von Erhard Crome
Da dachte manch einer, die mächtigsten Frauen dieses Landes seien sich einigermaßen zugetan, zumindest hieß es immer mal wieder, Angela Merkel, Liz Mohn (das ist die Herrin des Hauses Bertelsmann) und Friede Springer (die Herrin des gleichnamigen Verlagshauses) träfen sich gelegentlich zum Kaffee, was assoziierte, sie hätten etwas gemeinsam und also gemeinsam zu bereden. Nun waren es augenscheinlich zwei Journalisten aus dem Hause Springer, die die übelsten Horrorgeschichten aus dem DDR-Gruselkabinett hervorklaubten, um sie ausgerechnet der Kanzlerin anzuheften. Ist das nur eine weitere Schraube, um die „zweite deutsche Diktatur“ erneut zu verschreien, oder soll das die in den gehobenen Schichten des Westens letztlich ungeliebte Kanzlerin wirklich treffen? Die ehemaligen Herren der West-CDU haben gewiss noch verschiedene Rechnungen mit ihr offen, hat sie sie doch alle ausmanövriert. Bisher galt in dieser Partei aber, dass ein erfolgreicher Kanzler – das sollte eigentlich auch für Kanzlerinnen gelten – vor einer anstehenden Bundestagswahl nicht durch die eigenen Leute demontiert wird. Und das sogenannte bürgerliche Lage stützte dies.
In diesem Jahr 2013 aber geschehen erstaunliche Dinge, die mit den bisher üblichen Läuften von Wahlkämpfen wenig zu tun haben. Wenn es mit rechten Dingen zugeht, hat Herr Steinbrück keine Chance, den Kanzlerinnen-Sessel zu besetzen. Aber vielleicht gibt es interessierte Kreise, denen es eher um linke Dinger geht – was in diesem Fall allerdings keinesfalls Dinger mit der Linken meint. Und an dem weiteren Kurs der deutschen Politik zerren nicht nur verschiedene inländische Kräfte, sondern auch ausländische Mächte.
Insofern gehört zu den Besonderheiten dieses Wahlkampfes die immer weiter anschwellende Welle von Büchern über Angela Merkel, die das „Phänomen“ dieser Kanzlerin enttarnen wollen. Eines davon stammt aus der Feder der irischen Journalistin Judy Dempsey, die in Berlin lebt, Merkels Politik seit längerem aufmerksam verfolgt und jetzt vor allem für die US-amerikanische Carnagie-Stiftung und die International Herald Tribune arbeitet, die sich wiederum als die „globale Ausgabe“ der New York Times versteht.
Auch für Dempsey ist Merkel ein „Phänomen“, wie es bereits im Titel heißt. Der Untertitel jedoch lautet: „Deutschlands Macht und Möglichkeiten“. Am Schluss, wenn man das Buch zu Ende gelesen hat, merkt man, dass Dempsey im Grunde nicht über Merkel, sondern über dieses jetzige Deutschland geschrieben hat – über die tatsächliche Entwicklung und Politik, die die herrschenden Kräfte dieses Landes durchgesetzt haben. So heißt es in Demseys Finale fragend: „Ist es möglich, eine Frau wie Merkel zu verstehen? Die Antwort auf diese Frage fällt ebenso wenig eindeutig aus wie die Frage, ob es möglich ist, Deutschland zu verstehen. Angela Merkel ist eine kluge, mächtige, von tiefen Widersprüchen geprägte Frau, die vieles erreicht und noch mehr hat liegen lassen. Sie passt zu Deutschland, diesem Land, das sich seiner Geschichte, seiner Zukunft und seiner Rolle in der Welt, seiner Macht und seiner Möglichkeiten immer wieder vergewissern muss.“
Was aber, wenn das alles hinter dem Rücken des Auslands und der hiesigen Bevölkerung längst erfolgt ist? Dempsey beschreibt Politikfelder und Gegenstandsbereiche, so die Europapolitik, das Verhältnis zu den USA, Deutschlands Ostpolitik, das Verhältnis zu Israel, ein angeblich gestörtes Verhältnis zum Militär, innenpolitisches Versagen in der Integrations- und Familienpolitik, Merkels Energiewende und schließlich den anhaltenden außenpolitischen Konflikt „zwischen Interessen und Werten“. Überall wird Merkel unterstellt, sie zögere – nur in einer Sondersituation wie Fukushima läuft sie plötzlich und unerwartet zu großer Entscheidungsform auf. Und die Chancen blieben ungenutzt.
Aber ist denn dies eine zutreffende Tatsachenbeschreibung? Im ersten Kapitel geht es um eine „Europapolitik ohne Leidenschaft“. Eingangs stellt die Autorin richtig fest: „Tatsächlich hat die Euro-Krise die Verhältnisse in Europa umgestürzt. Deutschland ist zur Vormacht aufgestiegen: von Berlins Ja oder Nein hängt das wirtschaftliche Überleben der Krisenstaaten ab.“ Richtig. Dann aber meint Dempsey, Merkel habe „eine technokratische, fast ahistorische Sicht auf die Europäische Union“, die sie mit Merkels Herkunft aus der DDR erklärt; deshalb habe sie keine „emotionale Bindung an das europäische Projekt“. Und: „Der Reflex zur Solidarität in Europa scheint ihr fremd zu sein. Sie wird vom politisch Notwendigen getrieben und lässt sich nicht von Mitgefühl leiten.“ Wenn General Motors das Opel-Werk in Bochum schließt, geht es auch nicht um Solidarität und Mitgefühl, sondern um Macht und Rendite. Insofern hat das alles mit der DDR-Biographie nichts zu tun, wohl aber mit dem Charakter der EU: Entweder ist sie ein Solidarverbund der europäischen Staaten und Völker oder es geht um die Vormacht Deutschlands in diesem Gefüge. Beides gleichzeitig geht nicht. Und Merkel dient letzterem.
