21. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2018

Atomwaffen für Deutschland?

von Wolfgang Kubiczek

Noch vor dem Amtsantritt von Donald Trump im November 2016 forderten einige sicherheitspolitisch ambitionierte Kreisen aus Politik, Medien und Wissenschaft der Bundesrepublik: Wir (Europa – sprich die EU/Deutschland) benötigen eine eigenständige nukleare Abschreckungsfähigkeit, also eigene Atomwaffen. Begründet wurde dies mit Zweifeln an der Zuverlässigkeit der nuklearen Sicherheitsgarantie der USA für ihre europäischen Verbündeten unter einer Trump-Administration.
Den Startschuss gab Roderich Kiesewetter, CDU-Abgeordneter im Bundestag und ehemaliger Generalstabsoffizier der Bundeswehr im Rang eines Obersten. Seine Idee: Erweiterung des französischen und britischen Atomwaffenpotenzials zu einem „nuklearen Schutzschirm“ für Europa, dessen erhebliche Zusatzkosten über den ab 2019 vorgesehenen gemeinsamen europäischen Militärhaushalt abgedeckt werden müssten. Deutschland wäre dann der Hauptfinanzier dieser Atomstreitmacht, ohne selbst rechtlich Kernwaffenstaat zu sein. Die Idee gefiel auch dem starken Mann Polens, Jaroslaw Kaczynski, der sie allerdings für realitätsfern hielt, da die erforderlichen gewaltigen Ausgaben nicht finanzierbar seien, „denn eine eigene Atommacht müsste mit Russland mithalten können.“
Dann wurde von „einer kleinen, aber wachsenden Gruppe“ (The New York Times) konservativer Kreise nachgelegt, getestet, wie weit man gehen könne. Einer der Verleger der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Berthold Kohler, forderte „das für deutsche Hirne ganz und gar Undenkbare, die Frage einer eigenen nuklearen Abschreckungsfähigkeit“, denn „die französischen und britischen Arsenale sind dafür in ihrem gegenwärtigen Zustand zu schwach.“ Dem folgte ein Blätterrauschen in Bild, Spiegel und anderen einschlägigen Medien. Ihren Tiefpunkt erreichte die Kampagne Anfang 2017 mit einem Beitrag des Politologen Maximilian Terhalle im Debattenportal Causa des Berliner Tagesspiegel. „Deutschland braucht Atomwaffen“, so der Autor: „Ein Deutschland […], das die Macht von Putins Russland begrenzen will[…]muss dies militärisch und damit nuklear tun. Alles andere ist Illusion […]. Die umfassende atomare Bewaffnung Deutschlands ist das zentrale Mittel, um ein Europa, das nicht durch die USA abgesichert ist, so zu erhalten, wie es unseren liberalen Lebensvorstellungen entspricht.“ Ein geistiger Irrläufer oder Profilneurotiker, der sein Unwesen gern an ostdeutschen Universitäten treibt? Nicht unbedingt: So arbeitete er – neben ostdeutschen Universitäten – unter anderem bei der renommierten „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“ und im Verteidigungsministerium als Referent für Sicherheitspolitik und Strategie, lehrte und forschte mit einem Stipendium der Fritz-Thyssen-Stiftung an den Universitäten Yale, Columbia und Cornell…
Auch wenn die Debatte um Atomwaffen für Deutschland 2017 wieder abebbte, ist das kein Zeichen dafür, dass sie ad acta gelegt wurde. Denn sie kann sich auf eine lange Tradition berufen. Den historischen Zusammenhang von nuklearer Rüstung und deutscher Politik von Anfang bis heute faktenreich und in einer allgemein verständlichen Sprache aufzuzeigen ist das Verdienst des im Springer-Verlag erschienenen Buches von Werner Sonne „Leben mit der Bombe. Atomwaffen in Deutschland“.

