24. Jahrgang | Nummer 12 | 7. Juni 2021

Der Hass

von Heinrich Mann

Nicht zum ersten Mal verpestet der Hass Deutschland. Den folgenden Artikel schrieb Heinrich Mann Anfang Mai 1933 an der Côte d’Azur auf Französisch. Er erschien am 17. Mai 1933 in der Pariser Wochenzeitung Marianne; die schärfsten Charakterisierungen der neuen deutschen Machthaber hatte die Redaktion gestrichen. Die deutsche Übersetzung der ursprünglichen Fassung brachte die in Paris und Amsterdam neu gegründete Exil-Zeitschrift Das Neue Tage-Buch am 19. August. Der Titel des Artikels wurde auch der des im Herbst in beiden Sprachen veröffentlichten ersten Essaybandes des Autors im Exil. Dessen Untertitel ‚Deutsche Zeitgeschichte‘ hielt fest, dass der Hass eine sich zivilisierende Gesellschaft auch vernichten kann.

Wolfgang Klein

Wir erdulden, was in Deutschland geschieht, und machen dabei die Wahrnehmung, dass wir vorher das Phänomen des Hasses kaum gekannt hatten. Unter normalen Verhältnissen begegnet ein Zivilisierter bei seinesgleichen nur einem gemäßigten, sehr relativen Hass; und auch er selbst, mit allem, was er vom Leben weiß, fühlt sich nur schwer imstande, zu hassen ohne Vorbehalt und Hemmung. Man hat wohl Feinde und ist sich darüber klar, kann aber nicht glauben, dass sie zu allem fähig wären. Die Freunde wären es doch auch nicht. Diese wie jene sind genau wie du, denn auch du liebst oder hassest sie nur bis hierher und nicht weiter. Dann dringt dein Skeptizismus wieder durch, und das ist zu begrüßen für dein leibliches wie auch für dein geistiges Wohl. Ein überspannter Hass wäre dir nicht gesund. Außerdem wäre er unwürdig deiner Intelligenz. Du vergleichst den Feind mit dem Freund und stellst fest, dass beide schließlich Menschen sind. Man muss manches hinter sich gelassen haben, bevor man sich entschlossen dem unbegrenzten Hass ergibt. Oder aber, man war überhaupt nicht vorgeschritten bis zur menschlichen Einsicht und zum Zweifel und war gar nicht richtig zivilisiert. Wirklich sind in der Partei, die Deutschland besiegt hat, zwei Menschenklassen deutlich zu unterscheiden. Das ist erstens die Bestie und dann der abtrünnige Zivilisierte, der sich Gewalt antun musste, um wieder Barbar zu werden. Anzunehmen ist, dass der Zweite im Hass zum mindesten so weit gehen wird wie der Erste, denn der muss sich selbst nicht erst beweisen, dass er eine Bestie ist.

Ein bekannter Fall ist der verkrachte junge Literat, der gegenwärtig Minister für Propaganda ist. Er war einst Schüler eines jüdischen Hochschullehrers (Friedrich Gundolf – W.K.), eines Kritikers von äußerster Vornehmheit und Schwerverständlichkeit, der hervorgegangen war aus dem geweihten Kreise des Dichters Stefan George. Aber die Verächter der gemeinen Menge haben sich manchmal in eine Volksbewegung gestürzt, und ob es nun ihre Verachtung für die Menge der Ungebildeten ist, sie hetzen sie dann mit besonderem Eifer gegen sich selbst auf. Es wäre so einfach gewesen, den Leuten ihre gewohnten Hoffnungen zu gönnen. Die waren allerdings marxistisch, aber wenigstens waren es Hoffnungen.

