17. Jahrgang | Nummer 19 | 15. September 2014

Symboliken

von Erhard Crome

Wäre es nach Ukraine-Präsident Poroschenko gegangen, hätte die Kanzlerin am 24. August Kiew mit ihrem Besuch beglückt, dem Tag der ukrainischen Unabhängigkeit von Russland. Aber schon im alten Rom bestimmte nicht der Prokurator einer Provinz, wann der Kaiser kommt. So kam Angela Merkel am 23. August. Sie hat eine Finanzhilfe in Höhe von 25 Millionen Euro für Unterkünfte zugesagt, die für Kriegsflüchtlinge aus der Ostukraine eingerichtet werden sollen. Darüber hinaus gibt es eine Kreditbürgschaft in Höhe von 500 Millionen Euro, was weder ein Kredit noch eine tatsächliche Finanzhilfe ist, jedenfalls kein Geld, das real von hier nach dort fließt. Darüber hinaus war sie freundlich zu dem neuen Vasallen, kein Wort, dass die ukrainische Armee die eigene Bevölkerung mit Bomben und Granaten belegt und Wohngebiete zusammenschießt, dagegen „Verständnis“ für das militärische Vorgehen der ukrainischen Armee, nicht das böse Wort „Krieg“, sondern die Rede ist von „militärischen Auseinandersetzungen, die heute leider notwendig sind“.
Die Zeitung Die Welt meinte, Merkel schätze „überbordende Symbolik“ nicht. Dennoch der Hinweis der Zeitung, die Reise habe am 23. August „am Tag genau 75 Jahre nach der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes“ stattgefunden. Wenn dies mit Symbolik zu tun haben soll, was meint sie? Dass Hitler, als er 1939 Deutschlands Einflussbereich im Osten erweitern wollte, immerhin noch mit Russland, damals der Sowjetunion, reden musste, während Merkel das heute nicht mehr muss?
Es ist reine Propaganda, wenn westliche Politiker und Journalisten heute behaupten, der Westen würde lediglich „seine Werte“ ausdehnen, während der böse Putin in einer Manier des 19. Jahrhunderts seinen Einfluss territorial ausdehnen wollen würde. Selbstverständlich stellen die NATO und die Europäische Union Raumordnungen dar. Erstere wird von den USA, die zweite von Deutschland dominiert. Beide wurden nach Osten, schließlich bis an die Grenze Russlands ausgedehnt. Dabei gibt es Kooperation und Konkurrenz. Aus Sicht der USA ist angesichts des Zerfalls der Sowjetunion eine unabhängige Ukraine Kernpunkt einer geopolitischen Neuordnung im Osten Europas. Zbigniew Brzeziński, noch immer prominenter Vordenker US-amerikanischer Globalstrategie, hob schon vor über einem Jahrzehnt hervor, eine unabhängige Ukraine sei „geopolitischer Dreh- und Angelpunkt“, damit Russland in einer geschwächten Position verbleibt. Das müsse fester Bestandteil einer umfassenden Strategie der USA und des Westens in Eurasien sein.
Geopolitisch wird die Ukraine allerdings an die EU gebunden. Der „politische“ Teil des Assoziierungsabkommens, um das es in den Auseinandersetzungen um die und in der Ukraine spätestens seit November 2013 ging, wurde am 21. März 2014 in Brüssel unterzeichnet, der „wirtschaftliche“ Teil am 27. Juni 2014. Vergleichbare Abkommen wurden auch mit Georgien und der Republik Moldau unterzeichnet. Die Anbindung dieser Länder an die EU ist nunmehr vertraglich vollzogen. Eine feste Zusicherung auf spätere EU-Mitgliedschaft haben sie nicht. Damit gehören sie zur äußeren Peripherie des imperialen Zentrums EU nach Osten und sind gegen Russland in Stellung gebracht.