27. Jahrgang | Nummer 7 | 25. März 2024

Taurus – und kein Ende?

von Sarcasticus

„Angesichts der sehr begrenzten Fortschritte, die die Ukraine bei ihrer Offensive 2023 erzielt hat, glaube ich nicht, dass die Ukraine selbst mit dem Taurus, mit mehr Leopard- und Abrams-Panzern und Drohnen eine realistische Chance hat, die russischen Truppen aus der Ostukraine zu vertreiben.“

Charles A. Kupchan,

unter Präsident Obama leitender Direktor für europäische Angelegenheiten

im Nationalen Sicherheitsrat der USA

 

Deutschland ist nächst den USA, mit deutlichem Abstand zu allen anderen Staaten der größte militärische und finanzielle Unterstützer der Ukraine in deren Abwehrkampf gegen Russlands Aggression. Ob die Hilfsmaßnahmen völkerrechtlich tatsächlich noch unterhalb der Schwelle direkter Kriegsbeteiligung liegen, wie von Experten immer wieder reklamiert wird, die in der Regel für eine weitere Verstärkung der Waffenlieferungen plädieren, ist eine akademische Frage. Denn eine direkte militärische Antwort gegen Deutschland zu erwägen und gegebenenfalls zu befehlen, liegt allein im Ermessen des Herrschers im Kreml.

Bundeskanzler Olaf Scholz, der die inzwischen 18-Milliarden-Euro-Unterstützung für die Ukraine zu verantworten hat, will Wladimir Putin in der Frage einer direkten Kriegsbeteiligung, die für Deutschlands Sicherheit von existenzieller Relevanz sein könnte, augenscheinlich keine zusätzliche Schützenhilfe durch Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern leisten: Am 13. März 2024 hat er in einer Bundestagsbefragung denen, die ihn prinzipiell sowieso nicht verstehen wollen, noch einmal seine Gründe erklärt: Es handele sich um eine „sehr weitreichende Waffe“, bei der „man die Kontrolle über die Ziele nicht verlieren darf“. Kontrolle sei jedoch ohne den Einsatz deutscher Soldaten nicht möglich. „Das lehne ich ab.“ Zumindest in dieser Frage also keine direkte oder indirekte deutsche Beteiligung am Krieg.

Vergleichbar einem Fels in der Brandung hat Scholz diese Position bisher gegen den Befürwortungstsunami aus den Reihen der Union, aber auch seiner Ampelpartner und der Mainstreammedien behauptet. Ob CDU-Chef Friedrich Merz mit seiner Befähigung, nicht ganz unterkomplexe Probleme auf einem Bierdeckel zu lösen, monierte, der Kanzler spiele bei seiner Verweigerung „mit Kriegsängsten der Bevölkerung“; ob Norbert Röttgen (CDU) und Anton Hofreiter (Die Grünen) einträchtig den „katastrophale[n] Defätismus des Kanzlers“ geißelten; ob Außenministerin Annalena Baerbock (Die Grünen) mit ihrer frappierenden Sachkenntnis einen „Taurus-Ringtausch als mögliche Option“ betrachtete oder ob FDP-Vize Wolfgang Kubicki „einen Taurus-Aufstand gegen den Kanzler“ ankündigte – Scholz blieb bei seinem Nein. Und die Union scheiterte am 14. März auch mit ihrem dritten Versuch, eine Bundestagsmehrheit für Taurus-Lieferungen an die Ukraine zustande zu bringen.

