von Bernhard Mankwald
Friedrich Engels liebte es, Vorhersagen zu machen; die Ergebnisse waren von sehr unterschiedlicher Qualität. Ein bestimmtes Zitat aber hat es wirklich in sich, wirft es doch Licht auf ein historisches Ereignis, das sich ein Menschenalter später in einem fernen Land zutrug. 1853 schrieb Engels an einen Vertrauten in New York: „Mir ahnt so was, als ob unsre Partei, dank der Ratlosigkeit und Schlaffheit aller andern, eines schönen Morgens an die Regierung forciert werde, um schließlich doch die Sachen durchzuführen, die nicht direkt in unsrem, sondern im allgemein revolutionären und spezifisch kleinbürgerlichen Interesse sind; bei welcher Gelegenheit man dann […] genötigt wird, kommunistische Experimente und Sprünge zu machen, von denen man selbst am besten weiß, wie unzeitig sie sind. Dabei verliert man dann den Kopf…“ – Diese Bemerkungen sind ein Schlüssel zu den Ereignissen des Oktobers 1917 und zu ihren Folgen.
Hätten Marx und Engels Lenin überhaupt als Angehörigen ihrer „Partei“ akzeptiert? Lenin selbst zweifelte nicht daran, und seine Anhänger stellen ihn noch heute als Ikone in eine Reihe mit den beiden älteren Theoretikern. Man kann sich aber fragen, ob diese ihn nicht wegen seiner Vorstellungen über die Parteiorganisation als Utopisten oder gar als gefährlichen Anwärter auf die Diktatur über das Proletariat bekämpft hätten – ein Gedanke, dem ich an anderer Stelle, in meinem Buch „Das Rezept des Dr. Marx“, ausführlicher nachgegangen bin.
Engels dachte bei seiner Prophezeiung an das zu seiner Zeit rückschrittliche Deutschland, das zusammen mit dem fortschrittlicheren Frankreich in eine Revolution verwickelt werden könnte. Das Verhältnis lässt sich übertragen auf das zu Lenins Zeit rückschrittliche Russland, das mit Deutschland im Konflikt stand – nur ließ dort die Revolution noch auf sich warten! Engels hatte zugestanden, dass eine fortschrittliche Partei sich unter gewissen Umständen ungeachtet der Folgen an die Macht drängen lassen müsse; Lenin und Trotzki drängten selbst massiv, ohne eine klare Vorstellung von den Folgen zu haben.
Was waren nun die „allgemein revolutionären” Aufgaben, die die Bolschewiki sich damit aufbürdeten? Die drängendste war sicher der Krieg; sie beendeten ihn durch einen Frieden, der einer Kapitulation gleichkam. Damit bekam das Deutsche Reich noch einmal eine Chance zum Sieg, der dann nicht eintrat. Anderenfalls wäredie Herrschaft der Bolschewiki wohl eine Episode geblieben. Die eigentliche Aufgabe, die diese um den Preis des Bürgerkriegs lösten, war es aber, den Bauern zu ihrer persönlichen Freiheit auch das Land zu geben – also ein freies Bauerntum zu schaffen.
Der Logik der Entwicklung hätte es entsprochen, nach einer Weile auch die Herrschaft an diese neue Klasse abzugeben, und die neue Wirtschaftspolitik Lenins war zumindest ein Schritt in diese Richtung. Die Bolschewiki klammerten sich jedoch an die Macht, und eine enorm wichtige Aufgabe war geblieben: das Problem der Rückständigkeit, das Bucharin durch eine „ursprüngliche sozialistische Akkumulation” lösen wollte. Bucharin spielte dabei auf die von Marx beschriebene ursprüngliche Akkumulation des industriellen Kapitals in den wirtschaftlich fortgeschrittensten Ländern an, als deren Hauptmerkmale dieser die Ausbeutung außereuropäischer Gebiete und die Verdrängung freier Bauern von ihrem Eigentum ansah. Eine solche Ansammlung von Kapital auf „sozialistischem” Wege zu erreichen, musste allerdings eine Utopie bleiben, da die Reife einer entwickelten und wohlhabenden Gesellschaft dazu gehört hätte, freiwillig den Konsumverzicht und die gewaltigen Anstrengungen zu leisten, mit denen eine solche Umwälzung überhaupt erst hätte erreicht werden können. Für den Erfolg des Unternehmens aber war es entscheidend, dass eine solche Fassade der Freiwilligkeit errichtet wurde. Und damit war die Aufgabe formuliert, und ausgerechnet Stalin war für die Lösung prädestiniert, die nicht in unverhüllter, sondern in möglichst gut getarnter Ausbeutung bestand. Stalin errichtete einen vollendeten Despotismus und pries ihn als hochentwickelte Demokratie; er verschärfte die Ausbeutung und verkaufte das als Sozialismus. Und Theoretiker wie Bucharin, die dies alles hätten durchschauen können, verloren zusammen mit Millionen anderer im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf.
Die großen Opfer brachten auch Erfolge mit sich; am deutlichsten wird das daran, dass der neue Staat sich in einem neuen Krieg gegen ein Deutschland behaupten konnte, das noch weit aggressiver vorging als im Ersten Weltkrieg. Dass dies aber nicht der Weg zur klassenlosen Gesellschaft war, zeigte sich spätestens mit dem Ende der Sowjetunion: das „unzeitige Experiment“ war keine höhere Entwicklungsstufe als der Kapitalismus – sondern im Gegenteil nur dessen Vorstufe. Und die Opfer dienten nicht der Allgemeinheit – sondern letzten Endes nur einer neuen privilegierten Klasse.
Engels war klug genug um zu sehen, dass eine sozialistische Revolution unter rückständigen Bedingungen ihre eigentlichen Ziele nicht erreichen kann. Seine verblüffende Voraussicht sollte uns anregen, auch diesen Teil der Geschichte mit Hilfe der Methoden und Begriffe zu analysieren, die er gemeinsam mit dem noch viel klügeren Marx entwickelt hat. Wir könnten so diese Theorien von Verfälschungen befreien und auf einen aktuellen Stand bringen. Dann könnten wir die aktuellen Verhältnisse umso besser kritisieren – und zwar ohne ständig an die oben beschriebenen Erblasten erinnert zu werden.
Schlagwörter: Bernhard Mankwald, Bucharin, Friedrich Engels, Kapitalismus, Karl Marx, Lenin, Revolution, Sozialismus, Stalin