Aus Schumpeters Sicht schreit Kapazität nach Auslastung:
Wer sich für den Krieg rüstet, wird ihn irgendwann führen.
Abdullah Sinirlioglu / Philipp Kleinmichel
Berliner Zeitung, 17./18.8.2024
Die dringende Aufgabe im dritten Jahr der militärischen Konfrontation besteht darin, ein weiteres Engagement der NATO-Staaten zu stoppen. Geschieht dies nicht, wird die […] vom Westen konsequent durchgeführte[…] Eskalation zu einem direkten Zusammenstoß zwischen den Streitkräften Russlands und der NATO führen, der mit einem umfassenden Atomkrieg verbunden ist.
Dmitri Trenin
Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!/ Ins Feld, in die Freiheit gezogen./ Im Felde, da ist der Mann noch was wert,/ Da wird ihm das Herz noch gewogen./ Da tritt kein anderer für ihn ein,/ Auf sich selber steht er da ganz allein.“
So lautet die erste Strophe des Gesangs der Landsknechte am Ende von „Wallensteins Lager“, dem ersten Teil der grandiosen Trilogie Friedrich Schillers. Der Dichter selbst – mit einem gehörigen Schuss Understatement – nannte es „Ein dramatisches Gedicht“.
Derzeit haben Text und Melodie des Liedes das Zeug zur Begleitmusik der Renaissance jener Kriegsbesoffenheit, die sich im Lande ausgebreitet hat und die immer neue Blüten treibt.
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Da lässt die einst renommierte taz in ihrer Online-Ausgabe vom 17. August 2024 einen Volontär namens Leon Holly, Jahrgang ‘96, darüber faseln, was er tun würde, „wenn eines Tages russische Panzer über Oder und Neiße rollen“. Sich die Frage zu stellen, auf welch‘ wundersame Weise nach einem Ende des Ukraine-Krieges wahrscheinlich durchaus noch vorhandene Panzer eines Regimes, das es in zweieinhalb Kriegsjahren nicht einmal bis Kiew, Charkiw oder gar Odessa geschafft hat, „eines Tages“ sogar an Oder und Neiße auftauchen könnten, dieser Mühe unterzieht sich der Youngster nicht. Wozu auch, wenn das Feindbild sitzt? Schließlich weiß man doch, dass (O-Ton Holly) „der reaktionäre russische Mafiakapitalismus […] nicht davor zurückschrecken würde, […] Journalisten aus dem Fenster fallen, queere Menschen in Berlin verhaften und – wenn der Kyjiwer Vorort Butscha als Beispiel dienen darf – Zivilist:innen in Potsdam massakrieren zu lassen“. Davon, dass „russische Iskander-Raketen in der Friedrichstraße einschlagen“ könnten, ganz zu schweigen.
Was Leon Holly in solchem Falle täte, ließ er bereits durch die Überschrift seines Beitrags wissen: „Kämpfen für Deutschland: Zu den Waffen, Genossen!“ Und was Boris Pistorius an Kampfkraftzuwachs durch diesen wackeren Vaterlandsverteidiger zu gewärtigen hätte wurde freimütig ebenfalls mitgeteilt: „Ob ich an der Waffe ‚kriegstüchtig‘ wäre, wie der Verteidigungsminister sich das wünscht, weiß ich nicht. Ich habe nicht gedient, bin nie durch den Schlamm gerobbt und hatte auch noch kein G36-Sturmgewehr in der Hand. […] Aber verabschieden will ich mich nicht.“
Doch zurück zu den russischen Panzern an Oder und Neiße. Kein Fachmann, der ernst genommen werden will, wird bestreiten, dass die NATO Russland im Bereich konventioneller Streitkräfte und in kriegsrelevanter wirtschaftlicher wie finanzieller Hinsicht kollektiv um ein Vielfaches überlegen ist (siehe Blättchen 15/2022). Das sind Faktoren, an denen Moskau weder kurz- noch langfristig etwas ändern kann und die das Risiko eines russischen Überfalls auf einen NATO-Staat, über den westliche Medien und Politiker so häufig orakeln, als gegen Null tendierend erscheinen lassen.
