von Wolfgang Schwarz
Den nachfolgenden Gedanken zur Frage, wie weiter im Verhältnis zu Russland, soll eine knappe, thesenartigen Bestandsaufnahme vorangestellt werden:
Erstens – spätestens mit dem offenen Ausbruch des Ukraine-Konflikts ist die Chance, eine neue partnerschaftliche Sicherheitsarchitektur für Europa und darüber hinaus für die Region zwischen Wladiwostok und Vancouver zu errichten, die sich mit der friedlichen Beendigung des Kalten Krieges und mit der Charta von Paris (1990) ergeben hatte, auf absehbare Zeit vertan.
Von den besonders engen deutsch-russischen Beziehungen „bleibt bloß die Erinnerung“, wie es der Chef der Moskauer Depandence der Carnegie-Stiftung, Dmitri Trenin, dieser Tage formuliert hat.
Zweitens – im Rückblick bis 1990 lässt sich resümieren, dass die Erkenntnis, dass Sicherheit und dauerhafter Frieden in und für Europa nicht ohne oder gar gegen Russland, nicht konfrontativ, sondern nur kooperativ mit Russland möglich sind, in Westeuropa nur zeitweise und partiell handlungsleitendes Gewicht hatte, in den USA wohl nicht einmal das.
Drittens – ob das gegenwärtige Verhältnis zwischen dem Westen und Russland schon wieder als Kalter Krieg zu bezeichnen ist oder, weil der damalige ideologische Antagonismus fehlt, doch besser nicht, darüber mag man streiten. Auf jeden Fall gibt es keinen partnerschaftlichen politischen Dialog zwischen den Kontrahenten mehr. Gegenseitige Verdächtigungen und Schuldzuweisungen sowie Konfrontation, auch militärische (samt ihren inhärenten Risiken ungewollter Eskalation) sind wieder vorherrschend, wechselseitige militärische Nadelstiche an der Tagesordnung. Damit korrespondieren eine Aufwertung taktischer Kernwaffen im Hinblick auf konventionelle Konflikte auf russischer Seite und Schritte in Richtung eines neuen Wettrüstens auf beiden Seiten. Seit Anfang dieses Jahres steht die Doomsday Clock im Bulletin of the Atomic Scientists wieder auf drei Minuten vor zwölf – wie schon 1949 und 1984.
Viertens – eine der Hauptursachen für die erneute konfrontative Zuspitzung im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland liegt in den ohne ernsthafte Konsultationen mit Moskau und teils direkt gegen russische Einwände vollzogenen diversen Osterweiterungen der EU- und nachfolgend der NATO. Da vergleichbare Angebote an Russland unterblieben sind, laufen diese Erweiterungen schlussendlich auf einen Ausschluss Russlands aus Europa hinaus. Und weil die EU mit ihrer sogenannten Östlichen Partnerschaft diesen Kurs gegenüber weiteren postsowjetische Staaten (Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Moldau) fortsetzt und die NATO ihre militärische Kooperation mit der Ukraine mindestens konsolidiert (bei Fortbestehen des NATO-Beitrittsbeschlusses für die Ukraine und Georgien von Bukarest aus dem Jahre 2008) besteht die Gefahr des Aufbrechens weiterer regionaler Krisen- und Konfliktherde im Grenzbereich zwischen der EU sowie der NATO und Russland.
Soweit zur Bestandsaufnahme.
Vor diesem Hintergrund zeichnen sich im Hinblick auf die Frage „Wie weiter?“ einerseits kurz- und mittelfristig, andererseits auf lange Sicht folgende Aspekte ab.
