26. Jahrgang | Nummer 25 | 4. Dezember 2023

Bemerkungen

Tödlicher Fallout

Im vergangenen März 2023 veröffentlichte die US-Luftwaffe einen zweibändigen, mehr als 3000 Seiten umfassenden Bericht, in dem sie die Umweltauswirkungen ihrer Pläne darlegt, bis Mitte der 2030er Jahre alle 400 landgestützten, verbunkerten Interkontinentalraketen vom Typ Minuteman (ICBMs) durch neue Sentinel-Raketen zu ersetzen. Dabei seien jedoch, so die US-Zeitschrift Scientific American in ihrer Ausgabe vom 1. Dezember 2023, die größten Risiken für die Bevölkerung im Umland der ICBM-Silos gar nicht erwähnt worden, „nämlich was passiert, wenn diese Raketen […] jemals angegriffen werden“.

Dazu informiert das Blatt: „Um ein Raketensilo anzugreifen, müssen ein oder zwei nukleare Sprengköpfe mit einer Explosivkraft, die 100.000 Tonnen TNT entspricht, in der Nähe des verbunkerten Ziels gezündet werden. […] Da die Sprengköpfe in Bodennähe detonieren, saugen die nuklearen Feuerbälle beim Aufsteigen in die Luft Erde sowie Trümmer an und vermischen sie mit den radioaktiven Überresten der Bomben. Etwa zehn Minuten nach der Detonation wird das Gemisch aus Trümmern und Spaltprodukten kilometerhohe radioaktive Pilzwolken bilden, die dann durch Höhenwinde zerstreut werden und zu Fallout in windabgewandte Gebiete führen.“

Dank des heutigen Erkenntnisstandes und der Leistungsfähigkeit von Großrechnern sei es der Wissenschaft möglich, „das radiologische Risiko eines präventiven nuklearen Angriffs auf die Raketensilos so detailliert wie nie zuvor darzustellen“. Modellen zufolge, so Scientific American, „würde ein konzertierter Nuklearangriff auf die bestehenden Silofelder in den USA – Colorado, Wyoming, Nebraska, Montana und North Dakota – alles Leben in den umliegenden Regionen auslöschen […]. Auch in Minnesota, lowa und Kansas wäre die Belastung durch radioaktiven Fallout wahrscheinlich hoch. Allein die akute Strahlenbelastung würde in den USA mehrere Millionen Todesopfer fordern – vorausgesetzt, die Menschen werden rechtzeitig gewarnt und können sich für mindestens vier Tage in Sicherheit bringen. Ohne geeigneten Schutz könnte diese Zahl doppelt so hoch sein. Aufgrund der großen Variabilität der Windrichtungen wäre die gesamte Bevölkerung der […] USA und der am dichtesten besiedelten Gebiete Kanadas sowie der nördlichen Bundesstaaten Mexikos dem Risiko eines tödlichen Fallouts ausgesetzt – insgesamt mehr als 300 Millionen Menschen.“

ws

Wozu NVA-Renten doch alles gut sind

DER SPIEGEL berichtete jüngst, wie im Hause Pistorius (Bundesverteidigungsministerium) mit Mitteln kreativer Buchhaltung daran gearbeitet werde, im Hinblick auf das Zwei-Prozent-Ziel* „endlich Vollzug bei Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg melden zu können“.

Um die NATO-Vorgabe zu erfüllen, müsste der Militärhaushalt 2024 bei 85,3 Milliarden Euro liegen. Die bisherige Planung liege bei 51,8 Milliarden, wozu weitere 19,2 Milliarden aus den 100-Milliarden-Sonderschulden addiert werden könnten. Bliebe eine Lücke von 14,3 Milliarden. Um diese zu schließen, sei ein Kehraus durch sämtliche Ressorts der Bundesregierung einschließlich des Kanzleramtes sowie des Bundestages und selbst des Bundesrates erfolgt und habe unter anderem folgende Mehrungen der Verteidigungsausgaben gebracht:

  • Finanzministerium: allein 4,5 Milliarden an Zinszahlungen für „Flugzeuge, Panzer und Haubitzen der Bundeswehr“ die irgendwann einmal „mit geliehenem Geld angeschafft“ worden seien. „Zum Beitrag des Finanzministeriums zählen aber auch Versorgungsleistungen für Ex-Angehörige der Nationalen Volksarmee.“

  • Auswärtiges Amt: 808,6 Millionen, unter anderem „Mitgliedsbeiträge zur Uno“.

