23. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2020

Einspruch, Euer Ehren!

von Sarcasticus

Wenn es nach mir geht,
können wir gern […] noch einen Zahn zulegen.

Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK), Bundesverteidigungsministerin,
im Interview mit der FAZ, 24.11.2020

Minister lassen sich ihre Reden schreiben, und das ist gut so. Denn häufig sind die Minister fachfremd, und bisweilen ist die Materie anspruchsvoll. Doch für die zentrale Botschaft ihrer jüngsten Grundsatzrede – es war erst ihre zweite im Amt, veröffentlicht am 17. November und virtuell gerichtet an Studierende der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg – hätte AKK ohne Weiteres auf fremde Hilfe verzichten können, denn diese Botschaft bestand einzig und allein in der Forderung: Militärausgaben weiter steigern! Natürlich erfolgte die Verkündung des Imperativs nicht mit der vollen Schärfe der Verkürzung, sondern gemildert durch einschlägigen Jargon: „Sehr geehrte Damen und Herren, wenn wir über das Geld für unsere Sicherheit sprechen“, dann um , „die Verteidigungshaushalte auch in der Corona-Zeit zuverlässig [zu] stärken“, sowie darüber, „dem Vorbild anderer europäischer Länder zu folgen, und ein Verteidigungsplanungsgesetz zu verabschieden, das die Finanzierung unserer Sicherheit überjährig und langfristig festschreibt“. Mit klarer Tendenz, versteht sich: „Die kommenden Verteidigungshaushalte benötigen […] einen gesunden Wachstumskurs.“

Noch Fragen?

Durchaus.

DER SPIEGEL gelangte kürzlich zu folgender, höchst ernüchternden Bestandsaufnahme: Zwar sei „in den vergangenen sechs Jahren der Verteidigungshaushalt von 32,4 auf 45,6 Milliarden Euro gestiegen“, doch „ohne dass sich die Einsatzbereitschaft der Truppe verbessert“ habe: „Hubschrauber, die aus Altersschwäche auf Äckern notlanden müssen. Moderne Schützenpanzer, die auch fünf Jahre nach ihrer Auslieferung noch nicht einsatzbereit sind. Ein Beschaffungsamt in Koblenz, das es noch nicht einmal hinbekommt, neue Sturmgewehre zu kaufen.“ Nicht zu vergessen die permanente Reihe von Beschaffungsgroßvorhaben unseres Militärs, die vor allem eines gemeinsam haben – das Motto „Pleiten, Pech und Pannen. Vom Kampfhubschrauber Tiger über den Airbus Militärtransporter A400M bis zur Fregatte 125. Der Prototyp der letztgenannten Baureihe, die Baden-Württemberg, versucht, wie die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung gerade informierte, „nach vier Jahren praktischer Erprobung und mehr als 75.000 Meilen auf See noch immer […], einsatztauglich zu werden.“ So gesehen hätte man die dafür verausgabten Bundeswehrmilliarden auch gleich in die Spree schmeißen können. Oder für Sinnvolleres einsetzen, woran ja bereits vor Corona kein Mangel geherrscht hat.

Doch halt! Nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, indem man die Bedrohungslage ausblendet. Die hatte AKK in ihrer Grundsatzrede denn auch fest im Blick: „Russland setzt […] unbeirrt seine stetige Aus-, ja Aufrüstung mit konventionell und nuklear bestückten Raketensystemen fort – in direkter Nachbarschaft der Europäischen Union, unmittelbar an der Ostgrenze der NATO. Das strategische Gleichgewicht und potenziell auch die nukleare Balance in Europa werden dadurch empfindlich gestört.“

An dieser Stelle ließ die Ministerin keinen Zweifel daran, wie sie Moskau in Schach halten will: Ihr sei „besonders wichtig“, dass „Deutschland sich zu seiner Rolle in der nuklearen Teilhabe in der NATO bekennt“. Dass AKK unter anderem dafür ein „gesundes Wachstum“ des Verteidigungshaushaltes benötigen würde, war schon vor einiger Zeit deutlich geworden, als die Ministerin offen Kurs darauf nahm, US-Kampfflugzeuge vom Typ F-18 als Atomwaffenträger und Ersatz für die altersschwachen Tornado-Kampfbomber der Bundeswehr einzukaufen, die derzeit für diese Rolle vorgesehen sind. Allein die F-18-Beschaffung würde nach Berechnungen der Experten Otfried Nassauer und Ulrich Scholz bis zu 8,77 Milliarden Euro erfordern. Von den Kosten für jahrzehntelangen Einsatz und Unterhalt ganz abgesehen.

Immer wenn es um diese technische nukleare Teilhabe geht, muss jedoch nachgebohrt werden – allein deshalb, weil deren Befürworter selbst das praktisch nie tun. Anders Das Blättchen: siehe zum Beispiel die Ausgaben 9/2020, 10/2020 und 11/2020.

Die technische nukleare Teilhabe Deutschlands läuft, kurz gesagt, darauf hinaus, im Falle einer militärischen Auseinandersetzung mit Russland, die auf die nukleare Ebene eskaliert, amerikanische Atombomben mittels Trägersystemen der Bundeswehr, derzeit Tornados, gegen russische Ziele zum Einsatz zu bringen.

