von Alexander Rahr
Nach der Ernennung von Frank-Walter Steinmeier zum neuen Bundesaußenminister keimt in realpolitischen Kreisen die Hoffnung auf, dass nach den zahlreichen Konflikten der vergangenen Monate ein positiver Neuanfang in den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland entstehen könnte. Der vergangene Petersburger Dialog vom 4. bis 6. Dezember in Kassel widmete sich intensiv dieser Frage.
Im nächsten Jahr werden Deutschland und Russland zwei Jubiläen begehen, die an die jüngste Vergangenheit der russisch-deutschen Beziehungen erinnern. Erstens – den 25. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer, zweitens – den 20. Jahrestag des Abzugs der Sowjetarmee aus Ostdeutschland und Mittelosteuropa. Beide Ereignisse legten das Fundament für die heutige europäische Sicherheit und den lang ersehnten Frieden in Europa. Der Neuanfang in den Beziehungen sollte daran anknüpfen. Das betonte der ehemalige Ministerpräsident Matthias Platzeck auf dem Petersburger Dialog in seiner vielbeachtete Rede auf der Eröffnungsveranstaltung. Platzeck erinnerte zu Beginn daran, dass die Zerfallsprozesse in Osteuropa vor 25 Jahren auch ganz anders hätten verlaufen können. Man könne heute behaupten, die Sowjetunion wäre von den USA totgerüstet, die sowjetische Wirtschaft aufgrund rasant gefallener Ölpreise kollabiert und die kommunistischen Machtstrukturen in den Warschauer Pakt Staaten von protestierenden Bürgern eingerissen worden seien. Doch die beiden Jubiläen würden Anlass genug geben, der damaligen russischen Führung Anerkennung zu zollen. Respekt und Dankbarkeit für eine kluge und vorausschauende Politik, die letztendlich zur deutschen Wiedervereinigung, zum Triumph von Frieden und Freiheit im Osten Europas geführt hätte.
Gerade die jüngeren Nachwuchseliten aus der Zukunftswerkstatt des Petersburger Dialog fragen sich, warum Deutschland und die EU dem postkommunistischen Russland in den letzten 25 Jahren nicht wirklich näher gekommen sind. Warum sprechen wir nicht mehr von der Idee eines gemeinsamen europäischen Hauses? Warum betrachten sich Deutsche und Russen, die sich nach den schrecklichen Konflikten des 20. Jahrhunderts eigentlich ausgesöhnt haben, heute wieder misstrauisch und behandeln sich in manchen Aspekten als Gegner? Aus russischer Sicht ist ein Grund dafür die Lehrmeisterei des Westens.
Russland befindet sich noch immer auf einem langen, schwierigen und oft entbehrungsvollen Transformationsweg. Bundespräsident Joachim Gauck kritisiert, Russland habe die Vergangenheit des Stalinismus noch nicht so bewältigt, wie Deutschland seine nationalsozialistische. Russische Menschenrechtsorganisationen begrüßen diese Position, andere halten sie für falsch. Bei der Ausstellung „Bronzezeit – Europa ohne Grenzen“ in Petersburg am Vorabend des Jahrestages des Überfalls Hitlers auf die Sowjetunion 1941, so war aus russischen Kreisen zu hören, stand nicht etwa das Gedenken an diesen Tag oder an die schreckliche Blockade von Leningrad oder an das Ende der Schlacht um Stalingrad vor genau 70 Jahren im Vordergrund, sondern es wurde die Forderung nach einer Rückgabe der Beutekunst erhoben. Viele Russen bemängeln, dass in vielen Gegenwartsreden in Deutschland die Niederschlagung des Hitlerregimes ausschließlich den Verdiensten der USA und West-Alliierten zugesprochen wird, nicht der Sowjetunion.
Deutsche Teilnehmer des Petersburger Dialogs sprachen aber auch über die objektiven Gründe für die Verschlechterung der Beziehungen. Sie lägen in den Enttäuschungen, die Russland und der Westen nach der Aufbruchstimmung in den 90er Jahren durchleben mussten. Der russische Enthusiasmus, insbesondere für die wirtschaftlichen Segnungen des Westens, sei in die Brüche gegangen. Die Krise der 90er Jahre hätte zu einer Diskreditierung der Begriffe Demokratisierung, Marktwirtschaft, Föderalismus, Privatisierung, Unternehmertum geführt. Die Begriffe stünden im Volk – berechtigt oder nicht – für ein System des egoistischen Materialismus‘ und des Chaos. Der Westen seinerseits sei sehr enttäuscht, dass Russland sich nicht oder nur partiell dem westeuropäisch geprägten liberalen Wertemodell angeschlossen hätte.