Was gab ihnen der junge Verkrachte als Ersatz? Hass, nur Hass. Kaum in der nationalsozialistischen Bewegung drin, beging er als Redner auch schon Ausschreitungen wie nur einer. Seinen israelitischen Lehrer hatte er vergessen und legte sich ins Zeug gegen den jüdischen Geist. Sein schriftstellerisches Missgeschick hatte er sich gemerkt und empfahl die besser begabten Schriftsteller der öffentlichen Rache. Alles Vornehme, schwer Zugängliche, das er einst gelernt hatte, machte ihm das Ideal der Massen widerwärtig; daher peitschte er seine Zuhörer auf, bis sie hochgingen bei dem Wort Marxist. Seine vergangenen Misserfolge und der Klumpfuß, mit dem er behaftet war, speisten unerschöpflich seinen Rachedurst, und er konnte ihn anderen eintrichtern. Darin bestand sein Talent.

Er atmete Hass, er verpestete damit die Luft, wohin immer er kam, die Luft der Säle, der Plätze, des ganzen Landes. Er zappelte sich nicht allein ab, alle Nazi-Agitatoren haben nichts weiter getan, bevor sie zur Macht kamen, und bleiben auch jetzt noch dabei. Aber er war mit am besten ausgestattet für den Hass. Allerdings hatte er mit seiner gesamten Vergangenheit aufräumen müssen, bis er so weit war, dass er alle seine Instinkte unbewacht loslassen konnte. Jahrelang jeden Tag die Köpfe der Juden, Intellektuellen und Marxisten zu fordern, war kein Kunststück für eine Gattung Mensch wie Göring, der näher an der Bestie ist, Bestie mit Mystik. Auch der große Hitler ist auf keinen Widerstand bei seinem Gewissen gestoßen, als er es übernahm, der Hohepriester des Hasses zu werden. Ihm war das selbstverständlich, man will doch rankommen.

Unsere Bewunderung gilt Goebbels, dem jungen, rührigen Propagandaminister, dem zierlichen, zarten Mann, der bewusst aus der Gesittung ausschied und sich darbrachte dem Aufstieg der Barbaren. Er hat dabei sogar Freudigkeit bekommen. Zu der Zeit, als er sich mit hoher Literatur befasste, hatte er sie bestimmt nicht. Jetzt fühlt er sich auf dem rechten Wege, da erfasst ihn wieder Jugendlust. Auch sein Stil hat sich verjüngt und etwas schmucklos Raues erlangt. Das wirkt volkstümlich. Da steht er denn angesichts der riesigen Menge, die auf ihn hört und mitgeht, reißt einen gleichfalls riesigen Mund auf und entlässt Ströme von Hass, kann aber auch lächeln. Denn Goebbels hat ein Lächeln, dessen Anmut, wie es scheint, unwiderstehlich ist, und das ihm die Herzen gewinnt.

Es ist zum Weinen, aber die Tatsache besteht, dass mit Hilfe von Umständen und Gelegenheiten, die in Jahrhunderten einmal so übertrieben vorkommen, eine gewisse Menschenart alle Fesseln der Gesittung abstreifen und sich beigesellen kann denen, die sie kaum gekannt hatten. Sonst bliebe das Schauspiel, das Deutschland bietet, unverständlich. Die am wenigsten Zivilisierten für sich allein werden niemals fertig werden mit einer ganzen, vorgeschrittenen geistigen Kultur und mit sozialen Gefügen, die aufgebaut waren auf dem Begriff der Menschenpflicht, für einander einzustehen. Dazu braucht es Überläufer.

Deutschland konnte allerdings das Hassland werden, weil es in Verwirrung geraten war durch die Niederlage, durch das blödsinnige Verbrechen der Inflation, durch Krise und Arbeitslosigkeit. Der Nationalstolz kommt auch hinzu, aber erst in letzter Linie. Dieser Stolz ist eng verknüpft mit dem Hass der Deutschen rechts gegen die Deutschen links, und ohne diesen Hass wäre zu bezweifeln, dass er, so wie jetzt, jedes Maß überschritten hätte. Auch die Republik gab sich mitunter nationalistisch, aber sie hatte doch begriffen, dass sie miterstreben musste, was alle ersehnten: Frieden und Verständigung in der Wirtschaft und im Geistigen. Die Völker waren gerade genug geprüft.

