäre dessen Zerstörung die Folge oder „nur“ eine mehr oder weniger starke Beeinträchtigung von dessen Treffgenauigkeit? Theo Sommer hatte dazu Anfang der 1980er Jahre vermerkt: „Die ‚Brudermord‘-Hypothese ist unter den Wissenschaftlern umstritten. Das Problem ist, daß niemand sie schlüssig beweisen, niemand sie schlagend entkräften kann. Eine Möglichkeit, sie zu erproben, ohne dabei die Erde zu erschüttern, gibt es nicht.“[37]

Und zu welchen Ergebnissen kommt ein heutiger Blick auf die komplexen Anforderungen eines atomaren Erstschlags? Elbridge Colby, vormals stellvertretender US-Verteidigungsminister für Strategie und Streitkräfteentwicklung, fasste 2018 zusammen: „Um Russland oder China vollständig zu entwaffnen, müssten die Vereinigten Staaten nicht nur eine große Anzahl von weit verstreuten mobilen Raketenstartsystemen, U-Booten und Flugzeugen zerstören oder außer Gefecht setzen, sondern sie müssten dies auch gleichzeitig tun, höchstens innerhalb von Stunden, um einen Gegenschlag zu verhindern […] – eine Aufgabe, die die Vereinigten Staaten selbst gegen viel schwächere Gegner wie den Irak als extrem schwierig empfunden haben. In der Zwischenzeit müsste die US-Verteidigung alle feindlichen Raketen daran hindern, ihre Ziele zu erreichen – doch die US-Raketenabwehr hat sich bereits gegen einfache ballistische und Marschflugkörper schwergetan, ganz zu schweigen von fortgeschrittenen russischen und chinesischen Trägersystemen.“[38] Also: „ […] in einem Nuklearkrieg muss man perfekt oder nahezu perfekt sein: Denn auch nur eine Handvoll thermonuklearer Waffen durch die US-Verteidigung zu lassen, würde Tod und Zerstörung in schwindelerregendem Ausmaß bedeuten“[39].

Andererseits – mindestens in den USA gab es durchaus schon Funktionsträger auf höheren Ebenen, die ihre ganz eigene Sicht auf nukleare Kriegführung hatten. Bei Nicholas Thompson, dem früheren Chefredakteur der IT-Zeitschrift WIRED, findet sich beispielsweise folgende Episode: „In seiner Bestätigungsanhörung im Senat 1981 signalisierte Eugene Rostow, der neue Leiter der Behörde für Rüstungskontrolle und Abrüstung, dass die USA einfach verrückt genug sein könnten, ihre Waffen einzusetzen, indem er erklärte, dass Japan nach dem Atomangriff von 1945 ‚nicht nur überlebte, sondern aufblühte‘. Über einen möglichen amerikanisch-sowjetischen Schlagabtausch sagte er: ‚Einige Schätzungen sagen voraus, dass es 10 Millionen Opfer auf der einen Seite und 100 Millionen auf der anderen Seite geben würde. Aber das ist nicht die gesamte Bevölkerung.‘“[40]

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Welche Entwicklung das GBSD-Programm unter der Biden-Administration letztlich nehmen wird, kann derzeit nicht abschließend beurteilt werden.

In ihrem Wahlprogramm vom letzten Jahr hatte die Demokratische Partei zwar Amerikas „übermäßiges Vertrauen und übermäßige Ausgaben für Atomwaffen“ kritisch angesprochen, einschließlich „verschwenderischer“ neuer Waffen.[41] Doch unterscheidet sich das Verfallsdatum amerikanischer Wahlprogramme von denen bürgerlicher Parteien hierzulande nicht grundsätzlich.