Zwar befeuern hiesige Medien das allgemeine Russland-Bashing seit längerem auch immer wieder mit Schlagzeilen wie „Russland rüstet sich für jahrzehntelange Kriegswirtschaft“ (Der Spiegel, 07.06.2024), doch die zugehörigen Berichte sind befremdlich unkonkret. Nichts von Panzern und Kampfflugzeugen, die quasi vom Band und an die Fronten in der Ukraine rollen, respektive fliegen. Dafür immer wieder Meldungen über angeblich umfangreiche Waffen- und Munitionslieferungen Irans („bisher 300.000 Artilleriegeschosse an Russland“, Tagesspiegel, 25.04.2023) und Nordkoreas („Millionen von Artilleriegranaten an Russland“, Deutsche Welle, 20.06.2024).
Schreckensszenarien wie das folgende sind daher bestenfalls Ausgeburten fehlgeleiteter Phantasie: „Wenn Putin in der Ukraine seinen Willen durchsetzt, wird er dort nicht haltmachen […] aus seinen Briefen an die US-Administration und die NATO bereits vom Dezember 2021 geht klar hervor, dass er in Europa die Machtverhältnisse von vor 1991 wiederherstellen will. Als nächste Opfer wären dann Georgien und Moldawien dran, und nach ein paar Jahren würde er, je nachdem, als wie schwach und gespalten er dann die NATO einschätzt, diese in den Schwarzmeeranrainerstaaten Rumänien und Bulgarien testen und ganz sicher in den exponierten baltischen Staaten, deren Wiederbefreiung vom sowjetischen Joch er nie wirklich akzeptiert hat.“ Und Putin unter Berufung auf seine auf der Waldai-Konferenz im Oktober 2023 gefallene Bemerkung, „mit der Umgestaltung der Weltordnung ‚gerade erst begonnen zu haben‘“, quasi Welteroberungsgelüste zu unterstellen, ist einfach nur schlechte Propaganda. Denn er bezog sich eindeutig auf das Bestreben der BRICS-Gruppe zur Ablösung der von den USA und dem Westen dominierten Weltordnung durch eine multipolare.
Die letztgenannten Äußerungen stammen allerdings von Klaus Wittmann, ehemals Brigadegeneral der Bundeswehr. Dem kann fehlgeleitete Phantasie als mildernder Umstand schon qua Karriere nicht konzediert werden. Umso weniger, als er seinen Beitrag in der Berliner Zeitung vom 13. August 2024 unter die Überschrift „Eskalation wagen“ stellte und sich damit als Bellizist reinsten Wassers outete.
Konkret meint Wittmann: „Die Lieferung keines einzigen westlichen Waffensystems an die Ukraine hat zu besonderer russischer Eskalation geführt, nur zu leeren Drohungen, welche viele kleinere, aber auch tapferere NATO-Alliierte (wie gerade die dänische Ministerpräsidentin) wesentlich beherzter abwettern. Es ist höchste Zeit, diese Hemmung zu überwinden.“
Soll was heißen? Der Ukraine endlich deutsche Taurus-Marschflugkörper liefern (siehe Blättchen, 7/2024), damit sie nicht bloß die Brücke von Kertsch, sondern auch strategische Ziele tief im russischen Staatsgebiet zerstören kann? Oder besser gleich und konsequenter direkt mit NATO-Truppen auf ukrainischer Seite intervenieren?
Tatsächlich war es seit Beginn der Aggression Russlands gegen die Ukraine im Februar 2022 so, dass Moskau wiederholt rote Linien mit vagen Drohungen deklariert und beim Überschreiten dieser Linien durch den Westen nicht in der angekündigten Weise reagiert hat. Wie Papiertiger halt so sind, legt Wittmann nahe.
