21. Jahrgang | Nummer 22 | 22. Oktober 2018

Ischinger und wie er die Welt sieht

von Wolfgang Schwarz

Wer bisher noch nicht weiß, wo Wolfgang Ischinger, früherer bundesdeutscher Spitzendiplomat, auch Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt und seit Jahren Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, überall gedient hat, an welchen internationalen Events und Prozessen er mitbeteiligt war und wen alles er dabei getroffen hat, dem hilft sein gerade erschienenes Buch „Welt in Gefahr“ ziemlich umfassend auf die Sprünge. Doch soll fehlender Verzicht auf das höchst unaltruistische Motto „Tue (deiner Meinung nach) Gutes und rede (ausführlich) darüber!“ keineswegs zum Maßstab der Bewertung der Schrift gemacht werden, zumal der Autor sich durchaus einzuordnen weiß. Etwa wenn er jenen multilateralen Prozess beschreibt, der zum Abkommen von Dayton führte, das 1995 einen der jüngeren Balkankriege, den in Bosnien und Herzegowina, nach dreieinhalb Jahren beendete.
Trotz seiner bekannten russlandkritischen Positionen, die Ischinger auch in diesem Buch in aller Ausführlichkeit und keineswegs ohne doppelte Standards ausbreitet, was die politische und völkerrechtliche Bewertung des Westens und Russlands seit 1990 anbetrifft, trägt der Autor keine Scheuklappen. Er gelangt vielmehr zu dieser Schlussfolgerung: „Die harte Wahrheit ist: Weder die Integrität und Sicherheit der Ukraine noch ihre nachhaltige wirtschaftliche Rehabilitation lassen sich im dauerhaften Konflikt mit dem großen Nachbarn Russland verwirklichen. Nicht nur in der Ukrainefrage bleibt deshalb der Grundsatz richtig, dass eine tragfähige Sicherheitsarchitektur Europas nur gemeinsam mit Russland zu gestalten ist.“
Allerdings folgt ein fundamentaler Denkfehler auf dem Fuße, wenn es direkt im Anschluss heißt: „Genauso richtig ist aber leider auch, dass heute vielen europäischen Ländern auch Sicherheit vor Russland geboten werden muss.“ Daher sei es „gut […], dass die Bundeswehr das Kommando über eines der vier multinationalen Bataillone übernommen hat, welche die NATO nach Polen, Estland, Lettland und Litauen entsandt hat“.
Falsch! Die neue NATO-Militärpräsenz im Baltikum und in Polen mag die Illusion von Sicherheit vor Russland bestärken. Aber nur, solange Frieden herrscht. Denn Sicherheit vor einer Atommacht wie Russland in einer militärischen Auseinandersetzung mit derselben wäre etwas völlig anderes – nämlich unmöglich!
Sollte es etwa im Baltikum zu einem Zusammenstoß kommen, dann wären die in dieser Region lokal überlegenen russischen Kräfte wahrscheinlich in der Lage, in höchstens 60 Stunden die Außenbezirke von Tallin (Estland) und Riga (Lettland) zu erreichen, wie das 2016 bei der RAND Corporation durchgespielt worden ist. Und sie könnten wohl auch durch Abriegelung des sogenannten Suwalki Gaps zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und Weißrussland die Landverbindung des Baltikums zum NATO-Verbündeten Polen unterbrechen. Mehr als ein höchst fragwürdiges Fait accompli hätte Russland damit jedoch nicht gewonnen. Denn der eigentliche Großkonflikt mit der NATO begänne ja überhaupt erst danach.
Würden die heranzuführenden, insgesamt hoch überlegenen konventionellen NATO-Streitkräfte dabei russische Grenzen erreichen und überschreiten, könnte aus Moskauer Sicht eine Situation eintreten, für die Präsident Putin in seiner Rede an die Nation am 1. März 2018 aus der geltenden russischen Militärdoktrin zitierte, „dass Russland sich das Recht, Kernwaffen einzusetzen, […] als Antwort vorbehält auf […] eine Aggression gegen uns mit konventionellen Waffen, die die Existenz des Staates gefährden“.
Das meint atomaren Ersteinsatz zur Abwehr einer drohenden konventionellen Niederlage.
