17. Jahrgang | Nummer 1 | 6. Januar 2014

Bemerkungen

Fliegende Balkanier

Kaum war „Wir werden die Willkommens- und Anerkennungskultur in unserem Land stärken” auf Seite 106 des Regierungsprogramms der GroKo zu lesen, da schallte es aus München ebenso willkommenskulturell wie einladend: „Wer betrügt, der fliegt!“ Dass sich die Bayern mit Nichtbayrischem im allgemeinen und gar mit Kontinentalfremden (außer was die Aufstellung des FC Bayern betrifft) seit je schwer tun, hat Lion Feuchtwanger schon vor fast 90 Jahren in seinem Landsmannschaftsporträt „Erfolg“ anschaulich beschrieben. Und auch, welcher kleingeistigen Seele das entspringt. Diese ist in der Mynchener Stadthymne „Solang der alte Peter“ für immerdar festgehalten: Solang der alte Peter Am Petersbergerl steht, Solang die grüne Isar Durchs Münchner Stadterl geht Solang da drunt am Platzl Noch steht das Hofbräuhaus, So lang stirbt die Gemütlichkeit in München niemals aus, So lang stirbt die Gemütlichkeit in München niemals aus.

Dass Rumänen und Bulgaren, nunmehr mit der üblichen Freizügigkeit ausgestattet, aber halt balkanisch sozialisiert, die Gemütlichkeit an der Isar stören, ist offenkundig. Und da hört halt der Spaß auf; was denn sonst!

Arnulf Schottinger

Berliner Reminiszenzen

Konservativ zu sein, ist keineswegs identisch mit Fortschrittsfeindlichkeit, jedenfalls nicht a priori. Gutes bewahren zu wollen, ist so lange nicht sentimental oder gar nostalgisch, wie das Bewahrungswürdige tatsächlich bewahrungswert ist. Sei es aus denkmalpflegerischer Sicht, sei es, weil sich in ihm bleibende Werte spiegeln, die über das Erinnern an´s gestern hinausreichen. Städtebau ist ein Feld, das diese Sichtweise allemal verdient. Und da bleibt bei allem, was man berechtigt und notwendig zum Beispiel gegen das Unsoziale urbanen Werdens und Seins einzuwenden hat: Die Harmonie und die auf des Menschen Maß bezogene Gestalt zumindest der Innenstädte früherer Zeiten bergen bis heute kaum wieder Erreichtes – um es sehr freundlich auszudrücken. Der „schreibende Verleger“ Wolf Jobst Siedler hatte den stadtzerstörenden Städtebau in Berlin nach dem Krieg unter dem Titel „Die gemordete Stadt“ bereits Mitte der 1960er Jahre ebenso massiv wie leider folgenlos beklagt. Gewiss, mit seiner allobwaltenden Stahlglasbeton-Kälte spiegelt natürlich auch der heutige Städtebau Zeitgeistiges. Waren frühere Bauepochen zugegebenermaßen auch nicht von sehr viel mehr Menschenfreundlichkeit gekennzeichnet, sehr viel schönere, wohnlichere Städte als heute haben sie allerdings seinerzeit schon hervorgebracht. Ein Plädoyer für Sentimentalität ist hier allerdsings nicht intendiert. Und auch keines dafür, alte, in Europa und darunter in Deutschland kriegszerstörte Städte per Wiederaufbau disneylandartig nachzuempfinden. Aber es macht vielleicht doch verständlich, wie begierig Kölner, Nürnberger, Hamburger, Halberstädter oder Dresdner auf Bild- und/oder Textdokumente sind, denen man die Schönheit vergangenen urbanen Flairs entnehmen kann. Nicht zu vergessen bei alledem ist natürlich Berlin. Fotografische und filmische Reminiszenzen an das alte Berlin, das kaiserliche und das republikanische Vorkriegsberlin, sind zahlreich, Textliche sind zumeist in der Gestalt von Sachbüchern oder Romanen greifbar. Überaus reizvoll sind für mich dabei Impressionen Berlinliebender und stadtbummelnder Autoren früherer Zeiten. Erst vor kurzem erneut zu lesen war Franz Hessels „Spazieren in Berlin“, das die deutsche Hauptstadt in den Endzwanziger Jahren lebendig werden lässt. Nun hat der Verlag für Berlin-Brandenburg dankenswerter Weise nachgelegt, und offeriert Adolf Heilborns „Reise nach Berlin“. In diesem „romantischen Baedeker und Führer aus dem neuen ins alte Berlin“ geht der Berliner Arzt und Schriftsteller Mitte besagter zwanziger Jahre auf eine sehr reizvolle Spurensuche auf Straßen, Plätzen, Fabrikgeländen und Parks zwischen Alt-Berlin und Cölln, nach Kreuzberg, Pankow oder Tegel. Jedem, der zu Berlin mehr als nur ein Postadressenverhältnis hat, sind die hier gesammelten Streifzüge wärmstens empfohlen. Erfreulich übrigens, dass der Verlag bald etwas wiederum Neues zum Thema zu bieten haben wird. Für das Frühjahr angekündigt sind des amerikanischen Journalisten Henry F. Urbans Reminiszenzen „Die Entdeckung Berlins“. Darin übrigens auch eine Feststellung, für die man wohl Auswärtiger sein muss, um ihrer Trefflichkeit gewahr werden zu können: „keiner hat […] eine so geringe Meinung von Berlin wie der Berliner selber. Komisch!“