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Die Entdeckung der Kernspaltung in Nazi-Deutschland 1938 und die Kooperation der im ersten „Uranverein“ zusammengeschlossenen Kernforscher mit dem deutschen Militär kann als Ausgangspunkt für die bis heute reichende wechselvolle Geschichte des deutschen Verhältnisses zur Atombombe bezeichnet werden. Entgegen manch anderer Darstellung geht Werner Sonne davon aus, dass die Elite der deutschen Kernforscher im „Dritten Reich“ wie Otto Hahn, Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker an den Versuchen zur militärischen Nutzung der Kernspaltung beteiligt war. Dass es nicht dazu kam, lag daran, so der Autor, „dass das Nazi-Regime […] nicht genügend Mittel zur Verfügung stellen konnte und die Zeit zu kurz war – und nicht daran, dass sich die beteiligten Wissenschaftler eigentlich irgendwie im Widerstand befanden.“
Deutsche Wissenschaftler – im Exil und als von den Siegermächten gesuchte Spezialisten nach Kriegsende – waren teils maßgeblich an der Entwicklung der späteren Supermächte zu Atomwaffenstaaten beteiligt. Ihr Anteil an der sowjetischen Atombombe ist jedoch mit Ausnahme des deutschen Kernforschers Klaus Fuchs, der als Mitarbeiter am anglo-amerikanischen Atombombenprojekt die Sowjetunion mit geheimdienstlichen Informationen versorgte, umstritten. Der wichtigste deutsche Beitrag zum sowjetischen Atomprogramm waren zweifellos die Uranlieferungen des „größten Uranabbauprojekts der Welt“, der Wismut-AG im Erzgebirge, die in der Zeit des kalten Krieges den notwendigen Rohstoff für die sowjetischen Atombomben lieferte.
Der mörderische Einsatz US-amerikanischer Atombomben gegen Hiroshima und Nagasaki im August 1945 mit über 200.000 Todesopfern wurde von sowjetischer Seite als politische Drohgebärde aufgefasst und war als solche auch gemeint. Noch offensichtlicher wurden US-Atomwaffen als politisches Druckmittel im Zusammenhang mit der Blockade West-Berlins eingesetzt. US-Präsident Truman stimmte im Juni 1948 der demonstrativen Entsendung von drei B-29-Staffeln – der Flugzeugtyp, von dem aus die Atombomben über Japan abgeworfen worden waren – nach Europa, darunter nach dem bayrischen Fürstenfeldbruck, zu. Das politische Signal war unübersehbar, wie der Autor schreibt: „Amerika drohte der Sowjetunion erstmals mit dem Einsatz von Atombombenträgern. Moskau lag in ihrer Reichweite.“
Das Nuklearmonopol der USA, Voraussetzung für erfolgreiche politische Druckausübung,  wurde jedoch bereits ein Jahr später mit der ersten sowjetischen Atombombe im August 1949 gebrochen. Der Sputnik-Start von 1957 machte schließlich deutlich, dass auch US-amerikanisches Territorium für sowjetische Raketen mit Nuklearsprengköpfen erreichbar sein wird. Ein prägendes Element des kalten Krieges – das nukleare Wettrüsten – begann eine Eigendynamik zu entwickeln.
Die beiden deutschen Staaten spielten – mit unterschiedlichen Anteilen – in dieser Auseinandersetzung eine zentrale Rolle. Sie aufzuzeigen ist das Hauptanliegen des Buches von Werner Sonne, wobei naturgemäß westdeutsche Politik im Mittelpunkt steht. Noch waren die Schrecken des Krieges nicht verarbeitet, da strebte der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer eine Wiederbewaffnung der Bundesrepublik an. Er erhielt dafür bereits 1950 die Zustimmung der neu gegründeten NATO und beauftragte eine Gruppe aus fünfzehn ehemaligen hochrangigen Offizieren, darunter zehn Generale und Admirale der Armee Nazi-Deutschlands, einen Plan für den Aufbau westdeutscher Streitkräfte zu erarbeiten. Das Gros der Autoren der im Ergebnis entstandenen „Himmeroder Denkschrift“, die eine Integration der neuen Streitmacht in eine „europäisch-atlantische Verteidigungsarmee“ vorschlugen, aber auch „sofortige militärische Gleichberechtigung“ für Deutschland forderten, sollte später Spitzenpositionen in der Bundeswehr übernehmen.
Obwohl Adenauer 1954 (auch als Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der NATO) in einer Erklärung auf die Herstellung von atomaren, biologischen und chemischen Waffen verzichten musste, schildert der Autor, wie die Bonner Regierung danach immer wieder versuchte, „irgendwie den Finger an den nuklearen Abzug zu bekommen.“ Als Vorzugsvariante wollte man über eigene Atomwaffen verfügen beziehungsweise über eine europäische Lösung an sie herankommen. „Adenauers Frontmann für die Atombombe“, schreibt Werner Sonne, „war Franz-Josef-Strauß.“ Strauß ließ, so der Autor, „von Anfang an keinen Zweifel daran, dass aus seiner Sicht die Bundesrepublik den Finger an den atomaren Abzug bekommen sollte.“ Schützenhilfe erhielt er von Bundeskanzler Adenauer, der öffentlich und verharmlosend erklärte, taktische Atomwaffen seien nur eine Weiterentwicklung der Artillerie und die Bundeswehr müsse schließlich die neueste Waffenentwicklung mitmachen. Allerdings stießen sie auf den erheblichen Widerstand der Öffentlichkeit, darunter der Göttinger Gruppe jener Kernforscher wie Otto Hahn, Carl Friedrich von Weizäcker und Werner Heisenberg, die teils bereits im Dritten Reich an den Grundlagen für eine deutsche Atombombe mitgewirkt hatten und nunmehr Strauß bei seinen Absichten beratend zur Seite stehen sollten. Sie erklärten, dass keiner von ihnen bereit wäre, an einer deutschen Atomwaffenproduktion mitzuarbeiten, da Atomwaffen „die Gefahr totaler Zerstörung Deutschlands im Ernstfalle heraufbeschwören“ würden.
Das hinderte die Bonner Regierung jedoch nicht daran, dieses Feld weiter zu beackern, diesmal gemeinsam mit Frankreich und Italien. Man war sich einig, dass man es nicht hinnehmen könne, wenn nur die USA über Kernwaffen verfügten. Im Ergebnis stand eine deutsche Regierung, wie der Autor schreibt, „nie zuvor und nie wieder danach […] in diesem Spätherbst 1957 […] so dicht davor, doch zu einer Atombombe zu kommen.“ Mit dem Machtantritt General de Gaulles, der auf eine eigenständige französische Atomstreitmacht orientierte, wurde der bereits paraphierte Vertrag schließlich gestoppt.