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Exkurs: Taurus (lateinisch: Stier) ist in diesem Fall ein Akronym und steht für Target Adaptive Unitary and Dispenser Robotic Ubiquity System KEPD-350 (Kinetic Energy Penetrator and Destroyer). Der Marschflugkörper ist über fünf Meter lang und wiegt knapp 1,4 Tonnen. Er wird laut Website der Bundeswehr „zur Bekämpfung von wichtigen Zielen über große Entfernung verwendet. Durch vier voneinander unabhängige Navigationssysteme findet der Luft-Boden-Lenkflugkörper sein Ziel […] auch bei gegnerischen Störmaßnahmen. Der MEPHISTO-Gefechtskopf […] durchschlägt im Zusammenwirken mit der Vor-Hohlladung selbst stark gehärtete Zielstrukturen, beispielsweise Bunkeranlagen oder Führungsgefechtsstände.“

Der genaue Bestand der Bundeswehr an Taurus-Marschflugkörpern ist Verschlusssache; Medien schätzen 600 Systeme. Davon gilt die Hälfte als einsatzbereit. Beim Rest soll die Zertifizierung abgelaufen sein. Einem Welt-Bericht zufolge sollen demnächst jedoch alle einsatzbereiten Systeme überarbeitet und alle übrigen generalüberholt werden.

Die Auslieferung durch den Hersteller MBDA begann 2005. Taurus-Systeme sind auch an Spanien und Südkorea gegangen.

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Die Taurus-Kontroverse ist nicht frei von befremdlichen Skurrilitäten. So lehnte Alexander Müller, MdB-FDP und Obmann im Verteidigungsausschuss des Bundestages, im Interview mit dem Deutschlandfunk am 12. März 2024 den vom britischen Außenminister David Cameron aufs Tapet gebrachten Ringtausch – Taurus an London, im Gegenzug weitere britische Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow an Kiew – zwar rundweg ab, weil „die Briten mit dem Taurus gar nichts anfangen können, der passt unter kein britisches Flugzeug. Es ist auch kein Flugzeug der Briten dafür zertifiziert.“ Ringtausch mangels geeigneter britischer Trägerflugzeuge also sinnlos. Aber ein paar Sätze später beharrte Müller darauf, „dass der Taurus [an die Ukraine – S.] geliefert werden soll“. Da stellt sich die Frage, mit welchem Trägersystem der luftgestützte Taurus denn eigentlich eingesetzt werden soll. Die ukrainische Luftwaffe verfügte 2022 laut Military Balance ausschließlich über veraltete Maschinen aus sowjetischer und tschechischer Produktion. Erste westliche F-16 sollen zwar ab Sommer 2024 geliefert werden, doch die sind ebenfalls nicht für Taurus zertifiziert. Womit müsste folglich als nächstes gerechnet werden? Mit Forderungen, zertifizierte deutsche Kampfflugzeuge vom Typ Eurofighter oder Tornado hinterherzuschicken?

Vergleichbar skurril ist der Sachverhalt, dass sich die Taurus-Abhöraffäre seiner „besten Offiziere“ für Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius inzwischen auf „ein perfides Spiel, das Putin spielt“, reduziert hat. Ein Spiel, dem „auf den Leim zu gehen“ Deutschlands beliebtester Minister selbstredend „nicht gewillt“ ist.

Was ist das für ein eigentümliches Verständnis vom Primat der Politik im Verhältnis zwischen ziviler Führung und militärischen Untergebenen? Während der Bundeskanzler eine Taurus-Lieferung an Kiew ablehnt, um Deutschland nicht noch tiefer in den Ukraine-Krieg zu verstricken, plaudert der Inspekteur der Bundesluftwaffe mit hochrangigen Kameraden darüber, wie eine Taurus-Lieferung und mittels dieser Waffe eine Zerstörung der Brücke von Kertsch bei gleichzeitiger Vertuschung einer deutschen Beteiligung daran doch zu bewerkstelligen wäre! Seit wann nennt man dergleichen Agieren von Untergebenen hinter dem Rücken von Dienstvorgesetzten eigentlich nicht mehr Insubordination?