Helge Jürgs

Franz Hessel: Spazieren in Berlin, Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2012, 240 Seiten, 19,95 Euro.
Adolf
Heilborn: Die Reise nach Berlin, Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2013, 135 Seiten, 14,95 Euro.

Eine Pflichtverteidigung

„Der ‚RotFuchs’ bietet inzwischen eine breite Palette anspruchsvoller und unterhaltsamer Themen. In mancher Hinsicht  hat er den Atem so beliebter DDR-Publikationen wie ‚horizont’ und ‚Weltbühne’ in sich aufgenommen, dazu einen gehörigen Schuß theoretischer Verdichtung und aktueller Information.“ So ist in der Januarausgabe des monatlich feuernden Sturmgeschützes alles Guten und Wahren selbstreferenziell zu lesen. Da die beiden in Anspruch genommenen Zeitschriften sich nicht mehr wehren können, möge Albert Einstein sozusagen als „Pflichtverteidiger“ dienen, der da weitsichtig erklärte: „Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.“

Heinz Jakubowski

Hacken im Doppeldienst

„Tretet der CIA bei“, hat WikiLeak-Gründer Julian Assange per Videokonferenz den beim Chaos-Computer-Club in Hamburg versammelten Hackern zugerufen und dabei Bezug auf Feststellungen des ehemaligen NSA-Direktors Hayden genommen. Eine davon gab Auskunft über dessen Angst vor den jungen Netz-Wilden, die zweite von seinem Wunsch, diese für die Geheimdienste zu rekrutieren. Durchaus naheliegend hat Assange dies als große Chance gewertet. Als „ die letzte freie Generation” möge man also mitspielen und Geheimnisse verraten. Entweder werde man besiegt, oder man schaffe es, die Welt zu verändern.

HWK

Aus anderen Quellen

Es dauerte über 24 Stunden, bis Deutschland offiziell auf die jüngste Terrorserie reagierte, die in Wolgograd an die 30 Menschenleben kostete. Noch Montag (30.12.) früh gab es beim Berliner Außenministerium keine Stellungnahme zu dem Anschlag, obwohl der seit Sonntag früh in den Medien war. Stattdessen wurde einer symbolischen Attacke auf die Fassade der deutschen Botschaft in Athen gedacht. Velten Schäfer fragt in diesem Zusammenhang: „Warum sind die Deutschen […] so unfähig, Mitgefühl zu entwickeln? Warum legt niemand vor der russischen Botschaft Blumen ab? Warum ist es kein Skandal, wenn ‚Tagesschau’-Sprecher Jan Hofer die Mordgesellen nicht ‚Terroristen’, sondern ‚Rebellen’ nennt? Warum stößt sich niemand daran, wenn Hofer verständnisvoll anfügt, dass Russland ja auch eine ‚gewaltsame Besatzungspolitik im Nordkaukasus’ betreibe? Oder daran, dass der WDR-Journalist Hermann Krause in die Trauer der Hinterbliebenen hinein verkündet, der Terror in Russland sei ‚hausgemacht‘? Warum kann im deutschen Radio mit einem gewissen Unterton kommentiert werden, dass die Anschläge letztlich Präsident Wladimir Putin in die Hände spielten? Warum werden die, die Russland mit Massenmord überziehen, hierzulande nicht wenigstens als ‚feige’ und ‚hinterhältig’ charakterisiert – wie bisher noch jeder afghanische ‚Extremist’, selbst wenn der seine Hand gegen Schwerbewaffnete erhob, nicht gegen Frauen und Kinder?“
Velten Schäfer: Von der ‚Normannentheorie’ bis Wolgograd: Warum niemand vor Russlands Botschaft Blumen niederlegt. Vom Schweigen der Deutschen, neues deutschland, 31.12.2013. Zum Volltext hier klicken.