Im USA-Kapitel nennt Dempsey diese den „ungeliebten großen Freund“ und schreibt: „Einer der rätselhaftesten Aspekte deutscher Außenpolitik ist das Fehlen jeglichen strategischen Denkens in Bezug auf die Weltmacht Nummer eins, die Vereinigten Staaten von Amerika“. Auch dies weist sie dann wieder Merkel zu: „Warum lässt Angela Merkel zu, dass sich dieses wichtige Verhältnis immer mehr abkühlt?“ Hier wird wieder etwas personalisiert, das eigentlich aus dem Charakter der heutigen Verhältnisse resultiert. Vielleicht liegt ja die strategische Zukunft Deutschlands gerade nicht in dem engen „Bündnis“ mit den USA, sondern in der Distanz zu dem zu erwartenden Scheitern einer gewaltförmigen Weltpolitik, wie sie die USA verkörpern. Dempsey beschreibt richtig in ihrem Buch die strategischen Rohstoffabkommen, die Deutschland unter Merkel unter anderem mit China, der Mongolei, Kasachstan und anderen Ländern abgeschlossen hat. In der politikwissenschaftlichen Debatte ist heute die Rede von Deutschland als einer „geo-ökonomischen Macht mit globalen Interessen“. Die hat man nicht als Junior-Partner einer absteigenden Weltmacht – große Mächte haben keine Freunde, sondern nur Interessen.
Am Ende dieses Kapitels meint Dempsey: „Sollte die Regierung Merkel allerdings tatsächlich der Meinung sein, mit den transatlantischen Beziehungen sei alles in Ordnung, dann belügt sie sich selbst. Die einzige andere Erklärung ist, dass die Kanzlerin und ihre Minister nicht verstanden haben, welche Auswirkungen die geostrategischen Veränderungen der letzten Jahre auf Europa haben werden.“ Die Antwort auf diese Mutmaßungen müsste wahrscheinlich heißen: Den politischen Entscheidungsträgern in Berlin ist bewusst, dass mit den „transatlantischen Beziehungen“ nicht alles in Ordnung ist; die USA neigen weiter dazu, Spannungen anzuzetteln und Unsicherheiten zu schaffen sowie unberechenbare Kriege mit katastrophalem Ausgang zu führen. Als geo-ökonomische Macht, deren Interessen vor allem in Eurasien liegen, hat man dagegen Interessen, die auf Ausgleich und Berechenbarkeit zielen. Da aber Deutschland nun mal in der NATO und in diesem „transatlantischen Verbund“ ist, gilt es, der Vormacht – solange sie das ist – keinen Vorwand zu machtpolitischen Demonstrationen zu liefern, diese ruhig zu stellen, und ansonsten die eigenen Interessen zu verfolgen. So erklärt sich denn auch die von Dempsey wiederholt monierte Zurückhaltung Deutschlands bei der Beschimpfung Chinas und Russlands, nicht zuletzt unter dem Vorwand der Menschenrechte.
Schließlich kommt die Autorin in Sachen Merkel zu dem Schluss: „In ihrer Zeit als Kanzlerin hat es keine Standortbestimmung für Deutschlands Platz in der Welt gegeben.“ Was aber, wenn der Standort die Standortbestimmung ist? Deutschland hat zwei Weltkriege geführt, um Vormacht Europas zu werden, und beide verloren. Jetzt ist es faktisch Vormacht. Die USA bestanden darauf, dass Deutschland bei seiner Vereinigung 1990 in der NATO bleibt, um es weiter kontrollieren zu können. Jetzt spielt die NATO im Verhältnis beider eine immer geringere Rolle. Es wäre unklug für eine deutsche Regierung, die die Interessen einer geo-ökonomischen Macht umsetzt, offen zu sagen: Wir wollen weiter die EU hegemonial dominieren, uns von den USA nichts mehr vorschreiben lassen, mit China, Russland und allen anderen großen Mächten auf Augenhöhe reden und weltweit unsere Geschäfte machen. Deshalb wird okkasionell, je nach Ort und Zeit, das Angebrachte gesagt, aber nicht, dass die deutsche Weltgeltung der eigentliche Zielpunkt ist. Soziologen wissen, dass die Fragen weithin die Antworten bestimmen. Judy Dempsey hatte die falschen Fragen auf dem Zettel.
Judy Dempsey: Das Phänomen Merkel. Deutschlands Macht und Möglichkeiten, Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2013, 201 Seiten, 16,00 Euro.
Schlagwörter: Angela Merkel, China, Deutschland, EU, Europa, geo-ökonomisch, Judy Dempsey, NATO, Russland, USA