Manchmal widerstand ihr die Aufgabe, weil nämlich ihre Feinde sie verantwortlich machten für Verträge, die ihr doch selbst bitter wehtaten. Daher das Schwanken der Republik und ihr gelegentlicher Mangel an Festigkeit, verbunden mit Rückfällen in den schädlichsten Nationalismus. Guter Wille tat es nicht immer, wenn der Mut ausblieb. Ich weiß noch, wie tieftraurig (der französische Außenminister – W.K.) Briand war, als der Stahlhelm gerade wieder demonstriert hatte. Das war aber die Republik, noch auf der Höhe ihrer Macht! Mit ihrer Erlaubnis geschah dies, und gerade so ließ sie Hitler groß werden und immer mehr Sturmtruppen bilden. Halb hingeneigt nach jener Seite, wollte sie doch nichts davon wissen, dass sie fallen könnte.

Die Republikaner bewahrten sich den Glauben an die Gesetzlichkeit. Sie waren darin eingefahren, dachten übrigens streng bürgerlich. Daher erfassten sie auch niemals ganz, was Hass heißt. Wohl sahen sie ihn um sich her ansteigen, er wurde ihnen genug ins Gesicht gebrüllt, und schon floss Blut genug, das ihn bezeugte. Sie sagten nur immer: Das wird ihnen vergehen. Diese Nationalsozialisten werden einander aufreiben. Eines Tages können dann die Gemäßigsten von ihnen mitregieren und endlich Verantwortung lernen. Was wollen sie überhaupt? Wir tun doch schon, soviel irgend geht. Denn die Republikaner hielten den Antisemitismus für eine abgeleierte Walze, die nicht mehr zog, und in dem Antimarxismus erblickten sie in der Hauptsache etwas, das die Industrie viel Geld kostete. Nachweisbar hat fast niemand unter ihnen die Ereignisse vorausgesehen, nicht die Aufhebung der Gesetzlichkeit zuungunsten von Sozialisten, Israeliten, Intellektuellen der Linken, und auch nicht die Konzentrationslager, den Boykott der jüdischen Geschäfte und die anderen Taten der Willkür und Gewalt, die unmittelbar gefolgt sind auf die Machtergreifung durch die Feinde der Republik.

Sogar nach all dem erfassen die Republikaner, oder wer von ihnen noch da ist, wohl kaum den Sinn des Hasses, der sie trifft. Der Grund ist, dass sie die Gesittetsten waren und in ihren Reihen manche Geister von hohen Graden zählten, ja auch Herzen, die wahrhaft für das Volk schlugen. Die Republik hatte in einer besonders ungünstigen Lage den Versuch gemacht, dem Volk seine Lasten zu erleichtern, und dies im Sozialen wie auch nach außen. Unablässig am Leben bedroht, hatte sie dennoch, unter höchster Gefahr für sich selbst, ein System aufrechterhalten, das den Namen der Freiheit verdient. Mag es nur eine verhältnismäßige Freiheit gewesen sein, das freieste Regierungssystem war es immer noch, das Deutschland je gekannt hat.

Ihre Nachgiebigkeit wurde Schwäche, und es kam dahin, dass sie sich auslieferte, aufgab, zersetzte. Das erklärt noch nicht den Hass. Der wahre Hass hat in seiner unermesslichen Tiefe mit unseren Fehlern nichts zu tun, aber viel mit unseren Werten. Die Menschenart, die sich den Namen Nationalsozialist beilegte, hasste nicht die allzu wirkliche Republik, die sie vor sich hatte mit ihrer Feigheit und Fäulnis; ein Gräuel war ihr vielmehr das Ideal, das dennoch vertreten wurde von dieser Republik, so wenig sie ihm auch genügte. Der Marxismus, der jene Menschenart zum Schäumen brachte, war nichts Geringeres als der soziale Gedanke selbst. Mit jüdischem Geist aber meinte sie einfach den Geist. Der Aufstand der weniger Gesitteten gegen die Vernunft und ihre Verteidiger, daraus besteht diese Bewegung ganz, ihre Nahrung aber war ein Hass, so wüst, so schauerlich, dass er nicht einmal abrüsten konnte, nachdem der Feind unterlegen und vom Erdboden verschlungen war.