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Nach der Absage Frankreichs orientierte Strauß auf die aus seiner Sicht zweitbeste Variante: die indirekte Teilhabe an der von den USA getragenen Nuklearstreitmacht der NATO. Die USA hatten zuvor Fakten geschaffen und 1953 mit der Stationierung erster Atomwaffen begonnen, ein Schritt der dazu führen sollte, „dass das flächenmäßig kleine Land wie kein anderes mit Atombomben vollgestopft werden sollte“, so der Autor. Konsequent setzten die USA, unterstützt von der Adenauer-Regierung, nun ihr Ziel um, „von Deutschland aus den Atomkrieg in die Sowjetunion zu tragen.“
1957 verständigten sich beide Länder im Rahmen der NATO schließlich auf das bis heute gültige Prinzip der nuklearen Teilhabe: die USA stellen Atomsprengköpfe zur Verfügung, die NATO-Verbündeten und damit auch die Deutschen die Trägerwaffen. Die Sprengköpfe bleiben jedoch bis zu ihrem Einsatz unter amerikanischer Kontrolle. Werner Sonne kommentiert: „Nun gab es bei der Umwandlung der Bundesrepublik zu einem Atomstaat kein Halten mehr.“ Der diesbezügliche NATO-Beschluss von 1957 sei ein Schritt, „der vor allem Westdeutschland wie kein anderes Land zum nuklearen Pulverfass machen sollte.“ Anfang der siebziger Jahre befanden sich nach Schätzungen von 7.000 in Europa stationierten US-Atomsprengköpfen rund 5.000 auf westdeutschem Boden. Es handelte sich größtenteils um Kurzstreckensysteme, wie die atomfähigen Honest-John-Raketen(Reichweiten von 25 bis 48 km) und nukleare Artillerie mit noch kürzerer Reichweite, mit denen Einheiten der Bundeswehr ausgerüstet wurden. Angesichts ihrer kurzen Reichweite konnte das Einsatzgebiet für diese Waffen nur auf deutschem Territorium liegen.
Im Laufe der Zeit wurde immer nachdrücklicher die Frage aufgeworfen, ob denn die Bonner Regierung zulassen könne, dass im Kriegsfall Deutschland in beiden Landesteilen atomar verwüstet wird. Zum Eklat kam es beim NATO-Stabsmanöver Wintex 1986, als sich Willy Wimmer, Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium weigerte in seiner Funktion als „übender Verteidigungsminister“, einem Einsatz von Atomwaffen gegen deutsche Städte, wie Potsdam und Dresden, zuzustimmen. Letztlich musste die Übung auf Entscheidung Bundeskanzler Helmut Kohls aus Furcht vor der öffentlichen Empörung ohne deutsche Beteiligung fortgeführt werden.
Ausführlich wird im Buch auf den Höhepunkt der nuklearen Konfrontation in Mitteleuropa, den NATO-Doppelbeschluss vom 12.Dezember 1979, die Aufstellung neuer atomar bestückter Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing-II und von Marschflugkörpern (Tomahawk) in Westeuropa und den öffentlichen Widerstand gegen die „Nachrüstung“ eingegangen. In extenso versucht der Autor den Eindruck zu erwecken, die Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss sei hauptsächlich ein Werk östlicher Geheimdienste, vornehmlich der DDR-Staatssicherheit gewesen. Dass Geheimdienste – egal ob östliche oder westliche – in der Zeit des kalten Krieges und auch heute, oppositionelle Bewegungen in als Gegner empfundenen Staaten zu beeinflussen versuchen, gehört gewissermaßen zu deren „Geschäftsmodell“. Eine Massenbewegung von über einer Millionen Menschen, wie die gegen die Stationierung der Atomraketen, kann man nicht von außen manipulieren. Sie kann nur entstehen, wenn es massive Unzufriedenheit mit der herrschenden Politik gibt. „Zuviel der Ehre für die DDR-Staatssicherheit“  möchte man dem Autor zu diesen Passagen des Buches sagen.