  • Familienministerium: 47,2 Millionen „Kindergeldzahlungen an Bundeswehrangehörige“.

  • Bundeskanzleramt: 921 Millionen, überwiegend der Etat des BND.

  • Bundestag und Bundesrat: mehr als 5,7 Millionen, mit denen die Arbeit der Wehrbeauftragten und der Mitgliedsbeitrag zur Parlamentarischen Versammlung der NATO finanziert werde.

Zwar hätten, so das Nachrichtenmagazin, auch andere NATO-Staaten „in den vergangenen Jahren alles Mögliche als Verteidigungsausgaben“ verbucht, doch „so dreist wie diesmal sind die Deutschen noch nie vorgegangen“.

sarc

 

* – Die jährlichen Militärausgaben aller NATO-Staaten sollen mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes betragen.

 

Auf den Punkt gebracht

Fällt das Wörtchen „Narrativ“,

wird irgendwo ein Narr aktiv.

Thorsten Harmsen

 

Der Volkstrauertag ist

das Erntedankfest der Rüstungsindustrie.

Frank-Markus Barwasser

alias Erwin Pelzig

 

Wenn alle Hoffnung verloren ist,

gibt es auch keinen Grund mehr für Pessimismus.

Aki Kaurismäki

 

Konformismus ist der Versuch,

mit dem Strom zu schwimmen,

ohne nass zu werden.

Frank Tyger

 

Luxus besteht nicht darin, viel zu besitzen,

sondern wenig zu brauchen.

Coco Chanel

 

Moralisten sind Menschen, die sich dort kratzen,

wo es andere juckt.

Samuel Beckett

 

Es ist leichter, zum Mars vorzudringen,

als zu sich selbst.

Carl Gustav Jung

 

Stell Dir vor, es geht,

und keiner kriegt’s hin.

Wolfgang Neuss

 

Ideologie ist Ordnung

auf Kosten des Weiterdenkens.

Friedrich Dürrenmatt

 

Wenn du schon nicht besser als deine Konkurrentin sein kannst,

dann zieh’ dich wenigstens besser an.

Anna Wintour

 

Sie können selbst mit einem Abitur aus NRW

Bundeskanzler werde,

Armin Laschet

 

In der Politik ist es wie in der Mathematik:

Alles, was nicht ganz richtig ist, ist falsch.

Edward Kennedy

 

Ohne ein gewisses Quantum Mumpitz

geht es nicht.
Theodor Fontane

cf

Längst vergessen?!

Fundstücke aus DDR-Jahrgängen der Weltbühne, die dank einer Spende aus Leserhand nunmehr im Blättchen-Archiv stehen.

Die Redaktion

Nomen est omen?

Im Garten reift errötend

die Orange, unmerklich tanzt

auf ihrer Haut die Zeit …

 

Salvatore Quasimodo

Vor etlichen Jahren, als wir noch einigermaßen jung waren, erfand man die Rotstern- Schokoladen-Pastillen, Banner-Schuhe, Heftpflaster mit dem Namen „Fortschritt“; die Schuhwichse hieß „Kühne Flagge“, und saure Dropse hießen „Mahnmal der Zukunft“ oder so ähnIich.

Diese Benennungen waren natürlich ein bißchen übertrieben und oft wohl auch recht unpassend. Manchmal mußte man darüber lächeln.

Albern aber wird es jetzt, da die Designer, diese merkwürdigen und seltsamen Heiligen, mit einem Male, einem „irren“ westlichen Trend folgend, ihre Produkte als „Prestige“, Grand Empereur“ oder ,,Noblesse obligelée“ bezeichnen.

Neulich erwarb ich ein Rasierwasser mit dem Namen „Privileg“. Da ich gegen Privilegien bin, habe ich es meinem Onkel Wilhelm geschenkt. Dem macht das nichts aus, weil er sowieso kurzsichtig ist und sich in fremdsprachlichen Ausdrücken nicht näher auskennt.

Das Gurgelwasser „Feudal“ möchte ich nicht erwerben. Stattdessen habe ich eine Tube „Progress-Schaum“ zum Rasieren gekauft, und ich bin damit sehr zufrieden.

Ich bin ein altmodischer Mensch, falls Sie das interessiert.

Felix Mantel

Weltbühne, 39/1978.

 

Felix Mantel war eines der zahlreichen Pseudonyme des 2016 verstorbenen Satirikers Lothar Kusche (siehe ausführlicher Blättchen 18/2016), langjähriger Mitarbeiter der Weltbühne zu DDR-Zeiten und nachmaliger Autor von Ossietzky.

