von Herbert Bertsch
„Hallo erst mal! Ich weiß gar nicht, ob Sie’s schon wussten“ – die Einleitung zum Auftritt des Kabarettisten Rüdiger Hoffmann sei hier entlehnt, um auf einen Beitrag abzuheben, der vor rund zwei Jahren (Nr. 22/2012) an dieser Stelle erschien: „50 Jahre Kuba-Krise – Robert McNamara: ‚Es war Glück’“. Anlass war ein Disput im Forum. Ein Teilnehmer hatte postuliert, dass in wirklichen Krisenfällen „die Spitzenpolitiker der beiden Weltmächte doch recht vorsichtig agierten, wenn es einmal brenzlich wurde“.
Dem hatte ich widersprochen und war dabei sehr sicher, weil mir am 15. Mai 1985, also fast dreißig Jahre zuvor, McNamara, einer der Hauptakteure, bei einem Gespräch in Genf bestätigt hatte: „Wir standen so nah am nuklearen Abgrund. Wir haben den Atomkrieg nicht durch kluges Management verhindert; wir hatten Glück“. So sein Statement dann auch in dem Dokumentarfilm „Am Rande des Atomkrieges“, der im Oktober 2012 vom ZDF ausgestrahlt wurde, was mir die Möglichkeit eröffnete, im Blättchen meine damalige Quelle zu benennen.
Warum die Reminiszenz? Damals war es eher ein Beitrag für die Rubrik „Wie war es wirklich?“. Heute aber geht es um die erneut aktuelle Grundfrage internationaler Politik: Wer und was garantiert, dass die derzeitig vornehmlich noch verbale Hochrüstung nicht nur massiv in die materielle umschlägt, sondern darüber hinaus, dass wir im konkreten Fall dann wieder „Glück haben“ bemühen müssten, um dem „Ende der Menschheit“ zu entgehen. Ist es bei dieser Aussicht so eine richtige „Lust, zu leben“?
Es wird hoffentlich doch niemand vermessen glauben, durch Besitz eigener Überlegenheit ausschließen zu können, der Widerpart würde im Existenzkampf darauf verzichten, seinerseits ins nächst höhere Regal zu greifen und jene Waffen einzusetzen, die zwar auch ihn tödlich verwunden, den Anderen aber auch. Ist unter diesen Auspizien eine derzeit zur Schau getragene „Über-Stärke“, auch im asymmetrischen Konflikt, gegenüber dem möglichen Gegner dann das geeignete Mittel, ihn zum Aufgeben seiner Grundposition zu veranlassen? Und wenn das Brambardisieren nur als Drohkulisse gedacht – wer garantiert den forschen Meinungsmachern, dass der Andere den Ernstfall für sich ausschließen kann – und will? Letzteres möglicherweise auch eigensüchtig, um ein Alibi für finstere Pläne zu haben, aber auch, weil man sich real oder vermeintlich in aussichtsloser Lage sieht. Und damit stehen wir wieder mal fragend und klagend vor dem Dilemma: Wer garantiert, dass wir gegenwärtig und in naher Zukunft „Glück haben“ werden (wie gehabt!) und uns deshalb selbst unverantwortlich verhalten dürfen, auch mit der nicht auszuschließenden Folge, wieder mal in eine Welt-Krise zu taumeln, um Jahrzehnte später dann sagen zu müssen/ entschuldigend sagen zu können, das habe niemand gewollt und man habe es auch nicht ahnen können. Haben wir eine solche Grundsituation, die solche düsteren Gedanken rechtfertigt? Ja, und die Bedingungen dafür sind derzeit in mancher Hinsicht noch ungünstiger als während des Kalten Krieges.
