24. Jahrgang | Nummer 2 | 18. Januar 2021

Die Grünen und die US-Atomwaffen auf deutschem Boden

von Sarcasticus

Vorbemerkung: Zum konstituierenden Gründungskonsens und nachmaligen Markenkern der Partei Die Grünen zählte einst auch ein aktiver, konsequenter Pazifismus, wie ihn beispielsweise Petra Kelly vertrat. Der ist vom Metzgersohn und Steineschmeißer gegen das Establishment sowie Polizistenverprügeler Joseph Martin Fischer logischerweise nie geteilt worden. So war es von einer gewissen Folgerichtigkeit, dass Fischer – als es ab 1998 ans Mitregieren im Bund ging und er nunmehr deutscher Außenminister – zum Totengräber des grünen Pazifismus wurde. Zusammen mit seinen SPD-Kollegen Schröder (Kanzler) und Scharping (Verteidigungsminister) sowie unbehindert von seiner Partei schickte er erstmals seit 1945 deutsches Militär in einen Krieg, und der war überdies zugleich eine völkerrechtswidrige Aggression. Gegen Serbien. Dazu bediente sich Fischer einer perfiden Propaganda („Nie wieder Auschwitz!“) im Hinblick auf ein serbisches Genozid-Vorhaben, genannt „Hufeisenplan“, von dem sich später herausstellte, dass es in Scharpings Ministerium fabriziert worden war. (Siehe ausführlicher Das Blättchen, 6/2019.)

Nachdem Robert Habeck, der Co-Chef der Grünen, seine Ambitionen auf das Kanzleramt schon vor einiger Zeit öffentlich gemacht hatte, folgte ihm Annalena Baerbock, die andere Hälfte der grünen Doppelspitze, kurz vor Weihnachten nach: „Ja, ich traue auch mir das Kanzleramt zu.“ Ob diese Trauben nicht doch noch etwas zu hoch hängen, wird die Bundestagswahl am 26. September zeigen. Dass Die Grünen jedoch danach im Bund wieder mitregieren werden, wird von Beobachtern kaum mehr bezweifelt. Nur die Konstellation ist noch offen: Schwarz-Grün und Rosa-Rot-Grün werden als die wahrscheinlichsten Alternativen angesehen.

In beiden Fällen bekämen es Die Grünen mit Koalitionspartnern zu tun, die in einer zentralen sicherheitspolitischen Frage, nämlich der nach der Zukunft der sogenannten nuklearen Teilhabe der Bundesrepublik und damit zur Beibehaltung von US-Atomwaffen auf deutschem Boden, nicht mehr komplett auf einer Linie liegen:

  • Die Position der CDU/CSU war von jeher und ist auch heute glasklar pro nukleare Teilhabe. Da steht Bundesverteidigungsministerin und Noch-CDU-Vorsitzende Anngret Kramp-Karrenbauer (AKK), hier in einer Rede anlässlich der Verleihung des Medienpreises der Steuben-Schurz-Gesellschaft am 23. Oktober 2020, pars pro toto: „Deutschland sollte sich sehr entschlossen zur Fortsetzung seiner nuklearen Teilhabe innerhalb der NATO bekennen und die Mittel dafür bewilligen.“ (Zur Auseinandersetzung mit dieser Position siehe ausführlich Das Blättchen, 10/2020 und 11/2020.)
  • Auch die Spitze der SPD, die in 18 der letzten 22 Jahre der Regierung angehört hat, war in dieser Zeit stets Verfechterin der nuklearen Teilhabe Deutschlands und der damit verbundenen Stationierung von US-Atomwaffen auf dem Fliegerhorst der Bundesluftwaffe bei Büchel in der Eifel verteidigt. Führende Kräfte der Partei – wie etwa Außenminister Heiko Maas – halten unverändert daran fest. Seit Mai vergangenen Jahres jedoch bezieht der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Rolf Mützenich, dezidiert eine gegenteilige Position: „Atomwaffen auf deutschem Gebiet erhöhen unsere Sicherheit nicht, im Gegenteil. Es wird Zeit, dass Deutschland die Stationierung zukünftig ausschließt. Das haben schließlich auch andere Staaten getan, ohne dabei die Nato infrage zu stellen.“ Mützenich wird unter anderem von SPD-Co-Parteichef Norbert Walter-Borjans unterstützt.

