18. Jahrgang | Nummer 2 | 19. Januar 2015

Der Westen & Russland – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

In der Debatte um das künftige Verhältnis der Bundesrepublik und des Westens insgesamt zu Russland und speziell auch zum Umgang mit dem Ukraine-Konflikt sind immer wieder Wortmeldungen zu vernehmen, die die Gunst der Stunde nutzen, uns endlich über den Sinn, respektive Unsinn der historischen Neuen Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr ins „richtige Bild“ zu setzen. Das kennt Jan C. Behrends, Projektleiter des internationalen Forschungsnetzwerkes Violence and State Legitimacy in Late Socialism am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, offenbar auf das Genaueste. Auf die rhetorische Frage „Mythos Ostpolitik?“, so die Überschrift seines Beitrages auf der Online-Plattform Internationale Politik und Gesellschaft (IPG) der Friedrich-Ebert-Stiftung, gibt er jedenfalls eine Antwort, nach der „Mythos Ostpolitik“ statt mit Frage- wohl besser mit Ausrufzeichen versehen werden sollte: „[…] die Vorstellung eines ‚Wandels durch Annäherung‘ ist […] eine Illusion. Sie war es im Kalten Krieg und sie ist es heute. Die Sicht auf diese Erkenntnis wird allerdings durch den Mythos Ostpolitik verstellt, der mit der historischen Wirklichkeit nur bedingt in Einklang zu bringen ist.“ Und: „Zum Ende des Kalten Krieges hat die Ostpolitik nicht maßgeblich beigetragen.“
Historische Wirklichkeit ist allerdings, dass die 1963 von Egon Bahr in Tutzing erstmals vorgestellte konzeptionelle Idee des „Wandels durch Annäherung“, die nach der Regierungsbildung durch Willy Brandt 1969 als Neue Ostpolitik Gestalt annahm, direkt zu den Verträgen von Moskau, Warschau, Ost-Berlin und Prag geführt und mit ihrer völkerrechtlichen Anerkennung des Nachkriegs-Status-Quo – ohne das Ziel seiner längerfristigen Veränderung aufzugeben – die entscheidende Voraussetzung für die Mitte 1973 beginnende Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und deren Schlussakte von Helsinki geschaffen hat. Dass damit wiederum innenpolitische Entwicklungsprozesse in den damaligen Warschauer Vertragsstaaten, inklusive der UdSSR, gefördert wurden, die 1989/90 maßgeblichen Anteil am Zusammenbruch des „real existierenden“ Sozialismus hatten und vor allem an dessen friedlichen Verlauf (mit Ausnahme Rumäniens), dürfte kaum ernsthaft zu bestreiten sein. Besonders wirkungsvoll war die SPD nicht zuletzt in ihren Beziehungen zur SED, wenn man nur an das gemeinsame Papier beider Parteien „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ von 1987 und dessen Wirkung in der DDR denkt.
Und nicht zuletzt: Den Kalten Krieg hatte Michail Gorbatschow zwar bereits vor dem Zusammenbruch des „real-sozialistischen“ Gesellschaftssystems beendet, aber ob dieser Kader im System der Betonköpfe an der Machtspitze der Sowjetunion ohne die Ostverträge und die erste Entspannungsphase in Europa überhaupt eine Chance bekommen hätte, Generalsekretär der KPdSU zu werden, darf zumindest gefragt werden.
Peter Dausend und Michael Thumann haben in der Zeit mit einem weiteren Mythos „aufgeräumt“ – nämlich mit jenem, dass „‚Wandel durch Annäherung‘ letztlich die deutsche Einheit ermöglicht“ habe, was „zu den zentralen Punkten des sozialdemokratischen Glaubensbekenntnisses“ gehöre. Diese Autoren machen sich allerdings nicht die Mühe, ihr Diktum mit Argumenten zu flankieren, mit denen man sich auseinandersetzen könnte. Daher mag hier der Hinweis auf die eben skizzierten Entwicklungslinien genügen, ohne die die deutsche Einheit 1989/90 nicht auf die Tagesordnung gerückt wäre.
Ihren konkreten Stoß richten Dausend und Thumann gegen Egon Bahr und Matthias Platzeck: „Sie suggerieren, dass deutsche Ostpolitik nach der Krim-Annexion noch möglich sei. Aber sie ignorieren, dass Russland seine Politik fundamental geändert hat. Und dass deshalb klassische Ostpolitik nicht mehr möglich ist.“ Mit dieser Schlussfolgerung irren die Kollegen – zumindest historisch – in doppelter Hinsicht. Die alte Neue Ostpolitik war gerade deshalb konzipiert worden, weil Moskau seine Politik fundamental geändert hatte (Mauerbau 1961), und sie wurde praktisch in Gang gesetzt, nachdem die ČSSR von Warschauer Vertragsstaaten okkupiert worden war (1968). In diesen Fällen waren die Krisen der Auslöser oder zumindest so etwas wie ein letzter Anstoß, auf veränderte Weise auf die Gegenseite zuzugehen – nicht um deren zuvor vollzogene Akte, die vom Westen heftig attackiert worden waren, zu honorieren, sondern um einen solchen Beziehungswandel herbeizuführen, dass Dergleichen künftig ausgeschlossen wäre.