Treibt man den Hass zu weit, fällt er zurück auf den Hasser und hält ihn besessen an Leib und Seele. Jetzt könnten sie Ruhe haben. Alles ist vor ihnen zusammengeknickt, die Parteien haben sich in nichts aufgelöst oder sind gleichgeschaltet. Hilft nichts, sie fühlen, dass die Republik fortlebt in dem Gewissen vieler und dass der Terror schließlich nichts beweist. So bleibt ihnen nur übrig, weiter zu verfolgen, noch mehr Schrecken zu verbreiten und lebenslang zu hassen. Ihr Hass wendet sich zuletzt gegen sie selbst, sie sind die Opfer ihrer Komplexe, werden heimgesucht und sehen Verräter. Dem Lande droht Verrat! Ihnen droht er!

Betrachtet diese Sieger, diese paar Diktatoren, die für sich allein selbstherrlich verfügen über eine ganze Nation! Zu den öffentlichen Ämtern lassen sie niemand zu außer ihren Kreaturen und auch das Alleinrecht auf Propaganda haben sie sich angeeignet, Presse, Rundfunk, Film. Sie haben sich mit Vollmachten ausgestattet, wie kein Bismarck sie besaß. Für sie gilt nichts mehr, weder Verfassung noch Gesetze. Die Massen marschieren braungekleidet und mit erhobener Hand an ihnen vorbei. Sie führen sich selbst das Scheinbild einer großen Militärmacht vor und halten damit das Volk zum Narren. Es lässt sich ja so gern die altbekannte Knechtschaft aufreden für einen neuen Ruhm. Der Geburtstag des Führers ist gefeiert worden, als wäre er Sieger in hundert Schlachten. Nach menschlichem Ermessen müsste ihnen das genügen.

Keineswegs. Sobald sie unter sich sind, sinnen sie auf nichts als neue Zwangsmaßnahmen. An sichtbarer Macht bleibt ihnen nichts mehr zu unterdrücken: dann also die des Geistes brechen! Denn sie fürchten die alte geistige Überlieferung einer Nation, deren Wiedererhebung sie sich anmaßen. Gegen den Geist hetzen sie den Pöbel auf. Da ihr System nicht die Demokratie ist, herrscht bei ihnen der Pöbel. Sie sind um einen Fang gekommen, um die Einkerkerung der Denker und Schriftsteller, die gestern Deutschland waren und künftig von ihm übrig bleiben werden. Wir waren fortgegangen aus unserem Land, das ihres nie wirklich sein wird. Da verbrennen sie denn wenigstens Bücher, was nicht erblickt worden war seit der Inquisition. Und besteht der Scheiterhaufen auch besonders aus den Werken Lebender, schon fangen sie an, auch Klassiker daraufzuwerfen. Ist doch unsere klassische Literatur ein einziges Zeugnis der Menschlichkeit, zu ihrer eigenen Gesinnung der verhasste Gegensatz. Als erste sind Lessing und Heine den Flammen übergeben worden. Wagten sie es nur, sie würden auch Goethe verbrennen, den höchsten Genius Deutschlands. Sie weichen zurück, sie haben Furcht.

Wenn der Hass seine Grenzen erreicht hat und kein Genügen mehr findet, artet er in Furcht aus. Ich sehe sie in ihren Regierungspalästen, bei ihren Beratungen, wo sie keinen uneigennützigen, dem allgemeinen Wohl dienenden Plan jemals auch nur in Betracht ziehen. Noch mehr knechten, damit geben sie sich ab. Terror und wieder Terror, nur darin sind sie sich einig. Da er seinem Wahlvaterland so oft das Hängen versprochen hat, das bis zu ihm hier unbekannt war, zeichnet Hitler, die Künstlernatur in der Bande, Galgen hin. Sein junger, rühriger Propagandaminister aber gibt ihm an, wo die Apparate aufgestellt werden sollen, um den Hinrichtungsfilm zu drehen. So ist der Hass auf seinem Gipfel. Zu erreichen bleibt ihm nichts mehr. Jetzt merkt er, dass es drüben steil abwärtsgeht, — und aus Hass wird Furcht.