Über Biden selbst war während des Wahlkampfes wiederholt berichtet worden, dass er Kürzungen bei Trumps nuklearen Modernisierungsplänen in Erwägung ziehe, doch außer seiner damaligen strikten Ablehnung neuer taktischer Atomwaffen[42] (die noch unter Trump auf nuklearen Träger-U-Booten stationiert worden sind), ist über seine diesbezüglichen Positionen bisher nichts Konkretes bekannt. Bidens Spitzenkandidaten für das Pentagon jedenfalls, Verteidigungsminister Lloyd Austin sowie Kathleen Hicks, seine Stellvertreterin, haben sich bei ihren Bestätigungsanhörungen im US-Kongress im Januar 2021 für die Beibehaltung der nuklearen Triade ausgesprochen.[43]

Derweil versucht Kathy Warden, CEO von Northrop Grumman, Pflöcke einzuschlagen. Gern verweist die Dame auf die Unterstützung des GBSD-Programms durch die Obama- und die Trump-Administration: „Beide kamen zu dem Schluss, dass der Weg, den wir für die Modernisierung der ICBMs mit dem aktuellen GBSD-Programm gehen, der richtige Weg ist.“[44] Und hat mit Blick auf Bidens Regierung die klare Erwartung formuliert, „dass dies auch die Schlussfolgerung sein wird, wenn eine weitere Überprüfung durchgeführt wird“[45].

Neue Umfragedaten zeigen zwar, dass eine Mehrheit der US-Öffentlichkeit neuen ICBMs ablehnend gegenübersteht[46], trotzdem warnt Bryan Bender, Senior National Correspondent des US-Magazins POLITICO und Experte für Pentagon, NASA sowie Verteidigungs-, respektive Luft- und Raumfahrtindustrie: „[…] die Hindernisse für eine Kursänderung könnten unüberwindbar sein.“[47] Denn sollte Biden mit Moskau nach der Verlängerung des New START-Vertrages, die er als eine seiner ersten Amtshandlungen veranlasst hat, ein neues Rüstungskontrollabkommen vereinbaren, dann müsste dieses im US-Senat mit Zweidrittelmehrheit ratifiziert werden. Das gäbe den dortigen Republikanern erneut einen wirkungsvollen Hebel in die Hand – wie schon im Zusammenhang mit New START: Für ihre damalige Zustimmung erpressten die Republikaner von Obama jene umfassenden Kernwaffenmodernisierungsmaßnahmen, zu denen auch das GBSD-Programm zählt.[48]

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[1] – Dietmar Pieper: „Wir müssen China und Russland davon abhalten, jemals Krieg mit uns anzufangen“, DER SPIEGEL (online), 18.02.2021; https://www.spiegel.de/politik/ausland/us-atomwaffen-adam-smith-verlangt-neue-strategie-a-e62fdecb-10b7-40e3-8913-5caab1cee2f1 – aufgerufen am 06.03.2021.

[2] – Daryl G. Kimball: Enough Already: No New ICBMs, Arms Control Association (online), März 2021; https://www.armscontrol.org/act/2021-03/focus/enough-already-no-new-icbms – aufgerufen am 06.03.2021.

[3] – Vgl. H. M. Kristensen / M. McKinzie / Th. A. Postol: How US nuclear force modernization is undermining strategic stability: The burst-height compensating super-fuze, Bulletin of the Atomic Scientists (online), 01.03.2017; https://thebulletin.org/2017/03/how-us-nuclear-force-modernization-is-undermining-strategic-stability-the-burst-height-compensating-super-fuze/ – aufgerufen am 06.03.2021.

[4] – Vgl. Frank N. von Hippel: The United States would be more secure without new intercontinental ballistic missiles, Bulletin of the Atomic Scientists (online), 11.02.2021; https://thebulletin.org/2021/02/the-united-states-would-be-more-secure-without-new-intercontinental-ballistic-missiles/ – aufgerufen am 06.03.2021.

[5] – Zit. nach: „America’s ICBMs are ageing. Does it still need them?“, The Economist (online), 22.02.2021; https://www.economist.com/united-states/2021/02/22/americas-icbms-are-ageing-does-it-still-need-them – aufgerufen am 06.03.2021.

[6] – Siehe: Frank N. von Hippel, a.a.O.

[7] – Vgl. ebenda.

[8] – Dietmar Pieper, a.a.O.

[9] – „America’s ICBMs are ageing …“, a.a.O.