Im Hinblick auf die Grünen gilt neben dem strikten Nein zur Atomkraft auch ein solches zu Kernwaffen nach allgemeiner Auffassung als zum Gründungskonsens und Markenkern der Partei von Anbeginn an gehörig. Im ersten Grundsatzprogramm von 1980 hieß es sehr klar: „Verbot der Lagerung und Produktion atomarer […] Waffen in aller Welt.“ Und: „Die Abrüstung muß […] im eigenen Land beginnen, und sollte andere Länder veranlassen, ebenfalls abzurüsten.“

18 Jahre später waren mit der ersten rosa-grünen Koalition auf Bundesebene (1998–2005) die Voraussetzungen gegeben, eine solche Linie aktiv zu verfolgen. Wie schon erwähnt, hieß der grüne Außenminister damals Fischer. Der verkündet heute, so Mitte November beim „NATO Talk 2020“, einer Konferenz der Bundesregierung mit Think Tanks und hochrangigen Militärs: Auf die US-Atomwaffen dürfe Deutschland nicht verzichten. Dieser Meinung war er offensichtlich bereits als Außenminister, denn Initiativen zur Beendigung der nuklearen Teilhabe gab es von ihm keine. Auch ein diesbezüglicher Offener Brief von Greenpeace an ihn anlässlich der 2005 anstehenden Überprüfungskonferenz des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen stieß auf taube Ohren. Friedenspolitik, so damals ein Abrüstungsexperte von Greenpeace, sei unglaubwürdig, solange sich die Bundesregierung nicht von den Atombomben in Deutschland trenne.

Das neue, gerade verabschiedete (dritte) Grundsatzprogramm der Grünen enthält zur Atomwaffenfrage die Forderung nach „Beitritt Deutschlands zum VN-Atomwaffenverbotsvertrag und […] Stärkung des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags“ sowie folgende Weiterungen: „Dafür muss gemeinsam mit den internationalen und europäischen Partnern am Ziel eines atomwaffenfreien Europas gearbeitet werden. Dazu braucht es ein Deutschland frei von Atomwaffen und damit ein zügiges Ende der nuklearen Teilhabe.“

Beobachtern wie Ulrich Schulte und Tobias Schulze von der taz, Leiter Parlamentsbüro der eine und Ressortleiter Inland der andere, ist aufgefallen, dass diese Formulierungen hinreichend schwammig sind, um in künftigen Koalitionsverhandlungen wahlweise sowohl der CDU als auch der SPD entgegenkommen zu können. Und in der Tat – das attributive „zügig“ zum „Ende der nuklearen Teilhabe“ bedeutet eben nicht „unverzüglich“, ist vielmehr ein Schlüssel zum Manövrieren. Nicht zuletzt gegenüber der Parteibasis, von der zum Teil eindeutigere Positionen vertreten werden.

Der Verdacht schließlich, dass sich die Spitze der Grünen damit insbesondere die Tür zur Union offenhalten will, wird durch weitere Indizien genährt.