*

Dass und warum aus russischer Sicht das Problem einer möglichen NATO-Mitgliedschaft Kiews (und weiterer postsowjetischer Staaten) die Schlüsselfrage im Hinblick auf die Lösung des Ukraine-Konflikts ist, wurde im Rahmen dieser Beiträge zum Diskurs bereits ausführlich thematisiert. Man muss ja nicht so weit gehen wie der Schriftsteller Eugen Ruge jüngst im Spiegel: „Die EU erweitert ihre Außengrenzen: eine schleichende, postkoloniale Form der Expansion. Diese Expansion wird durch Nato-Mitgliedschaften militärisch gesichert.“ Aber ein gewisses Verständnis dafür, dass Russland nicht das mächtigste Militärbündnis der Welt, mit dem Moskau die längste Zeit von dessen Existenz verfeindet war und auch in den vergangenen 25 Jahren keineswegs nur spannungsfrei koexistiert hat, nicht in der massiven Gestalt eines Mitgliedes Ukraine noch direkter vor der Haustür haben will, als derzeit bereits, sollte man schon aufbringen, wenn man an Frieden und Stabilität, also Sicherheit, in Europa interessiert ist. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier tut das offensichtlich nach wie vor – ungeachtet aller Frustrationen, die ihm Moskaus Politik derzeit bereitet. In der letzten Spiegel-Ausgabe von 2014 fand sich in einem Interview folgende Passage:
SPIEGEL: Wäre es nicht sinnvoll, wenn die Nato eine Mitgliedschaft der Ukraine ausschlösse?
Steinmeier: Dazu habe ich mich öffentlich geäußert.
SPIEGEL: Sie haben gesagt, Sie sehen die Ukraine nicht auf dem Weg in die Nato.
Steinmeier: Und auf dem letzten Nato-Rat ist das gar nicht zur Sprache gekommen, geschweige denn streitig diskutiert worden.“
Steinmeier hob damit auf das Treffen der NATO-Außenminister Anfang Dezember ab. Dazu vermerkte die Süddeutsche Zeitung allerdings: „Das von Kiew ausgegebene Ziel des Nato-Beitritts ist das am sorgfältigsten umschiffte Thema beim Nato-Außenministertreffen in Brüssel.“ Tatsächlich kann man nämlich durchaus auch fragen, ob der deutsche Außenminister in dieser Frage nicht letztlich die Rechnung ohne den Wirt macht. Die USA sind seit Jahren die treibende Kraft in Sachen NATO-Beitritt der Ukraine (und Georgiens). Zwar verweist Steinmeier gern darauf, dass auf dem NATO-Gipfeltreffen im April 2008 in Bukarest dem Wunsch der USA, ein Beitrittsverfahren für beide Staaten unmittelbar zu eröffnen, nicht entsprochen wurde – Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien verweigerten damals die Gefolgschaft. Im Abschluss-Kommuniqué hieß es gleichwohl: „Wir haben uns heute darauf geeinigt, das diese Länder Mitglieder der NATO werden.“ Und die USA haben dieses Ziel seither keineswegs aus den Augen verloren. Das haben erst jüngste Vorgänge erneut verdeutlicht. Am 21. November 2014 hatte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates der USA, Mark Stroh, erklärt: „Jede Entscheidung für eine potenzielle NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ist eine Entscheidung der NATO und der Ukraine, und die Vereinigten Staaten unterstützen das Recht der Ukrainer, ihre eigenen Entscheidungen […] frei von jeglicher äußerer Einmischung zu treffen.“ Derart demonstrativ ermuntert hat das Parlament in Kiew am 23. Dezember beschlossen, den 2010 durch den damaligen Präsidenten Viktor Yanukowych verkündeten Neutralitätsstatus des Landes aufzugeben und Kurs auf die NATO-Mitgliedschaft zu nehmen.

*

George Soros, Finanz-Genie und unbestrittener König in der Sparte Spekulationsgewinne, hat sich wieder zu Wort gemeldet – mit einem Gastbeitrag in der FAZ. Das hatte er im Oktober in nämlichem Organ bereits einmal getan – mit dem Weckruf: „Russland fordert Europa in seiner Existenz heraus.“ Jetzt legte er am 8. Januar nach – mit dem Tenor: „Helft der neuen Ukraine“. Dabei setzte er die westlichen Sanktionen gegen Russland, die Soros ohne Abstriche befürwortet, in ein interessantes Verhältnis zum Umfang künftiger Hilfe der EU für Kiew: Er halte es für „dringend notwendig, die aktuelle Politik der Europäischen Union in Bezug auf Russland und die Ukraine zu überdenken und neu zu justieren“; er plädiere für einen Ansatz, „welcher die Sanktionen gegenüber Russland mit einer Unterstützung für die Ukraine in weitaus größerem Maßstab (Hervorhebung – W.S.) im Gleichgewicht hält“.
Als Zahler an die Ukraine sieht Soros offenbar nur die EU, also deren Steuerzahler. Die bisherigen Schäden der Sanktionen für die russische Volkswirtschaft bezifferte Außenminister Steinmeier schon im November auf 140 Milliarden Dollar. Was sind dann aber „weitaus größere Maßstäbe“? Etwa die 400 Milliarden Euro an prognostizierter notwendiger Finanzhilfe an Kiew, die bisher nur in kleinen, höchst vertraulich konferierenden Expertenkreisen überhaupt schon mal genannt worden sein sollen? Und ist diese aberwitzige Summe, die selbst die Griechenland-„Hilfe“ Lichtjahre hinter sich lässt, vielleicht zugleich der Grund, warum die Frage, was der Wiederaufbau und die wirtschaftliche Modernisierung der Ukraine die Steuerzahler der EU, also vor allem die deutschen, kosten werden, das von der Politik und den einschlägigen Medien nicht nur hierzulande „am sorgfältigsten umschiffte Thema“ in diesem Kontext, um die Formulierung der SZ nochmals aufzugreifen? Denn wenn diese Dimensionen dem Wähler und der AfD ins Bewusstsein gelangten …