22. Jahrgang | Nummer 20 | 30. September 2019

Bemerkungen

„… ein paar Fetzen Poesie“. Für Günter Kunert

„Denn Bleiben ist nirgends“, sagt Rilke. Das trifft auch auf Günter Kunert zu, der am 21. September endgültig ging. Der Dichter, ein ewig Umhergetriebener, nicht immer aus eigenem Wollen, aber immer auf der Suche nach dem Ort, an dem Poesie als willkommen geheißen gedeihen kann. Selbst die Ewigkeit kann er sich nur „als fortgesetzte Bewegung“ vorstellen. Nein, nicht die banale hegelsche Geschichtsformel des Weges vom Niederen zum Höheren – der Dichter weiß um das Künstliche dieses Konstruktes. Er hat die Niedrigkeiten der Höhenflüge zu spüren bekommen. Immer auf der Suche nach diesem Land Utopia fürchtet er um das Schicksal der Menschheit, die aus dem Reptilien-Dschungel ihrer selbst verursachten Bedrohungen nicht herausfindet, fürchtet „das Verschwinden / in einem ihrer akuten Rachen“.
Geradezu manisch der Zwang zum Schreiben: „IM NETZ DES GEDICHTES / findet sich manchmal etwas Wirklichkeit …“ Pessimistisch bezeichnet er das uns Hinterlassene, die im Gedicht festgehaltene Erfahrung als „ein gänzlich verwelktes Blatt“. Nein Kunert, hier widerspreche ich Ihnen deutlich: Das „kleine aber“, das Sie immer wieder den von den Herren des Tages verkündeten ewigen Gewissheiten entgegenhalten, das wird bleiben: „Sich stemmen gegen den öligen Sog / der Allgemeinheit / die ihr Präfix tarnt: Deckblatt / aller großen Verbrechen […]“. Denn: „Das Gedicht bloß gewahrt / was hinter den Horizionten verschwindet / etwas wie wahres Lieben und Sterben / bewegt von letzter Angst / in einer vollkommenen / Endgültigkeit.“ Verwelken wird dies mitnichten.

Wolfgang Brauer

Ökologie I – eine Liste

1   1995: Berlin (COP 1)
2   1996: Genf (COP 2)
3   1997: Kyoto (COP 3)
4   1998: Buenos Aires (COP 4)
5   1999: Bonn (COP 5)
6   2000/2001: Den Haag (COP 6) und Bonn (COP 6-2)
7   2001: Marrakesch (COP 7)
8   2002: Neu-Delhi (COP 8)
9   2003: Mailand (COP 9)
10   2004: Buenos Aires (COP 10)
11   2005: Montreal (COP 11/CMP 1)
12   2006: Nairobi (COP 12/CMP 2)
13   2007: Bali (COP 13/CMP 3)
14   2008: Posen (COP 14/CMP 4)
15   2009: Kopenhagen (COP 15/CMP 5)
16   2010: Cancún (COP 16/CMP 6)
17   2011: Durban (COP 17/CMP 7)
18   2012: Doha (COP 18/CMP 8)
19   2013: Warschau (COP 19/CMP 9)
20   2014: Lima (COP 20/CMP 10)
21   2015: Paris (COP 21/CMP 11)
22   2016: Marrakesch (COP 22/CMP 12)
23   2017: Bonn (COP 23/CMP 13)
24   2018: Katowice (COP 24/CMP 14)
25   2019: Santiago de Chile (COP 25/CMP 15)

Was das ist? Das ist die Auflistung der Weltklimakonferenzen der letzten 25 Jahre. Mit einer Unwägbarkeit: Santiago de Chile findet erst im Dezember statt. Wenn sie stattfindet. Aber eigentlich ist das auch egal. Warum? Einfach mal Augen auf beim nächsten Waldspaziergang …