Ob sich aus einer solchen Situation eine Eskalation bis hin zum allgemeinen thermonuklearen Schlagabtausch und bis zur weitgehenden Zivilisationsvernichtung anschließen würde, wovor Experten schon im Kalten Krieg immer wieder gewarnt haben, mag man für eine Glaubensfrage halten. Schwerlich zu widersprechen ist allerdings dem früheren US-Sicherheitsberater McGeorge Bundy, der dazu bereits 1983 argumentierte: „Niemand weiß, wie irgendein ‚begrenzter‘ [nuklearer – W.S.] Einsatz beantwortet werden würde. […] Natürlich kann niemand beweisen, dass jeglicher Ersteinsatz von Kernwaffen zum allgemeinen Flächenbrand führen wird. Aber was entscheidend [Hervorhebung – W.S.] ist, niemand kann auch nur annähernd beweisen, dass das nicht [Hervorhebung – W.S.] der Fall sein wird.“
Wirkliche Sicherheit vor einer Atommacht wie Russland ist daher gegen diese und in einem militärischen Konflikt mit dieser schon gar eine Schimäre. Sicherheit vor einer Atommacht wie Russland ist vielmehr nur als gemeinsame, kooperative Sicherheit zu haben. Daher sollte man mit Russland keinesfalls verfeindet, besser befreundet, noch besser verbündet sein, um jede Möglichkeit einer militärischen Auseinandersetzung schon vom Grundsatz her auszuschließen.
Einer Atommacht wie Russland einen militärischen Stolperdraht in Gestalt von vier multinationalen Bataillonen vor die Haustür zu spannen, mag, wie gesagt, die Illusion von Sicherheit bedienen. Der Wirklichkeit von Sicherheit dient so ein Draht mitnichten, denn er signalisiert militärische Gegnerschaft, wenn nicht Feindschaft, wo das Problem nur politisch und nur kooperativ zu lösen ist.
Ischinger bringt in seinem Buch jedoch zugleich einen Gedanken ins Spiel, der Moskaus Sicht auf den aktuellen Konflikt um die Ukraine in Rechnung stellt und der als Türöffner für neue konstruktive sicherheitspolitische Kontakte zwischen beiden Seiten geeignet scheint: „[…] eine NATO-Erklärung, dass der Prozess der Erweiterung nach Osten abgeschlossen ist, könnte den Konflikt vielleicht entschärfen“ Als von vergleichbar positiver Wirkung könnte sich auch dieser Vorschlag Ischingers erweisen: „Aus meiner Sicht wäre es ein starkes positives Signal unserer Offenheit, wenn wir die Visumsbefreiung für Russen – trotz allen politischen Ärgers mit Putin – jetzt verkünden. Immerhin haben die Ukrainer dieses Privileg bereits erhalten – warum also jetzt nicht auch die Russen?“
Ein Fehler ist dem Autor in seinem Abschnitt zum INF-Vertrag unterlaufen. Mit diesem Abkommen von 1987 wurden bekanntlich zwei Kategorien landgestützter nuklearer Trägersysteme der USA und der UdSSR komplett abgerüstet: nämlich ballistische Raketen und Marschflugkörper von mittlerer Reichweite (500 bis 5500 Kilometer).
Seit längerem werfen beide Seiten sich Vertragsverletzungen vor. Dazu Ischinger: „Russland […] sieht im US-Raketenabwehrschirm für Osteuropa einen Verstoß gegen den Vertrag, weil es das amerikanische System mit seinen Installationen in Polen und Rumänien als gegen Russland gerichtet sieht – nicht gegen Raketen aus dem Iran oder anderen Staaten.“
Zwar betrachtet Moskau die US-Raketenabwehrsysteme in Polen und Rumänien tatsächlich als gegen sich gerichtet, aber darin liegt keine Verletzung des INF-Vertrages und wird auch von Russland keine moniert. Vielmehr benutzen die USA im Rahmen ihrer Aegis Ashore Missile Defense System (AAMDS) genannten Raketenabwehrkomplexe in Rumänien und Polen Abschussvorrichtungen für sogenannte SM-3 Block IB Raketen, mit denen nach russischer Lesart auch landgestützte Marschflugkörper mittlerer Reichweite gestartet werden könnten. Und solche Abschussvorrichtungen verbietet der INF-Vertrag.

Wolfgang Ischinger (mit Claudia Cornelsen): Welt in Gefahr. Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten, Econ Verlag, Berlin 2018, 298 Seiten, 24,00 Euro.