[10] – William J. Perry: Why It’s Safe to Scrap America’s ICBMs, The New York Times (online), 30.09.2016; https://www.nytimes.com/2016/09/30/opinion/why-its-safe-to-scrap-americas-icbms.html – aufgerufen am 06.03.2021.

[11] – Ebenda.

[12] – Ebenda.

[13] – Siehe: Frank N. von Hippel, a.a.O.

[14] – Ebenda.

[15] – Vgl. Elisabeth Eaves: Why is America getting a new $100 billion nuclear weapon?, Bulletin of the Atomic Scientists (online), 08.02.2021; https://thebulletin.org/2021/02/why-is-america-getting-a-new-100-billion-nuclear-weapon/ – aufgerufen am 06.03.2021.

[16] – Für das auch als „Rennbahn“ bezeichnete System sollten 15.000 Kilometer Raketenstraßen gebaut werden, um jede von 200 geplanten MX-Raketen zwischen jeweils 23 Abschussschächten verschieben zu können. Damit sollte die UdSSR für den Fall eines Angriffs auf die MX 9200 mit der Notwendigkeit konfrontiert werden, 9200 strategische Atomgefechtsköpfe (je Startloch zwei) einsetzen zu müssen – und damit mehr, als Moskau seinerzeit insgesamt zur Verfügung standen. Die Kostenschätzungen für das Projekt, das überdies auf Jahre 40 Prozent der gesamten US-Zementproduktion gebunden hätte, reichten bis 100 Milliarden US-Dollar. Siehe Theo Sommer: Raketen, Kapseln und Kanister, DIE ZEIT (online), 03.12.1982; https://www.zeit.de/1982/49/raketen-kapseln-und-kanister/komplettansicht – aufgerufen am 06.03.2021. Sommer lieferte zugleich einen detaillierten Überblick darüber, wie bizarr die damalige US-Debatte um die vorgebliche Verwundbarkeit silobasierter ICBM verlief.

[17] – Vgl. Elisabeth Eaves, a.a.O.

[18] – Siehe: Frank N. von Hippel, a.a.O.

[19] – Zum Hintergrund dieses Kritikpunktes gehört, dass das GBSD-Projekt nur eines von fünf nuklearstrategischen Programmen der USA ist, wobei die anderen vier (neue U-Boote für ballistische Raketen, neue strategische Bomber plus luftgestützte Marschflugkörper, ein neues nukleares Kommando- und Kontrollsystem sowie der Ersatz überalterter Atomsprengköpfe) nach CBO-Schätzungen mit jeweils etwa 250 Milliarden Dollar (zusammen mithin eine Billion) zwar noch kostspieliger sind, aber „weniger umstritten“ (Frank N. von Hippel, a.a.O.).

[20] – William J. Perry: How a US defense secretary came to support the abolition of nuclear weapons, Bulletin of the Atomic Scientists (online), 07.12.2020; https://thebulletin.org/premium/2020-12/how-a-us-defense-secretary-came-to-support-the-abolition-of-nuclear-weapons/ – aufgerufen am 06.03.2021.

[21] – Dietmar Pieper, a.a.O.

[22] – Nicht uninteressant in diesem Kontext ist ein historischer Verweis von William Perry und Tom Collina in ihrem Buch „The Button: The New Nuclear Arms Race and Presidential Power from Truman to Trump“: Die „Triade entstand im Laufe der Zeit vor allem als Ergebnis der […] Rivalität zwischen der Air Force und der Navy in den 1950er und 1960er Jahren. Als Atomwaffen zu einem zentralen Schauplatz des Wettbewerbs im Kalten Krieg wurden, begannen die Verteidigungsausgaben zu fließen, und kein Zweig des Militärs wollte außen vor bleiben.“ Hier zit. nach William D. Hartung: ICBMs Are Obsolete and Dangerous, And Should Be Eliminated, The National Interest (online), 14.10.2020; https://nationalinterest.org/blog/buzz/icbms-are-obsolete-and-dangerous-and-should-be-eliminated-170666 – aufgerufen am 06.03.2021.