Eine Leserzuschrift

Medien-Mosaik

Glücklicherweise hat sich die Gesellschaft in vielen Teilen der Welt gewandelt, so dass heute offen über den Missbrauch schutzbefohlener Kinder und Jugendlicher in Erziehungseinrichtungen und gerade in der katholischen Kirche gesprochen wird. Größeren Eindruck als TV-Reportagen können Spielfilme machen. Der Franzose François Ozon hat den realen Fall eines Priesters in Lyon in seinem Film „Gelobt sei Gott“ aufgegriffen. Als der Spielfilm in diesem Jahr auf der Berlinale lief und mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, hatte der betroffene Priester wegen Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte geklagt, aber im Frühjahr wurde der Film gerichtlich auch zur Aufführung in Frankreich freigegeben.
Ozon hat sich dem Thema zurückhaltend, ja spröde genähert, als hätte er Scheu, seinen Bildern Sinnlichkeit zu geben. Das macht es dem Zuschauer nicht leicht. In der ersten Stunde reihen sich Szenen aneinander, in denen hauptsächlich am Telefon geredet wird oder e-Mails verlesen werden. Erst dann nimmt der Film Fahrt auf, und es gelingt, an Einzelschicksalen Anteil zu nehmen.
Gelobt sei Gott – Grâce à dieu, Regie: François Ozon, 137 min., Pandora Filmverleih, seit 26.9. in ausgewählten Kinos.

*

Spielerisch Wissen vermitteln – das war der Anspruch der DDR-Kinderzeitschriften, und am unaufdringlichsten gelang das dem MOSAIK. Das ist einer der Gründe dafür, dass das Comic-Magazin die Umbrüche gut überstanden hat und heute die erfolgreichste in Deutschland hergestellte Jugendzeitschrift ist – mit begeisterten Lesern zwischen 5 und 85! Die Oktober-Ausgabe besteht aus zwei Heften. Neben „Piratengold“, der Fortsetzung der Abrafaxe-Abenteuer aus der Hansezeit, erscheint das Sonderheft „Die Schokoladen-Expedition“. Woher kommt Schokolade und wie entsteht sie? Zum Erkenntnisgewinn reisen die Abrafaxe zur Côte d´Ivoire, wie das Land, das wir noch oft „Elfenbeinküste“ nennen, offiziell heißt. Hier stellen sie fest, unter welch komplizierten Bedingungen Kakao angebaut wird. Ausbeuter nutzen Kinderarbeit, nicht alle Kinder können zur Schule gehen, und Urwälder werden für landwirtschaftliche Nutzung abgeholzt – kurzum: brennende Probleme unserer Zeit werden hier behandelt. Autor Jens U. Schubert hat im Gegensatz zu seiner zerfasernden Hanse-Story eine übersichtliche kleine Geschichte geschaffen, und Jens Fischer und Hai Hoang Luu haben gewohnt schwungvoll gezeichnet. Unterstützt hat das Heft übrigens das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft.
MOSAIK Nr. 526 „Piratengold“ mit Beilageheft „Die Schokoladen-Expedition“, 2,95 Euro, seit 25.9. im Handel.

bebe

Erinnerung

von Renate Hoffmann

Remember, remember,
der Reim auf September.

Bald wird es herbsteln,
schon ist’s zu merksteln.

Die Äpfel fallen
und Nebel wallen.

Bunte Blätter,
oft Regenwetter.

Leichte Wehmut mischt sich drein,
ach, könnt’ es noch mal Sommer sein.

Mit Freibadbaden,
nackten Waden.
Sonnenbraun am ganzen Leibe,
dass kein blasses Fleckchen bleibe.
Grenzenlose Reiselüste,
mal die Berge, mal die Küste.
Auf dem frischen Alpenrasen
sah man frohe Kühe grasen.
Menschen sich am Strande tummeln,
um den Bernstein aufzusummeln.

Aber wie es nun auch sei,
die Sommertage sind vorbei.

Doch zum Trost und auch zum Glücke,
im nächsten Jahr kehr’n sie zurücke.

Ökologie II – eine Zahl

834. Exakt 834 Gramm wogen die Werbeprospekte, die ich heute im Briefkasten hatte. Nicht auf die Waage legte ich die entgeltfreie Wochenzeitung, die de facto auch nur Werbezwecken dient. 834 Gramm. In meinem Hochhaus leben derzeit 39 Mietparteien. Die restlichen drei Briefkästen sind verstopft, da geht nichts mehr rein. Summa summarum wurden heute allein in meinem Haus 32,53 Kilogramm bunt bedrucktes Papier in die Kästen gestopft. Nur Werbeprospekte … Das landet alles in der Tonne. Wenn es gut geht, in der Recycling-Tonne. Die Verursacher des Tages? Netto, K+K Schuh-Center, BOSS Möbel, Mäc-Geiz, LIDL, ROSSMANN, MEDIMAX, Travel FREE, Netto, ROLLER, HELLWEG, Pfennigpfeiffer, ALDI, SIEMES Schuh Center, real, kik, seatsandsofas, PENNY, Holz Possling, REWE, Dänisches Bettenlager, Thomas Phillipps, Globus Baumarkt, Müller, POCO, EINKAUFAKTUELL. Alles ehrenwerte Firmen. Morgen ist erst einmal Ruhe. Am Sonntag kommt die nächste Fuhre. Von anderen.