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Resümierend hält Sonne für Vergangenheit und Gegenwart fest: „Die nukleare Abschreckung, und so schnell es ging mit aktiver deutscher Beteiligung, gehörte schon früh zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland. Und sie tut es bis in die Gegenwart.“ Die Atombombe als Mittel der Politik ist stärker denn je wieder in den Vordergrund getreten, entgegen der von Präsident Barack Obama 2009 in seiner Prager Rede verkündeten Vision von einer atomwaffenfreien Welt; der gleiche Obama, der danach den Ausbau des strategischen Kernwaffenpotentials der USA in Auftrag gab und die Voraussetzungen dafür schuf, die taktischen Atomwaffen in Europa „ihrem größten Modernisierungsprogramm in einem halben Jahrhundert zu unterwerfen.“ Der Autor schildert ab 2009 die Bemühungen des FDP-Außenministers Guido Westerwelle für den Abzug der amerikanischen Atomwaffen aus Deutschland, während hinter seinem Rücken das Bundeskanzleramt bereits intern der Modernisierung der US-Atomwaffen am Standort Büchel zugestimmt hatte und damit ihren eigenen Außenminister desavouierte.
Dieses sogenannte Lebensverlängerungsprogramm für die B-61-Atombombe stattet das neue Waffenmodell B-61-12 mit Merkmalen aus, die eine Entscheidung zu ihrem Einsatz in einem begrenzten Konflikt wesentlich erleichtern würde: höhere Zielgenauigkeit (sie ist im Unterschied zum Vorgänger eine Lenkwaffe) und eine für Kernwaffen geringe Sprengkraft von nur 0,3 Kilotonnen TNT ( die Hiroshimabombe hatte 13 Kilotonnen TNT-Äquivalent). Damit kann der Eindruck entstehen, wie der frühere Verteidigungsminister Volker Rühe konstatiert, „dass man zu einem fließenden Übergang von konventionellen zu nuklearen Waffen kommen könnte und dann die Hemmschwelle geringer wird, sie einzusetzen.“ In der Folge könnte ein begrenzter Regionalkonflikt mit konventionellen Waffen schnell zu einem Kernwaffenkrieg eskalieren.
Sonnes Buch liefert Fakten und Hintergründe zur Geschichte der Atomwaffen in und für Deutschland, beginnend mit Nazi-Deutschland bis zur Gegenwart. Fragt man danach, ob der Autor ein „Leben mit der Bombe“ als unerlässliche Notwendigkeit für die Bundesrepublik in der heutigen Zeit ansieht, muss man das wohl bejahen. Er sieht die amerikanischen Bomben als „Deutschlands Rückversicherung gegen einen Feind, der nicht mehr genannt wird.“ Und, daran lässt er keinen Zweifel, das ist Putins Russland mit seinen „Großmachtambitionen.“ Denn, so der Autor,  „wer keinen nuklearen Schutz hat, kann sich nicht gegen Erpressung und sogar militärische Überfälle schützen.“ Für die Leserschaft des Blättchens, die wohl überwiegend in Gegnerschaft zu amerikanischen Atombomben auf deutschem Territorium steht, kann man dennoch das Buch aufgrund seiner Faktenfülle, des ganzheitlichen historischen Ansatzes und der guten Lesbarkeit empfehlen, wenn man sich in der Lage sieht, die im Buch allerdings nicht im Vordergrund stehende politische Botschaft zu ertragen.

Werner Sonne: Leben mit der Bombe. Atomwaffen in Deutschland, Springer-Verlag GmbH, Berlin 2017, 203 Seiten, 14,99 Euro.