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Die Antwort, warum die Deutschen zu Mitgefühl gegenüber Russland und seinen Menschen so wenig fähig sind, hat nicht zuletzt mit Geschichtsvergessenheit zu tun: Deutschland hat den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen und in diesem die – nach der Zahl der Opfer – größten Verbrechen an den Völkern der Sowjetunion begangen; in der Bundesrepublik wurde das jahrzehntelang weitestgehend und begünstigt durch den militanten Antikommunismus des Kalten Krieges unter den Teppich gekehrt, und die vergleichsweise systematische und anhaltende Aufarbeitung in der DDR hat augenscheinlich auch keine besonders nachhaltigen Spuren hinterlassen. Umso wichtiger, dass wesentliche Fakten immer wieder mal in Erinnerung gerufen werden. Christoph Dieckmann hat dies gerade getan: „Der Krieg tötete 27 Millionen Sowjetmenschen, gegenüber gut fünf Millionen Deutschen. […] Wie gut, dass die Rote Armee nicht zu stoppen war. […] Dass sie Auschwitz befreite. Dass sie über die Oder setzte. Dass sie, unter entsetzlichen Verlusten, die Seelower Höhen überwand. Und dann, fast schon am Ziel, starben nochmals 22.000 um und in Berlin.“ Dieckmann nennt sie mit dem ihnen deutscherseits gebührenden Respekt die „unbekannten Ehrenbürger meiner Stadt“.
Christoph Dieckmann: Russland sei Dank. Ein Plädoyer für den empathischen Blick nach Osten, Die Zeit, 02.01.2014. Zum Volltext hier klicken.
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Und weil wir schon mal bei Russland sind – auch Bettina Röhl hat einiges zusammengetragen, das gern übersehen wird: „Und dann kam aus dem Nichts der im Westen oft herablassend und verächtlich als kleiner KGB-Mann gescholtene Wladimir Putin, der auf seine ganz persönliche Art und Weise das Heft des Handelns in die Hand nahm und aus dem Sauhaufen, den Jelzin hinterlassen hatte, das heutige Russland mit seinen enormen Chancen, aber auch seinen Schwächen formte. Was Putin in Russland für Russland und die Welt geleistet hat, ist in Wahrheit eines dicken Friedensnobelpreises würdig. […] Putin hat selbstherrliche Züge. Er mag kein lupenreiner Demokrat sein, aber seine Person auf dem Präsidentenstuhl in Russland ist ein Segen für die Welt. Russland ist ein Global Player und eine verkannte und negierte Supermacht. Das sollte man nicht vergessen.“
Bettina Röhl: Wladimir Putin – Fluch oder Segen?, Wirtschaftswoche, 01.01.2014. Zum Volltext hier klicken.

Wirsing

Auch das neue Jahr hält viele runde Jubiläen bereit, die die Betroffenen zu neuen Höchstleistungen antreibt. Im Nordmagazin des NDR hieß es: „Caspar David Friedrich feiert in diesem Jahr seinen 240. Geburtstag.“ Hoffentlich hat er dafür rechtzeitig einen Förderantrag gestellt – sonst muss der Gute ganz bescheiden im Kämmerlein feiern!

Fabian Ärmel

Wie mag er aussehn?

von Joachim Ringelnatz

Wer hat zum Steuerbogenformular
Den Text erfunden?
Ob der in jenen Stunden,
Da er dies Wunderwirr gebar,
Wohl ganz – – – oder total – – war?

Du liest den Text. Du sinnst. Du spinnst.
Du grinst – „Welch Rinds‘“ – Und du beginnst
Wieder und wieder. – Eisigkalt
Kommt die Vision dir „Heilanstalt“.
Für ihn? Für dich? – Dein Witz erblaßt.
Der Mann, der jenen Text verfaßt,
Was mag er dunkeln oder wähnen?
Ahnt er denn nichts von Zeitverlust und Tränen?

Wir kommen nicht auf seine Spur.
Und er muß wohl so sein und bleiben.
Auf seinen Grabstein sollte man nur
Den Text vom Steuerbogen schreiben.