Doch daraus zu schlussfolgern, man könne, ja solle, wenn nicht müsse das Spiel bis zu einer Niederlage Moskaus mindestens auf den Schlachtfeldern in der Ukraine, treiben, offenbart eine Denkungsart, der man sich im Interesse eigenen Überlebens besser verweigern sollte. Die russische Nukleardoktrin erlaubt den Ersteinsatz von Atomwaffen auch im konventionellen Krieg, wenn die Existenz des Staates als gefährdet angesehen wird. Wann diese Schwelle erreicht ist, legt der russische Präsident fest. Und diesem wird bekanntlich unterstellt, dass er sich und sein Schicksal mit dem des Staates gleichsetzt …
Darüber hinaus wird die konventionelle Überlegenheit der NATO (zu der aus russischer Sicht weitere westliche Militärpotenziale wie jene Japans, Südkoreas, Australiens zu addieren sind) in Moskau klar gesehen. Die notwendigen militärischen Schlussfolgerungen liegen auf der Hand, selbst wenn sie bisher nur im Umfeld des Machtestablishments klar formuliert worden sind, nicht vom Kremlchef selbst. Dmitri Trenin – über Jahre als Chef der Carnegie-Dependance in Moskau ein dem Kreml durchaus kritisch gegenüberstehender Analytiker und Stratege, inzwischen jedoch nur noch Patriot (my country, right or wrong) – brachte entsprechende Überlegungen auf den Punkt: „Gegen Moskau steht eine Koalition aus fünfzig Ländern unter der Führung der USA. Angesichts des gesamten militärischen, militärökonomischen und demografischen Potenzials des Feindes ist es unangemessen und schädlich, nach dem Vorbild der UdSSR eine allgemeine militärische Parität anzustreben. Stattdessen ist es sinnvoll, aktive nukleare Abschreckung zu praktizieren – also die Fähigkeit und Entschlossenheit, Atomwaffen dort einzusetzen, wo zentrale nationale Interessen auf dem Spiel stehen, und nicht nur dann, wenn die Existenz eines Staates bedroht sein könnte. […] Die bekannte Aussage, dass ein Atomkrieg keine Gewinner haben und nicht geführt werden kann, sollte nicht in einem engen, für den Westen vorteilhaften Sinne interpretiert werden.“
Von „der defensiven zur offensiven Verwendung der ‚Bombe‘ ist es nur ein kleiner Schritt“, warnte Jürgen Osterhammel jüngst in der FAZ (Online-Ausgabe 19.06.2024). In einem ansonsten intellektuell dürftigen Beitrag, in dem Putin zwar zum reinblütigen Imperialisten gestempelt, die Frage nach russischen Sicherheitsinteressen im Kontext des Ukraine-Konflikts hingegen vollständig ignoriert wurde.
Überlegungen wie die Trenins, soweit sie nach der Blockierung russischer Internetportale hierzulande überhaupt noch zugänglich sind, werden allerdings in der deutschen sicherheitspolitischen Community praktisch nicht zur Kenntnis genommen. So lassen sich auch Forderungen nach weiterer Intensivierung der laufenden nationalen Militarisierungswelle viel leichter mit Slogans wie „Deutschland muss unangreifbar sein“ (Reinhard Müller, FAZ, Online-Ausgabe 11.08.2024) unterfüttern.
Klingt als Slogan gar nicht verkehrt, ist gleichwohl Utopie, wenn nicht Schlimmeres, denn gegenüber einer atomaren Supermacht kann man sich nicht mittels eigener Rüstung, wofür Müller plädiert, „unangreifbar“ machen. Dazu müsste man vielmehr – und diesmal ungleich konsequenter als beim ersten Durchlauf – eine grundsätzlich neue Ostpolitik mit dem Ziel betreiben, endlich ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem unter Einschluss Russlands zu schaffen. Das war mit der Charta von Paris (1990) intendiert, doch die historische Chance wurde von den USA und deren NATO-Verbündeten den Osterweiterungen des Paktes geopfert, während man zugleich Moskau mit Placebos wie dem sogenannten NATO-Russland-Rat ruhig zu stellen suchte (dazu Blättchen 13/2014).
Schön und gut, aber mit Putins Russland könne man dergleichen ja wohl nicht verhandeln. Behaupten all jene, die auf eine strategische Niederlage Moskaus in der neuen Ost-West-Konfrontation setzen, um damit die westlichen Erfolgsaussichten für den nächsten geopolitischen Clash, den mit China, zu verbessern.
Man wird sehen, wohin das führt …
Im Übrigen: Auch Erbfeindschaften können überwunden werden, wenn sich Staatenlenker dazu entschließen. Frankreich und Westdeutschland haben es nach dem Zweiten Weltkrieg vorgemacht.
Schlagwörter: Atomwaffen, Eskalation, konventionell, Krieg, Kriegsbesoffenheit, NATO, Russland, Sarcasticus