Im Hinblick auf die kurz- und mittelfristige Perspektive sind derzeit bei den politisch Verantwortlichen auf beiden Seiten keine ernsthaften Indizien dafür zu erkennen, eine grundlegende Trendwende weg von der Konfrontation herbeiführen zu wollen. Der Ablauf der Münchner Sicherheitskonferenz hat das gerade wieder vor Augen geführt. In einer solchen Situation müssen Schadensbegrenzung, Überwindung von Sprachlosigkeit und Eskalationsprävention Priorität haben:
- Schadensbegrenzung – erfordert vor allem den Erhalt, die Pflege und die aktive Nutzung all dessen, was aus kooperativeren Zeiten im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland noch übrig ist. Von der OSZE über den Open-Skies-Vertrag bis zur NATO-Russland-Akte, die etwa die jetzige polnische Regierung und auch die baltischen Staaten ja lieber gestern als heute aufgekündigt sähen, und bis zu den zwar sanktionsgeschädigten, aber im Kern überwiegend erhaltenen Wirtschaftsbeziehungen.
- Überwindung von Sprachlosigkeit – hier könnte eine vorbedingungsfreie Reanimation des NATO-Russland-Rates hilfreich sein, wenn Versuche einseitiger Themensetzungen unterblieben. Auch eine erneute Ausweitung der G7- zur G8-Gruppe ginge in die richtige Richtung. Beide Türen hat allerdings der Westen zugeschlagen und wird sie – allein schon wegen des US-Präsidentschaftswahlkampfes und der anschließenden Übergangszeit – so bald nicht wieder öffnen. Vielleicht könnte Deutschland durch seinen OSZE-Vorsitz in diesem Jahr zur Überwindung von Sprachlosigkeit beitragen. Dann müsste der federführende deutsche Außenminister allerdings langsam loslegen …
- Eskalationsprävention – ist ein ganz entscheidender Punkt. Denn wenn sich zum Beispiel Polen und die baltischen Staaten mit ihren Forderungen nach dauerhafter Stationierung substanzieller NATO-Kampfverbände auf ihren Territorien durchsetzten, würde das Verhältnis zu Russland nicht nur weiter belastet, sondern es würde sich auch das Kriegsrisiko im Falle militärischer Vorkommnisse und Fehlwahrnehmungen spürbar erhöhen. Ein wesentlicher Akt von Eskalationsprävention wäre, wenn schon kein prinzipieller Verzicht auf weitere NATO-Mitglieder im unmittelbaren Grenzbereich zu Russland, so doch zumindest ein erklärtes mehrjähriges Moratorium in dieser Richtung.
All dies bliebe natürlich sicherheitspolitische Flickschusterei, wenn nicht parallel ein langfristiger konzeptioneller Ansatz für eine wieder auf Kooperation basierende Alternative im Verhältnis zu Russland und langer Atem, einen solchen Ansatz auch durchzusetzen, hinzukämen.
Der Ansatz selbst muss dabei nicht neu erfunden werden – er wurde Anfang der 1980er Jahre, in einer Hochphase des Kalten Krieges, trotzdem in ost-westlicher Zusammenarbeit, nämlich in der Palme-Kommission, entwickelt – in Gestalt des Grundsatzes Common Security, gemeinsame Sicherheit. Wenn im Kriegsfall allein aufgrund thermonuklearer Gegebenheiten beiden Seiten Vernichtung droht, so die damalige Erkenntnis – die, beiläufig, derzeit in Politik, Medien und Öffentlichkeit ziemlich in Vergessenheit geraten ist –, dann stellt Sicherheitspartnerschaft den einzigen Weg zu einer Sicherheit dar, die nicht nur ein selbstbetrügerischer Euphemismus ist, sondern diesen Namen tatsächlich verdient. An dieser Grundkonstante hat sich seither nichts geändert, auch wenn sie seit Ende des Kalten Krieges durch zeitweise Entfeindung des Verhältnisses zwischen dem Westen und Russland an Bedeutung verloren zu haben schien. Seit dem Wiederaufbrechen offener Feindseligkeiten ist es jedoch hohe Zeit, diese Grundkonstante wieder zum Ausgangspunkt und zur Basis sicherheitspolitischer Überlegungen zu machen.