G. Hayn

Film ab

Die folgende Rezension sollte in keiner Weise auf Stephen Kings 1500-Seiten-Roman „Es“ bezogen werden, der 1986 erstmals auf Deutsch erschien und der den Besprecher seinerzeit verführt hat, von seinen knappen DDR-Dienstreise-Devisen etwas abzuknapsen und überdies zu riskieren, beim illegalen Einführen des Buches in die DDR erwischt zu werden. Die Folgen davon wären allerdings vermutlich weit marginaler ausgefallen, als bei einer Dabeihabe von Stefan Heyms „Schwarzenberg“. Doch selbst diese konnte damals gelingen … Hier geht es nun um den Streifen „ES Kapitel 2“. Meine Rezension des Vorläufers vor zwei Jahren endete mit der Quaestio: „Man fragt sich […] beklommen, was da eigentlich noch kommen soll […].“
Jetzt weiß man es – nichts!
Den Machern des so ermüdenden, langweiligen, ohne irgendeine originelle neue Idee präsentierten Abklatsches des zu Recht gelobten ersten Teils bleibt nur zu wünschen, dass Horrorclown Pennywise nun wirklich tot ist und nicht auch noch letale Rache an den Schöpfern dieses cineastischen Missgriffs nimmt.

Clemens Fischer

„ES Kapitel 2“ – Regie: Andrés Muschietti, derzeit in den Kinos.

Wirsing

Im RBB-Text konnte man kürzlich diese Meldung lesen: „Wegen des Verdachts des Bandendiebstahls sind in Berlin mehrere Wohnungen durchsucht worden.“ Das wird in Berlin immer verrückter. Es gibt bereits täglich Dutzende Taschen-, Auto- und Fahrraddiebstähle. Nun werden ganze Banden gestohlen! Wie mag das vor sich gehen? Vielleicht mit dem Lasso? Gibt es Hehler, die gestohlene Banden verstecken? Und vor allem: Kann man dieses lästige Gesindel überhaupt zu Geld machen?

Fabian Ärmel

Blätter aktuell

Über Jahrzehnte orientierten sich Deutschland und Europa auf die außenpolitische Allianz mit den USA. Doch unter Donald Trump schwindet die vielbeschworene westliche Wertegemeinschaft zusehends. Damit steht die Europäische Union vor einer Entscheidung, argumentiert der Politikwissenschaftler Herfried Münkler: Entweder hält sie am transatlantischen Bündnis fest oder sie entwickelt eine eigenständige europäische Sicherheitsordnung – mit Russland als strategischem Partner.
Dass der US-Fernsehsender Fox News konservativen Tendenz-Journalismus betreibt, ist seit langem bekannt. Doch nun entwickelt er sich zu einem politischen Akteur eigener Art. Der Kommunikationswissenschaftler Klaus Kamps beschreibt die auf Donald Trump ausgerichtete Personalpolitik des Senders und zeigt, wie der Präsident die Agenda von Fox News aufgreift. Fox befördert damit die zunehmende Radikalisierung der US-Konservativen.
Gesteigerte Exportmöglichkeiten, besserer Umweltschutz und mehr Frieden auf der Welt – all dies verheißt der digitale Kapitalismus. Jedoch handelt es sich dabei um leere Versprechungen, kritisiert die Politikwissenschaftlerin Birgit Mahnkopf. Tatsächlich droht die Digitalisierung den globalen Süden weiter abzuhängen, während im Norden prekäre Arbeitsbedingungen und Massenentlassungen ins Haus stehen.
Dazu weitere Beiträge, unter anderem: „Kanada: Die Entzauberung des Justin Trudeau“, „Armenien: Der mühsame Weg in die Demokratie“ und „Australien rechtsaußen“.

am

Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Oktober 2019, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

„Bis heute ranken sich um den Abschuss von Flug MH17 über dem Donbass viele Legenden“, beginnt Thomas Röper. „Das Flugzeug der malaysischen Airline wurde im Juli 2014 abgeschossen, und für die westlichen Medien war die Sache schon nach wenigen Stunden klar: Die Russen waren es! Ganz so einfach ist es freilich nicht […].“
Thomas Röper: Der Sündenbock, rubikon.news, 13.08.2019. Zum Volltext hier klicken.