Überdies offenbarte das am 19. Februar abgehörte Gespräch, dass mindestens einer der Beteiligten, Brigadegeneral Frank Gräfe, Abteilungsleiter für Einsätze und Übungen im Kommando Luftwaffe, bereits vor Monaten mit General Kenneth S. Wilsbach, seinerzeit Kommandeur der US-Luftstreitkräfte im Pazifik, über das geplante Taurus-Husarenstück gesprochen hatte: „[…] das war ja Oktober, wo wir (sic!) dem Wilsbach das alles vorgestellt haben.“. Nunmehr war er drauf und dran, Wilsbachs Amtsnachfolger, General Kevin B. Schneider, ebenfalls ins Bild zu setzen.

Ein „perfides Spiel“ Putins?

Darüber hinaus ist der Kanzler wiederholt heftig dafür kritisiert worden, dass er offenbar befürchtet, die ukrainische Führung könnte das Taurus-System trotz gegenteiliger Zusagen auf eine Art und Weise benutzen, wie sie ihr vom CDU-Bundestagsabgeordneten Roderich Kiesewetter nahegelegt worden ist: „Der Krieg muss nach Russland getragen werden. Russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere müssen zerstört werden. […] nicht nur Ölraffinerien in Russland […] zerstören, sondern Ministerien, Kommandoposten, Gefechtsstände.“

Des Kanzlers Misstrauen sei völlig unangebracht, war der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zu entnehmen. Als Beleg zitiert wurde Mychajlo Podoljak, Berater des ukrainischen Präsidenten: „Wir halten uns penibel an die Abmachungen mit unseren Partnern. Wenn vereinbart wurde, dass Waffen von unseren Partnern nicht auf russischem Gebiet eingesetzt werden sollen, dann wurde und wird das auch strikt eingehalten.“ Bei Angriffen auf „militärische Objekte in der Russischen Föderation“ würden „Eigenproduktionen“ verwendet. Tatsächlich?

Zweifel an solchen Beteuerungen haben unter anderem die Abschüsse eines russischen Fernaufklärungs- und Frühwarnflugzeuges vom Typ Berijew A-50 Schmel sowie einer fliegenden Kommandozentrale Il-22M im Januar 2024 und einer weiteren A-50 im Februar geweckt. Alle drei Maschinen operierten über dem zwischen Russland und der Ukraine als Binnengewässer geltenden Asowschen Meer. Zum Februar-Abschuss gab es einen Bericht der Ukrayinska Pravda – mit Bezug auf Geheimdienstquellen –, wonach ein Luftabwehrraketensystem sowjetischer Bauart vom Typ S-200 zum Einsatz gekommen sei. Die Truppeneinführung dieses Systems liegt allerdings bereits knapp 60 Jahre zurück, und zu Beginn des Ukraine-Krieges verfügten Kiews Streitkräfte laut Military Balance über keine aktiven S-200-Einheiten mehr. Gewiss können solche Systeme ausgemottet worden sein, aber eine plausiblere Erklärung hatte womöglich Valeriy Romanenko von der National Aviation University der Ukraine, der gegenüber der Deutschen Welle äußerte, dass vom Westen gelieferte „Patriot-Luftabwehrsysteme eingesetzt worden sein könnten.“ Nur „Patriot-Raketen hätten die erforderliche Reichweite von 160 Kilometern“.

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„Ist die ‚Friedenspartei SPD‘ jetzt zurück?“, fragten Jochen Buchsteiner und Konrad Schuller am 10. März in der FAZ. Ihr Kontext machte den mokanten Unterton unüberhörbar. Doch die Herren können beruhigt sein. Von der Kanzler-Entscheidung gegen Taurus abgesehen, geht alles weiter seinen Gang. Die deutsche Militärhilfe an Kiew ist für 2024 auf acht Milliarden Euro verdoppelt worden. Und eine Initiative für einen Waffenstillstand mit parallelen Friedenverhandlungen ist nach derzeitigem Stande weder aus dem Kanzleramt noch aus der SPD-Bundestagsfraktion zu befürchten.