Die einzige langfristig vernünftige sicherheitspolitische Perspektive für Europa und den Großraum zwischen Wladiwostok und Vancouver bleibt Sicherheitspartnerschaft zwischen dem Westen und Russland, weil nur dadurch Krieg nachhaltig ausgeschlossen werden kann.
Eine entsprechende Entwicklung ist, diese historische Erfahrung liegt vor, sogar zwischen ehemaligen „Erbfeinden“ möglich, wenn diese sich auf relevanten Gebieten (politisch, wirtschaftlich, im Bereich der Zivilgesellschaften) vertraglich zunächst zielgerichtet miteinander verbinden und schließlich sicherheitspolitisch miteinander verbünden. Die Entwicklung des westdeutsch-französischen Verhältnisses nach 1945 hat das gezeigt.
Bleibt die konzeptionelle Frage: Wie könnte Sicherheitspartnerschaft mit Russland gedacht werden?
Auch dieses Fahrrad ist nicht neu zu erfinden. Wenigstens drei Ansätze könnte auf ihre Zukunftsfähigkeit hin untersucht werden:
- Sicherheitspartnerschaft mit Russland könnte zum einen im Rahmen einer politisch aufgewerteten, mit mehr Kompetenzen ausgestatteten und mit substanzielleren Aufgaben betrauten OSZE gedacht werden, weil in diesen Kontext alle relevanten Akteure bereits eingebunden sind und ein organisatorischer Rahmen vorhanden ist.
- Sicherheitspartnerschaft mit Russland wäre andererseits auch durch ein System kollektiver Sicherheit im Raum von Wladiwostok bis Vancouver denkbar, durch eine einheitliche Sicherheitsarchitektur, die neben den Staaten auch allen in diesem Raum vorhandenen internationalen Organisationen offenstehen müsste. Solches hatte Russland 2008 vorgeschlagen und damals auch einen entsprechenden Vertragsentwurf unterbreitet.
- Und Sicherheitspartnerschaft mit Russland wäre drittens – diese Idee ist vor etlichen Jahren von unorthodoxen westlichen Denkern, auch in Deutschland, zur Debatte gestellt worden – durch eine Öffnung der NATO für eine Mitgliedschaft Russlands vorstellbar. Wer dies mit dem Versuch gleichsetzt, Teufel mit Beelzebub auszutreiben, der sei daran erinnert, dass die Staaten der NATO in den über 60 Jahren der Existenz des Paktes keine Kriege gegeneinander geführt haben und welch einen beachtlichen Bruch in ihren wechselseitigen Beziehungen und nicht zu unterschätzenden zivilisatorischen Fortschritt dies für Europa im Vergleich zu den Jahrzehnten und Jahrhunderten zuvor darstellt.
In der gegenwärtigen Ost-West-Situation „ist eine mutige politische Initiative gefordert, vergleichbar jener, die nach Mauerbau und Kubakrise in der Hochzeit des Kalten Krieges den Ausbruch aus der Logik der Konfrontation mit der Sowjetunion wagte“. So formuliert in der Erklärung des Willy-Brandt-Kreises „Zum bedrohten Frieden“ vom 21. Juli 2015.
Als Initialzündung für eine solche Initiative, so könnte ergänzt werden, wäre eine neue Tutzinger Rede nicht von Schaden.
Dieser Text basiert auf einem Impuls-Beitrag, den der Autor auf einer Tagung des Willy-Brandt-Kreises am 26./27. Februar 2016 in Potsdam-Babelsberg gehalten hat.
Schlagwörter: Common Security, Europa, Frieden, gemeinsame Sicherheit, kalter Krieg, Konfrontation, Kooperation, Palme-Kommission, Russland, Sicherheit, Sicherheitspartnerschaft, Tutzing, USA, Wolfgang Schwarz