Leider ist es der Redaktion nicht gelungen, mögliche Inhaber der Rechte an den Weltbühnen-Publikationen von Lothar Kusche zu ermitteln. Wir bitten daher darum, sich gegebenenfalls mit uns in Verbindung zu setzen.

Der Faule

von Robert Reinick

(1805 – 1852)

 

„Heute nach der Schule gehen,

da so schönes Wetter ist?

Nein, wozu denn immer lernen,

was man später doch vergißt!

 

Doch die Zeit wird lang mir werden,

und wie bring’ ich sie herum?

Spitz! Komm her! Dich will ich lehren.

Hund, du bist mir viel zu dumm.

 

Andre Hund’ in deinem Alter

können dienen, Schildwach’ stehn,

können tanzen, apportieren,

auf Befehl ins Wasser gehen.

 

Ja, du denkst, es geht so weiter,

wie du’s sonst getrieben hast?

Nein, mein Spitz, jetzt heißt es lernen!

Hier! Komm her! Und aufgepasst.

 

So – nun stell’ dich in die Ecke –

Horch! Den Kopf zu mir gerich’t –

Pfötchen geben! So! – noch einmal!

Sonst gibt’s Schläge! – Willst du nicht?

 

Was, du knurrst, du willst nicht lernen?

Seht mir doch den faulen Wicht!

Wer nichts lernt, verdienet Strafe;

Kennst du diese Regel nicht?“

 

Horch! – Wer kommt? – Es ist der Vater!

Streng ruft er dem Knaben zu:

„Wer nichts lernt, verdienet Strafe;

Sprich, und was verdienest du?“

 

Heinrich Lund / Wilhelm Suhr (Hrsg.): Deutsches Dichterbuch,

Verlag Herrosé & Ziemsen, Wittenberg o.J.

 

Blätter aktuell

Die großen Demonstrationen in den arabischen Ländern zeigen: Die USA verlieren in den dortigen Bevölkerungen weiter an Ansehen, eine Aussöhnung mit Israel scheint unmöglich. Der langjährige Nahostkorrespondent Jörg Armbruster zeigt, wie die Enttäuschung über die Doppelmoral des „Westens“ die Machtverschiebung in der Region beschleunigt: Iran gewinnt an Einfluss und China bringt sich als Ordnungsstifter ins Spiel.

Der Schriftsteller Jorge Semprún kämpfte gegen den Nationalsozialismus und überlebte das Konzentrationslager Buchenwald – trotzdem plädierte er später für die Vereinigung Deutschlands. Zu seinem 100. Geburtstag erklärt Blätter-Redakteur Steffen Vogel, warum dessen politische Interventionen auch für die Debatten der Gegenwart relevant bleiben.

75 Jahre nach ihrer Formulierung sind die Menschenrechte vielerorts diskreditiert und kaum durchgesetzt. Trotzdem sieht Blätter-Redakteur Ferdinand Muggenthaler in ihnen den herausragenden Bezugspunkt, um eine Weltpolitik zu denken, die mehr ist als ein chaotischer Machtkampf zwischen Staaten, internationalen Konzernen und kriminellen Kartellen.

Dazu weitere Beiträge, unter anderem: „Gazastreifen: Keine Perspektive ohne internationales Engagement“, „Schweiz: Rechts = normal“ und „Venezuela: Vom Paria zum Partner?“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Dezember 2023, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

„Was erwarten wir von den überlebenden Kindern in Gaza, deren Eltern und Urgroßeltern schon Flüchtlinge von 1948 waren?“, fragt Nirit Sommerfeld, Mitglied des Vereins Jüdische Stimmen in Berlin, und fährt fort: „Sollen sie, nachdem sie wochenlang Ruinen, Hunger und Durst, Verschüttete und Verbrannte, Tod und Trauma erlebt haben, nach einem Wiederaufbau ihres Freiluftgefängnisses unsere freundlichen Nachbarn mit eingeschränkten Rechten werden, die unsere israelischen Gärten bestellen und unsere Häuser bauen, so wie die meisten Palästinenser es sich eingerichtet haben in den vergangenen Jahrzehnten? Oder werden sie eines Tages zu jungen Männern werden, die in ihrer Verzweiflung und Wut wieder Waffen in die Hand nehmen, um sich zu rächen an der Rache Israels? Diese tödliche Spirale wird ausschließlich durch einen Paradigmenwechsel zu unterbrechen sein.“

Nirit Sommerfeld „Wir verzweifeln an Israels Politik“, berliner-zeitung.de, 23.11.2023. Zum Volltext hier klicken.