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat stets die „Freundschaft“ mit den USA beschworen, zugleich aber die Spielräume deutscher Außenpolitik insbesondere gegenüber den USA vergrößert. Programmatisch hat sie betont, Deutschland solle gestärkt aus der Finanz- und Euro-Krise hervorgehen. Heute ist es in einer dominierenden, hegemonialen Position innerhalb der EU. Gegenüber Russland hat sie stets die Menschenrechtskarte gespielt, bisher aber auch die strategische Zusammenarbeit gepflegt. Nun wird unter Nutzung der USA – die NATO stellt gewissermaßen den harten militärischen Unterbau zur Verfügung – die Ukraine aus dem Einflussfeld Russlands gelöst und in das der EU, das heißt Deutschlands, eingeordnet. Russland hat sich im Gegenzug die Krim genommen, was vom Westen mit Protesten quittiert wurde, aber am Ende ist Russland froh, die Beziehungen mit dem Westen, sprich Deutschland, weiter aufrecht zu erhalten. Das gegenwärtige Pochen der Kanzlerin auf Sanktionen gegen Russland zielt symbolisch darauf ab, dass Russland in Sachen Übergang der Ukraine in den Machtbereich der EU endlich klein beigeben soll.
Diese Neuordnung Europas ist ein weitreichender historischer Vorgang. Hier wird etwas realisiert, woran Deutschland in zwei Weltkriegen scheiterte. Am 11. August 1914, kurz nach Beginn des ersten Weltkrieges, hatte Reichskanzler von Bethmann Hollweg zu den deutschen Kriegszielen im Osten geschrieben: „Insurgierung nicht nur Polens, auch der Ukraine erscheint uns sehr wichtig; 1. als Kampfmittel gegen Russland; 2. weil im Falle glücklichen Kriegsausganges die Bildung mehrerer Pufferstaaten zwischen Russland und Deutschland bzw. Österreich-Ungarn zweckmäßig würde, um den Druck des russischen Kolosses auf Westeuropa zu erleichtern und Russland möglichst nach Osten zurückzudrängen […].“ Das ist Deutschland allein in zwei Weltkriegen nicht gelungen. Gestützt auf EU und USA/NATO scheint es nun zu klappen. Da gewinnt auch Frau von der Leyens kürzlich benutzter Satz eine ganz eigene Symbolik, im Grundsatz gelte: „Immer im Bündnis mit unseren Partnern. Es wird nie einen deutschen Alleingang geben“. Dazu reicht es, dass die NATO im Hintergrund steht. Die Ukraine muss nicht Mitglied der NATO sein, um diese Neuordnung zu beglaubigen.
Im selben Interview hatte die für das Kriegswesen zuständige Ministerin in Bezug auf die beabsichtigte Lieferung von Waffen in das irakische Krisengebiet betont: „Wichtiger als die Frage, ob und welche Waffe wir am Ende liefern, ist die Bereitschaft, Tabus beiseitezulegen“. Im idiomatischen Sprachverständnis werden Tabus gebrochen. Die gebildete Frau Ministerin hat es absichtlich anders gesagt. Es hatte bekanntlich gute Gründe, weshalb die Bundesrepublik Deutschland jahrzehntelang keine Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete geliefert hat. Das will sie jetzt eben mal „beiseitelegen“. Und es geht im Grunde gar nicht um den „Islamischen Staat“ oder die Kurden, sie sind nur der Anlass, um den „Tabubruch“ zu bewerkstelligen.
Der Bundestag hat die entsprechenden Beschlüsse – wieder symbolisch – ausgerechnet am 1. September gefasst, am 75. Jahrestag des Beginns des zweiten Weltkrieges. Das meint: das jetzige Deutschland ist wieder wer. Es kann Weltpolitik ganz unabhängig von Geschichte machen. Es müssen nur jeweils die nötigen Verbündeten bereitstehen. Ganz in diesem Sinne hat denn auch Bundespräsident Gauck just an diesem Tage in Polen, das ja das erste Opfer des deutschen Überfalls war, erklärt, damit es „auch in Zukunft Partnerschaft und gute Nachbarschaft“ mit Russland gebe, müsse es als erstes „eine Änderung der russischen Politik“ geben.
Entgegen der offiziellen Lesart in den deutschen Medien, dass es auf Seiten der ukrainischen Truppen keine Faschisten gäbe, hat das ZDF in den „heute“-Nachrichten am 8. September um 19.00 Uhr, am Rande von Ordensverleihungen durch Poroschenko in der Ostukraine, die Stahlhelme dort eingesetzter Kämpfer der ukrainischen Streitkräfte aus der Nähe gezeigt: sie sind mit SS-Runen und Hakenkreuzen „geschmückt“. Am 9. September war bei „Zeit-Online“ ein Interview des Grünen-Abgeordneten Manuel Sarrazin zu lesen. Dort heißt es: „Die Ukraine hat auch für uns gekämpft“. Und was heißt das, sozusagen wieder symbolisch?