[23] – Frank N. von Hippel, a.a.O.

[24] – Vgl. Sandra Erwin: Northrop Grumman clears first design review of next-generation ICBM, SPACENEWS (online), 16.02.2021; https://spacenews.com/northrop-grumman-clears-first-design-review-of-next-generation-icbm/ – aufgerufen am 06.03.2021.

[25] – Vgl.: Frank N. von Hippel, a.a.O.

[26] – Vgl. Elisabeth Eaves, a.a.O.

[27] – Zu Details siehe Frank N. von Hippel, a.a.O.

[28] – Vgl. Frank N. von Hippel, a.a.O.

[29] – Siehe ebenda; siehe auch „America’s ICBMs are ageing …“, a.a.O.

[30] – Zit. nach „America’s ICBMs are ageing …“, a.a.O.

[31] – Siehe ausführlicher Wolfgang Schwarz: Conventional Prompt Global Strike – die russische Antwort, Das Blättchen, 18/2020; https://das-blaettchen.de/2020/08/prompt-global-strike-%e2%80%93-die-russische-antwort-53959.html – aufgerufen am 06.03.2021.

[32] – Siehe ausführlicher Wolfgang Schwarz: Kernwaffen, nukleare Abschreckung und die internationale Sicherheit (15 Thesen, kommentiert), Das Blättchen, Sonderausgabe vom 08.01.2018 (These 6); https://das-blaettchen.de/2018/01/kernwaffen-nukleare-abschreckung-und-die-internationale-sicherheit-15-thesen-kommentiert-42623.html – aufgerufen am 06.03.2021.

[33] – A. G. B. Melcalf: The Minuteman Vulnerability Myth And The MX, Strategic Review,
Spring 1983, S. 8.

[34] – Ebenda.

[35] – Ebenda.

[36] – Siehe zum Beispiel „Ist ‚dense pack‘ ein ‚dunce pack‘?“, DER SPIEGEL (online), 29.11.1982; https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14355962.html – aufgerufen am 06.03.2021.

[37] – Theo Sommer, a.a.O.

[38] – Elbridge Colby: If You Want Peace, Prepare for Nuclear War. A Strategy for the New Great-Power Rivalry, Foreign Affairs (online), November/December 2018; https://www.foreignaffairs.com/articles/china/2018-10-15/if-you-want-peace-prepare-nuclear-war – aufgerufen am 09.03.2021.

[39] – Ebenda.

[40] – Nicholas Thompson: Inside the Apocalyptic Soviet Doomsday Machine, WIRED (online), 09.21.2009; https://www.wired.com/2009/09/mf-deadhand/?currentPage=1 – aufgerufen am 06.03.2021.

[41] – Zit. nach „America’s ICBMs are ageing …“, a.a.O.

[42] – Vgl. Abhijnan Rej: ICBM Commander Makes Case for US Nuke Modernization, The Diplomat (online), 13.02.2021; https://thediplomat.com/2021/02/icbm-commander-makes-case-for-us-nuke-modernization/ – aufgerufen am 06.03.2021.

[43] – Siehe „America’s ICBMs are ageing …“, a.a.O.

[44] – Zit. nach Bryan Bender: Air Force prepares for budget battle over nuclear weapons, POLITICO (online), 11.02.2021; https://www.politico.com/news/2021/02/11/nuclear-weapons-pentagon-budget-468454 – aufgerufen am 06.03.2021.

[45] – Zit. nach ebenda.

[46] – Siehe Elisabeth Eaves, a.a.O.; siehe auch Aaron Mehta: Majority of voters support ICBM replacement alternatives, new poll finds, DefenseNews (online), 05.02.2021; https://www.defensenews.com/smr/nuclear-arsenal/2021/02/05/majority-of-voters-support-icbm-replacement-alternatives-new-poll-finds/ – aufgerufen am 06.03.2021.

[47] – Bryan Bender, a.a.O.

[48] – Siehe ausführlicher Elisabeth Eaves, a.a.O.