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„Wohl kein Manöver aus der Zeit des Kalten Krieges sorgt bis heute für so viele Debatten wie ‚Able Archer 83‘“, schreibt Martin Klemrath. Die Aktion habe „den Planeten an den Rand eines Atomkriegs gebracht – weil die Sowjets das ‚Kriegsspiel‘ für bare Münze hielten, sagen einige Forscher. Andere halten dagegen.

Rainer Rupp, der seinerzeit als Aufklärer mit dem Decknamen Topas für die HVA im Einsatz war, hat die damaligen Ereignisse live im NATO-Hauptquartier in Brüssel miterlebt.

Martin Klemrath: „Able Archer 83“: Entging die Welt im Jahr 1983 um Haaresbreite einem Atomkrieg?, welt.de, 17.11.2023. Zum Volltext hier klicken.

Rainer Rupp: Beinhaltet der Ukraine-Krieg die Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes?, RT DE, 02.11.2023 Zum Volltext hier klicken – Teil 1 / Teil 2. (Falls sich die Links nicht mit Doppelklick öffnen lassen: mit der rechten Maustaste auf Teil 1 klicken, Hyperlink kopieren und in einen Internetbrowser einsetzen …)

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Wie auch immer eine Lösung des Ukrainekrieges aussehen mag, so Malte Lühmann, es „schließt sich auf mittlere Sicht die Frage an, wie nach diesem Krieg ein dauerhafter Frieden und eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa zu organisieren sind. […] Ob und wie weitere kriegerische Eskalationen in der Region zukünftig vermieden werden können, betrifft auch andere Konfliktlagen, wie die zwischen Serbien und dem Kosovo oder zwischen Griechenland und der Türkei.“

Malte Lühmann: Eine europäische Sicherheitsarchitektur nach dem Ukrainekrieg?, IMI-Studie 2023/03, 07.11.2023. Zum Volltext hier klicken.

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Mit der Vorgeschichte und dem Stand der aktuellen Lage im Nahen Osten befasst sich Jacques Baud. Er hebt unter anderem hervor: „[…] die israelische Regierung hat zwar das Recht – und die Pflicht –, ihre Bevölkerung zu schützen, aber die Methoden und Maßnahmen dazu sind nicht unbegrenzt und müssen dem humanitären Völkerrecht oder Kriegsrecht entsprechen.“

Eine Besatzungsmacht hat kein Recht auf Selbstverteidigung gegen die Besetzten (Interview mit Jacques Baud), zeitgeschehen-im-fokus.ch, 16.11.2023. Zum Volltext hier klicken.

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„Der Sieg von Milei“, konstatiert Svenja Blanke, „ist der Erfolg eines Kandidaten ohne Struktur, der erst vor fünf Jahren mit ultralibertären Ideen an die Öffentlichkeit trat […]. Argentinien reiht sich mit dem neuen Präsidenten ein in die Gruppe jener demokratisch verfassten Länder, die von Protesten gegen „das System“, „die Elite“ oder gegen „die da oben“ geprägt sind und wo man sich mit einer Stimme für ultrarechte, nationalistische oder rechtsextreme Systemsprenger à la Donald Trump oder Jair Bolsonaro abreagiert. Mileis Erfolg stellt nach vier Jahrzehnten demokratischer Erfahrung die gesamte politische Klasse in Frage.“

Svenja Blanke: Politisches Erdbeben in Argentinien: Was folgt auf die Wahl Mileis?, ipg-journal.de, 21.11.2023. Zum Volltext hier klicken.

Zusammengetragen von Wolfgang Schwarz.

 

Letzte Meldung

Auf einem virtuellen Gipfeltreffen der BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) am 21.11.2023 unter Vorsitz des südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa, an dem auch die Staats- und Regierungschefs der zum 01.01.2024 sechs neuen Mitgliedsländer (Ägypten, Äthiopien, Argentinien, Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate, Iran) sowie UN-Generalsekretär António Guterres, teilnahmen, wurde ein Ende des israelischen Krieges gegen den Gazastreifen und eine Einstellung der Feindseligkeiten auf beiden Seiten gefordert, um die sich rasch verschlechternde humanitäre Krise im Gazastreifen zu lindern.

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