*

Zur Krise linker Parteien meint der Soziologe und Direktor emeritus des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Wolfgang Steeck, „dass keiner traditionellen Partei mehr so etwas wie gesellschaftliche Gestaltungskraft zugetraut oder gar abverlangt wird. Der Unterschied ist, dass andere damit besser umgehen können als die Sozialdemokratie oder die Parteien links von ihr. Nicht-linke, vormals ‚bürgerliche‘ Parteien können Politik nach Sponti-Manier betreiben, etwa wie Merkel es meisterhaft schafft, demoskopiegetriebenen Opportunismus als persönlichen Bildungsroman inszenieren zu lassen. Da ist jeden Tag etwas los, über das die Hofberichterstattung atemlos berichten kann.“
Joanna Itzek: „Realistischer Antikapitalismus statt moralische Umerziehungsversuche“ (Interview mit Wolfgang Streeck), ipg-journal.de, 06.08.2019. Zum Volltext hier klicken.

*

„Schusswaffen“, so zitiert Adrian Daub die US-Soziologin Jennifer Carlson zum Phänomen des nachgerade pathologischen Waffenfetischismus in den USA, „gestatten […] weißen Männern, sich angesichts abnehmender gesellschaftlicher Bedeutung ‚als relevant, als nützliche Beschützer‘ zu inszenieren (ihrer Familie, der Allgemeinheit, aber auch ihrer selbst) […]. Statistische Wahrscheinlichkeiten aber widersprechen dieser Inszenierung […]: Verheiratete Männer besitzen demnach überdurchschnittlich häufig Schusswaffen, werden aber im Gegensatz zu alleinstehenden Männern unterdurchschnittlich häufig Opfer eines Verbrechens.“
Adrian Daub: Waffen in den USA: Munitioniert, zeit.de, 06.08.2019. Zum Volltext hier klicken.

*

„Es ist ein Paradox, dass auf dem Breiten Weg in Magdeburg wohl bis heute kaum jemand sagen könnte, was das ist, das Magdeburger Recht“, so Annett Gröschner, „aber in Litauen, Ungarn, der Ukraine oder Belarus fast jeder und jede es kennt, weil es eng mit den Stadtgründungen und der kommunalen Selbstverwaltung dort verbunden ist und als Beleg dafür gilt, dass die Städte Osteuropas seit Jahrhunderten Teil von Europa sind. Denkmäler in Kiew, Minsk oder Jurbakas künden davon.“
Annett Gröschner: Der Baustein des modernen Europas, zeit.de, 04.09.2019. Zum Volltext hier klicken.

Letzte Meldung

Bevor der allgemeine Taumel zum 30. Jahrestag der Schabowskischen Maueröffnung mit den unvermeidlichen Keywords von Freiheitswunsch über Freiheitswille und Freiheitsbewegung bis zu Freiheitskampf wahrscheinlich tsunamiartig über das Land hereinbricht, nutzte der Ost-Journalist Jochen-Martin Gutsch die Gunst der Stunde noch rasch zu einem Geständnis: „Sicher, wir Ostdeutschen dachten damals an die Freiheit. Aber wir dachten auch viel ans Einkaufen. An Marlboro, Jeans, Cornetto Nuss und den Golf GTI.“ Und das führte ihn zu einer nachgerade blasphemischen Vermutung: „Hätte man im Westen nicht so schön einkaufen können – vielleicht würde die Mauer heute noch stehen.“
Dieses Maß an Ketzerei jedoch noch getoppt hat Daniela Dahn: „Die Einheit war eine feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen. Für die Sieger war das schönste an der friedlichen Revolution, dass sie nichts revolutionierte. Das Neue bestand darin, den alten Spielregeln beizutreten.“

Alfons Markuske