Damals standen sich materiell hochgerüstete Machtblöcke gegenüber, deren Weltmachtziele ideologisch entgegengesetzt determiniert waren. Diese Konstellation ist weg. Die gegenwärtige ist gekennzeichnet durch imperiale Ambitionen von Staaten oder Staatenbünden auf prinzipiell gleicher sozial-ökonomischer Basis, wenn auch in unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Alle gegenwärtigen Akteure spielen, wenn auch unterschiedlich geschickt, in dem Stück, das da Kapitalismus mit allen seinen Parametern heißt. Es geht nicht mehr um den Wettbewerb von entgegengesetzten Weltanschauungen, Ideologien, „Überbau(t)en“, weitgehend unabhängig davon, wie konsequent das Leben nach Theorien sich da oder dort seinerzeit verwirklichte oder auch nicht ganz so ernst genommen wurde, wie verkündet. Der Kapitalismus hat gewonnen – ob von den Siegern so gewollt oder nicht. Und produziert aktuell neben schwachem Wachstum solche Grundwidersprüche per System, dass wir auf Glück vertrauen müssen, dass uns nicht die ganze Chose um die Ohren fliegt, einschließlich der Ohren.
Die möglicherweise ernstgemeint gewesene Hoffnung unseres Präsidenten bei seiner Feierrede in Leipzig, nach 1990 sei innerer und äußerer Friede auf Dauer zu erwarten gewesen, ist eben nicht erfüllt worden. Erstaunlich, dass jemand mit seinem Weit- und Weltblick so was vermutete. Offenbar kann auch weltumspannender Kapitalismus das nicht leisten. (Den Spezialfall China können wir hier ignorieren; jedenfalls geht nach offizieller Meinung von da keine Gefahr aus, jedenfalls hören wir nichts darüber.)
Mit Russland schien es mehrere Jahre gut zu gehen – jetzt nicht. Präsident Putin dafür aus dem Kreis der Führer kapitalistischer Staaten auszuschließen, kann man erwägen, würde aber nichts an der sozialökonomischen Basis des Landes ändern. Da hilft auch nicht, wenn unsere Bundeskanzlerin wider besseres Wissen versucht, das „nicht hinnehmbare Verhalten“ Russlands als „vergangenes Jahrhundert“ zu deklassieren. Was bewirkt diese Platzanweisung, wie auch die des amerikanischen Präsidenten, Russland sei ab jetzt nur eine Regionalmacht. Das so bescholtene Russland habe nur eine Option, um aus der Schmuddelecke herauszudürfen: die Einordnung in unsere Vorstellung vom Leben in dieser Welt, Werteordnung geheißen. Der Andere muss diese Option annehmen. Aber er ist doch ein Anderer! Wäre dem „unhaltbaren Zustand“ da nicht besser mit der Weltsicht eines „Nathan“ beizukommen? Und das war nicht Produkt des vorigen Jahrhunderts, sondern zu einer Zeit propagiert, da der Kapitalismus erst aus dem Ei kroch, aber schon mit diagnostiziertem Geburtsmangel der Intoleranz.
Nehmen wir die heutige Praxis in Teilen der Welt zur Kenntnis, wohin Russland keinen Zugriff historisch und gegenwärtig hatte oder hat: Da wird wie im Mittelalter gemordet, freilich zeitgleich auch mit unbemannten Drohnen. Jedenfalls ist die Abqualifizierung auch keine Alternative dagegen, auf Glück setzen zu müssen, um kritische Lagen zu bewältigen. (Apropos „kritische Lage“ – wie heißt NATO ausgeschrieben? Vielleicht findet sich dabei eher etwas, was dem „vorigen Jahrhundert“ entspringt und entsprach.)
Mit hemmungslosem Optimismus könnte man irrend hoffen, die Staatsleute der Gegenwart haben mit der Weisheit dieses Jahrhunderts und modernen Kommunikationsmitteln funktionierende Systeme entwickelt, um in der konkreten Gefahrensituation das Krisen-Management auf höchster Ebene erfolgreich zu betreiben. Gewissheit darüber wäre schon was. Nur wer kontrolliert weltweit mit Regulierungsbefugnis, und geht das überhaupt vom realen Zustand aus gesehen?