Aufgrund der Vernichtungskraft nuklearer Fissions- und Fusionswaffen sowie der Tatsache, dass Russland bereits zuzeiten der Sowjetunion nukleare Supermacht mit einer Vielzahl von Kernwaffeneinsatzmitteln war, ist eine multidisziplinäre westdeutsche Untersuchung, deren Ergebnisse unter dem Titel „Kriegsfolgen und Kriegsverhütung“ publiziert worden sind, bereits Anfang der 1970er Jahre zu dem Fazit gelangt: „Der Einsatz nuklearer Waffen in der Absicht der Verteidigung der Bundesrepublik würde zur nuklearen Selbstvernichtung führen.“  Wegen atomarer Schläge oder Gegenschläge durch Moskau. An diesem Sachverhalt hat auch die starke Reduzierung der damaligen aberwitzigen Atomwaffenbestände nach dem Ende des Kalten Krieges im Grundsatz nichts geändert.

Das Dilemma „Verteidigung mit Atomwaffen gegen eine Atommacht führt zu nuklearer Selbstvernichtung“ ist mit militärischen Mitteln im Übrigen nicht zu lösen, sondern nur politisch, durch Rückkehr zu einem entspannten Verhältnis zu Moskau. Auch dies ein ständiges Thema im Blättchen, diktiert von der Erkenntnis: „Wirkliche Sicherheit vor einer Atommacht wie Russland ist […] gegen diese und in einem militärischen Konflikt mit dieser schon gar eine Schimäre. Sicherheit vor einer Atommacht wie Russland ist vielmehr nur als gemeinsame, kooperative Sicherheit zu haben. Daher sollte man mit Russland keinesfalls verfeindet, besser befreundet, noch besser verbündet sein, um jede Möglichkeit einer militärischen Auseinandersetzung schon vom Grundsatz her auszuschließen.“ (Das Blättchen, 22/2018) Wer solches prinzipiell, etwa solange Russland keine Demokratie westlichen Zuschnitts ist, für ausgeschlossen hält, der muss eben weiter mit dem Risiko atomarer Existenzgefährdung leben. Dass es allerdings praktisch keinen eigenen Schatten gibt, über den man nicht springen kann, zeigt die – gemessen an den eigenen moralischen Ansprüchen – erstaunliche Flexibilität unserer politischen Entscheidungselite, wenn es etwa um die Beziehungen zu einem so unappetitlichen Regime wie dem in Saudi-Arabien geht.

Doch zurück zu AKKs jüngstem Grundsatzauftritt.

Vor dem hier skizzierten Hintergrund müsste jede, mindestens aber jede öffentlich geäußerte Befürwortung der technischen nuklearen Teilhabe Deutschlands – und zwar mit der produktiven Penetranz eines ceterum censeo – mit der Frage konfrontiert werden: „Wie soll im Falle des Falles die atomare Selbstvernichtung Deutschlands verhindert werden?“ Diese Frage bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit Nachdruck zu stellen, das wäre die Aufgabe einer kritischen Öffentlichkeit, die es – von einer in ganzer gesellschaftlicher Breite leider nicht mehr wirksamen Friedensbewegung abgesehen – nicht mehr gibt, und von kritischen Leitmedien, die man nicht nur zu dieser Problematik seit langem vergeblich sucht. Im Bundestag wäre dies nicht nur die Aufgabe der Opposition, sondern auch die einer SPD-Fraktion, deren Vorsitzender, Rolf Mützenich, die Aufgabe der technischen nuklearen Teilhabe Deutschlands offen fordert. Nur scheint Mützenich bedauerlicherweise im Kreise seiner führenden eigenen Genossen nicht mehrheitsfähig zu sein. Ausdrücklich widersprochen hat Außenminister Heiko Maaß. Auch Fritz Felgentreu, der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, sowie Karl-Heinz Brunner, sozialdemokratischer Vorsitzender des Bundestagsunterausschusses Abrüstung, hielten dagegen.

AKK jedenfalls konnte ihr plattes Plädoyer pro nukleare Teilhabe einmal mehr unwidersprochen über die Bühne bringen.

Zum Schluss ein optimistischer Schlenker: Dass AKK in ihrer Grundsatzrede schließlich auch noch China militärisch ins Visier nahm und bekanntermaßen an der Absicht festhält, demnächst eine Fregatte der Bundesmarine in indopazifische Gewässer zu entsenden (um Peking zu zeigen, wo der Hammer hängt?), lässt wenigstens einer Hoffnung Raum: Offenbar fällt der diesjährige Karneval doch nicht komplett aus.

Das im Text erwähnte Buch „Kriegsfolgen und Kriegsverhütung“ (Herausgeber: C. F. von Weizsäcker) ist 1971 bei Hanser in München erschienen. Das Fazit-Zitat entstammt einer Kurzfassung mit dem Titel „Durch Kriegsverhütung zum Krieg? Die politischen Aussagen der Weizsäcker-Studie ‚Kriegsfolgen und Kriegsverhütung‘“ (H. Afheldt und andere), 1972, ebenfalls bei Hanser – d.Red.