Tobias Lindner etwa, Sprecher für Sicherheitspolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und Obmann im Verteidigungsausschuss, lehnte kürzlich beim „NATO Talk 2020“ einen schnellen Abzug der US-Atomwaffen ab. Lieber wolle er darauf hinsteuern, dass es „2030 oder 2035“ vielleicht ein „window of opportunity“ gebe, um mit Russland über eine gemeinsame Reduzierung der Atomwaffen zu sprechen. Woher dieses „Fenster“ in zehn bis 15 Jahren kommen soll, ließ Lindner dabei im Dunkeln. Er wurde eigentümlicherweise auch nicht danach gefragt. Sprechen könnte man mit Moskau über die substrategischen (oder auch taktischen) Atomwaffen, um die es in diesem Kontext geht, allerdings schon heute, denn Russland lehnt das ja nicht ab – unter der einen Bedingung, dass die USA zuvor das tun, man selbst bereits Anfang der 1990er Jahre getan hat: Vor Gesprächsbeginn sollen alle noch vorhandenen US-Systeme auf nationales Territorium zurückgezogen werden. Selbst wer dies für einen perfiden Trick Moskaus hält, müsste nicht überängstlich sein, könnte vielmehr die Probe aufs Exempel wagen, denn schließlich haben die USA im vergangenen Jahr, wie DER SPIEGEL berichtete, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion vorgeführt, dass ein Atomwaffenlager wie das in Büchel nicht nur binnen 48 Stunden komplett beräumt, sondern gegebenenfalls auch wieder aufgefüllt werden kann …

Baerbock gab praktisch ebenfalls ein Signal an die Union, als sie Ende November im Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte: Über einen Abzug der US-Atomwaffen „müssen wir mit unseren Bündnispartnern sprechen. Wir können ja nicht einfach sagen, wir schicken die US-Atomwaffen mal eben zurück in die USA.“

Dass Baerbock in diesem Zusammenhang jedoch den Sachstand in der NATO unerwähnt ließ, gibt zusätzlich zu denken. Der zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass es seit dem „Deterrence and Defence Posture Review“ des Bündnisses vom Mai 2012 die bindende Festlegung gibt, „eine möglichst breite Beteiligung der betroffenen Bündnispartner“ (gemeint sind alle Mitglieder der sogenannten Nuklearen Planungsgruppe der NATO), „für den Fall“ sicherzustellen, „dass die NATO beschließen sollte, ihre Abhängigkeit von in Europa stationierten nichtstrategischen Kernwaffen zu verringern“. Das heißt im Klartext, dass wer immer danach trachtet (Polen, die baltischen Staaten, Rumänien …) jeden Vorstoß zum Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland (wie auch aus den anderen vier europäischen Stationierungsländern – Niederlande, Belgien, Italien, Türkei) per Veto blockieren kann. Solange die Spitzen der Grünen nicht zu erkennen geben, dass sie diesen Sachstand zur Kenntnis genommen haben, und sich nicht dazu äußern, wie sie damit umzugehen gedenken, ist jede Erklärung zur Beendigung der nuklearen Teilhabe lediglich ein Lippenbekenntnis. Entweder eines aus Unkenntnis oder eines unter vorsätzlicher Täuschung des Publikums.

Zusätzliche Brisanz gewinnt das Thema dadurch, dass in der nächsten Legislaturperiode eine höchst kostspielige Entscheidung ansteht: Bei Fortführung der nuklearen Teilhabe müssen die Tornado-Kampfbomber, unter die die US-Atomwaffen im Ernstfall montiert würden, wegen Überalterung ersetzt werden – durch Ankauf eines US-Nachfolgemodells für zig-Milliarden Euro. AKK hat sich bekanntlich für den Kampfbomber F-18 entschieden. Teile der SPD-Bundestagsfraktion sind dagegen.

Leo Hoffmann-Axthelm von ICAN, der internationalen Anti-Atomwaffen-Kampagne (2017 mit dem Friedensnobelpreis geehrt), fordert daher: „Auf keinen Fall dürften die Grünen als Regierungspartei atomwaffenfähige Kampfflugzeuge beschaffen.“

Und Baerbock oder Habeck? Halten sich, um es diplomatisch zu formulieren, bedeckt.

Vor diesem Hintergrund ist die Frage nicht eindeutig zu beantworten, ob es bei einer erneuten Regierungsbeteiligung der Grünen deren Position zur Beendigung der nuklearen Teilhabe, wie sie im neuen Grundsatzprogramm fixiert ist, nicht ebenso ergehen würde wie weiland dem grünen Pazifismus. Doch eine nicht unwahrscheinliche Möglichkeit ist das schon.