Im neuen Jahrhundert ist zudem allerlei hinzugekommen: Die Gefährdung durch die Aktion von Einzelnen und Gruppen, die keine Hemmschwelle und keine Angst vor Sanktionen haben, weder gesellschaftlich noch individuell. Aber auch das Verhalten von Staaten oder /und Bündnissystemen gemäß der Maxime: Wer kann und hat, darf; dies Verhalten wird ja nur dadurch ermöglicht, dass es diese Regulierungsbehörde nicht gibt oder dass sie das nicht leistet, was in Euphorie erhofft.
Da tut man zehn Jahre lang so, als ginge eine atomare Kriegsgefahr vor allem von Iran aus, auch wenn dieser souveräne Staat keine solchen Kapazitäten hat. Es gibt nachweislich wirklich atomar gerüstete Staaten, über die und mit denen nicht darüber verhandelt wird, und dies nicht nur, weil die das nicht zulassen. Es gibt eben auch strategische Weltmachtinteressen, zu deren Nutzen man den Besitz solcher Waffen bei manchen offensiv duldet, auch liefert, bei anderen den gleichen Sachverhalt aber zur Weltgefahr erklärt.
Und dies alles vollzieht sich auf der gemeinsamen Gesellschaftsgrundlage des Kapitalismus, wie der Konflikt mit Russland eben auch. Interessante Frage dabei, wer ist eigentlich Russlands Kontrahent, und warum. Vielleicht hat Russland den Turbo beim Kapitalismus-Nachhol-Projekt eingeschaltet, vielleicht wird der dort viel moderner, weil Kräfte freigesetzt sind, die das innovativer angehen, als das „alte Europa“. Aber das Grundprinzip Kapitalismus wird dort praktiziert, auch wenn Putin-kritische Oligarchen dank deutscher Intervention ihre Geschäfte jetzt aus der Schweiz betreiben. So geht erfolgreiche deutsche Entwicklungshilfe auch, zunächst für Gorbatschow und Jelzin, dann für die Oligarchen in und um Russland herum. Kapitalismus nimmt es mit den Grenzen da nicht so genau – es sei denn, das kapitalistisch revolutionierte Russland tut etwas, was die Subordination stört, mit der Deutschland reüssierte. Nun haben wir halt die Gegenforderung zu begleichen – zu recht aus Dankbarkeit, sagen uns unsere Spitzenpolitiker; aber billig wird’s nicht.
Am 29. November – pars pro toto – konnte man in dem Leitmedium Die Welt bei der Aufzählung der Putin-Vergehen lesen, Russland veranstalte „rings um das NATO-Gebiet“ – gemeint war Baltikum – „provokante Manöver“. Die Überschrift dazu: „Putin muss Grenzen seines Abenteurertums spüren“. Falls dabei Gesprächsbereitschaft, dann „doch nur aus einer Position der Stärke heraus“. Der Kommentar Nr. 12 ist schon ein Schlachtplan dafür: „Der Westen sollte meiner Meinung nach eine härtere Gangart gegen Russland fahren und auch NATO-Truppen in die Ostukraine schicken, genauso wie das die Aggressoren aus Russland machen; spätestens nach dem Abschuss der MH 17 hätte die NATO Schluss mit dem Zauber machen müssen und etwas gegen diese Massenmörder machen sollen, nachdem schon Demonstranten und Polizisten erschossen wurden und in Odessa Demonstranten von gewaltbereiten Russen geschlachtet wurden“.
Wie würden sich wohl der Artikelautor und dieser Kommentator verhalten, wenn sie als Militär vor die Situation gestellt würden, rasch unterscheiden zu müssen, ob „Die Russen (wirklich) kommen“ oder ob ein technischer Irrtum der Meldung zugrunde liegt?
Wäre es nicht hohe Zeit für Deeskalation, zum Abbau von Feindbildern, wie im vergangenen Jahrhundert von Leuten „hüben“ und „drüben“ ab der 1970er Jahre mit Erfolg praktiziert, wenn auch zunächst mit geringster Aussicht auf Erfolg. Aber es wurde gemacht. Damals war auch Karsten Voigt dabei, wenn auch nicht immer auf der Vorderbühne wie Mitautor Bahr, aber doch wirkungsvoll. Es ist auch heute hilfreich, wenn er hier die Auffassung der deutschen Entscheidungsträger, auch in ihrer Differenzierung, dargelegt hat. Nach meiner Erfahrung ist die Bestandsaufnahme vonnöten, um Veränderungen herbeizuführen, die unabdingbar sind. Die nächste Stufe wäre nach meiner Erfahrung die verbale Abrüstung unter Beachtung von Stimmungen und wie sie „gemacht“ werden.
Und wie gehen wir mit dem russischen Standpunkt, der praktischen Politik des Kreml um? Zunächst ebenso zur Kenntnis nehmen und, von mir aus auch mit Widerwillen, immer neu ausloten, wo gemeinsame Interessen, nämlich die der Menschheit zum Überleben in menschenwürdigen Umständen, als Ausgangsbasis erneuerter Kooperation gefunden werden können.
So jedenfalls begann damals der Abbau der Verteufelung, behutsam, mit Rückfällen. Strauß entschuldigte sich bei Honecker, einen natürlichen Tod an der Grenze Mord genannt zu haben; sie konnten sich danach gut leiden. Kohl nahm seinen Vergleich von Gorbatschow mit Goebbels zurück, und der davon Entlastete wurde Fan von „meinem Freund Helmut“; letzteres beruhte offenbar aber nicht auf Gegenseitigkeit.
Fangen wir doch da an, wo wir was machen können, nicht mit der Anforderung an den Anderen. Dann hat der Widerpart auch weniger Angriffsfläche, muss auch nicht eigene Fehler, die ihm im eigenen Machtbereich zuwider sind, nach außen verteidigen. Freilich wird das nicht ohne Wandlungen des Ego zu machen sein. Das Blättchen (12/2013) ist mir ergiebige Fundgrube für dies treffliche Zitat von Marcuse:
„Weshalb haben Dichter und Denker durch die Zeiten so wenig politische Erfolge gehabt? Weil die Welt schlecht ist? Könnte es nicht sein, dass die, welche man die Geistigen nennt, auch die, die es wirklich sind, es sich immer zu leicht gemacht haben? Dass sie immer dachten, es sei genug, das Ideal zu verkünden, und nie darüber nachdachten, wie weit und wie es durchführbar sei?“
Gibt es die Chance, dass sich da was verändert? Im Spiegel 49/2014 gibt es diese Zuschrift zu einen Beitrag der Vornummer, der etwa dem entsprach, was ich mit „bei uns anfangen“ meine: „Eine hervorragende Recherche der Vorgeschichte der Krise. Bleibt nur die Frage, wo sie jene Redakteure Ihres Blattes versteckt haben, die in den letzten Monaten so eindringlich über Moskau als einzigartigen Ort des Bösen berichtet haben, während NATO und EU doch altruistisch für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen.“
Da könnte man bei Wohlwünschen eine leichte Tendenz zur Wandlung spüren. Der Vorschlag hat was: Versteckt die Pharisäer und anderen Schreibtischtäter, die zum Thema machen, was für sie angesagt ist, was aber selten dem Sachverhalt zum Vorteil gereicht.
Vielleicht versuchen wir im Blättchen – noch besser als bisher – nicht nur materialreich Sachverhalte und Standpunkte zu beschreiben und zu bewerten, sondern als unseren Beitrag zum Zeitgeschehen herauszukriegen, was in diesem Geflecht deutsche Interessen sind und/oder um des inneren und äußeren Friedens willen sein sollten. Trotz, oder besser gerade in Ansehung dessen, dass das nationale Element nicht mehr das vergangener Jahrhunderte ist. Und auch, dass schnödes Eigeninteresse, gern zu Lobbygruppen geklumpt, mit und ohne „Deutschsein“ in unserem Alltag der Gesellschaft ziemlich vorn rangiert, aber doch wohl am gleichen Zug.
Schlagwörter: Deeskalation, Deutschland, Herbert Bertsch, kalter Krieg, Kapitalismus, Kriegsgefahr, Politik, Russland, USA