Enttäuschung verbindet sich auch mit dem stark ausgeprägten Ordnungsstaat und gesellschaftlicher Kontrolle, die wir als „System Putin“ bezeichnen. Zunächst wurde dies noch als notwendiges Übel akzeptiert. Aber spätestens mit dem „Machtwechsel“ von Vladimir Putin zu Präsident Dmitri Medwedjew setzte eine tiefe Entfremdung ein. Die nach eigenem Bekunden lange verabredete Rochade glich aus deutscher Sicht eher einem strategischen Zug in einem Pokerspiel. Der Machtwechsel hätte demokratischer legitimiert werden müssen.
Wie in Kassel am Runden Tisch zum Thema Verbesserung der Beziehungen diskutiert wurde, zielen russische Vorstellung von Europa eher auf eine friedliche Koexistenz als auf eine Assoziierung mit der EU nach dem Modell der Ukraine.
Man muss generell sagen, dass in Russland das Interesse an Europa und an der Europäischen Union sehr weit nach hinten rückt. Die russische Führung oder vielmehr die russischen Eliten schauen nach Asien, weil sie sich dort bessere Wirtschaftsbeziehungen versprechen. Auch Präsident Putin hat den Europäern gesagt, „denkt nicht, dass wir keine anderen Optionen haben, wir sind inzwischen mit Asien stärker vernetzt, als mit der Europäischen Union“. Und Russland schaut natürlich auf Amerika, weil man mit den Amerikanern gern ebenbürtige Weltpolitik betreiben würde. Die Europäer bleiben außen vor.
Aus russischer Sicht ist das Problem entstanden, dass man einfach nicht weiß, wie man mit Europa kooperieren soll, außer dass man Gas und Öl nach Europa verkauft. Die Europäer scheinen an nichts anderem interessiert zu sein, als an einem Demokratie-Transfer nach Russland. Gegen dieses, für Russland sehr einseitige Ansinnen, das teilweise als aggressiv oder Lehrmeisterei empfunden wird, geht Putin heute vor. Wir haben daher derzeit einen massiven Stillstand in den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland zu verzeichnen. Das wirkt sich auch negativ auf die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland aus
Der Russland-Kenner Matthias Platzeck, der in dem deutsch-russischen Zivilgesellschaftlichen Dialog offensichtlich eine größere Rolle spielen könnte, erinnerte in seiner Rede daran, dass Deutschland sein Werte- und Gesellschaftssystem nicht einfach zum universalen Maßstab machen. Auch sei die deutsche Zivilgesellschaft relativ jung, noch vor dreißig Jahren sei von dem gegenwärtigen Einfluss von Nichtregierungsorganisationen auf Politik und Gesellschaft nicht viel zu spüren gewesen. Deutschland könne nicht, weil es sich quasi von heute auf morgen verändert habe, von Russland, das aus einer nichtliberalen Tradition komme, dasselbe verlangen.
Laut Platzeck gehört Russland aber trotzdem zu Europa. Er riet, mehr Geduld zu üben und über die gemeinsame Kulturgeschichte nachzudenken. Es existiere eben ein weströmisches und ein oströmisches Kulturerbe. Aus dem oströmischen Reich sei der byzantinische Kulturkreis hervorgegangen, in dem sich andere europäische Traditionen entwickelt hätten als im Westen. Das bedeute aber nicht, dass die unterschiedlichen Traditionen des westlichen und byzantinischen Kulturkreises zu einer neuen Spaltung Europas führen müssten. Europa sei immer stark aufgrund seiner unterschiedlichen Kulturen und Traditionen gewesen, die sich gegenseitig ergänzt hätten. Platzeck sprach sich dafür aus, liberal gesinnte Westeuropäer zu einem vertieften Wertedialog mit den russischen Eliten einzuladen, so wie Deutschland es mit dem Islam versuche.
Präsident Putin begreift sein Land als konservativ-christliches und spricht nicht umsonst von einer konservativen Revolution in Russland als Antwort auf den Postmodernismus Westeuropas. Würden beide Seiten miteinander offener reden, ohne gegenseitige Belehrungen und Beschimpfungen, würden sie entdecken, dass es gemeinsame Wege gibt. Deutschland darf stolz sein auf seine positive Nachkriegserfahrung, muss aber auch bereit sein, russische Kritik an seiner gesellschaftlichen Entwicklung aufzunehmen.
Deutschland, fest integriert in der transatlantischen Allianz, aber auch Russland sind entscheidende Träger der europäischen Friedensordnung des 21. Jahrhunderts. Leider besteht zwischen Deutschland und Russland große Uneinigkeit über die Rolle der NATO, der UNO und der EU. Beide Länder streiten sich über die Einbindung von osteuropäischen Staaten und der Ukraine, über Kosovo, die Auseinandersetzungen in Georgien bis hin zu den jüngsten Ereignissen im Nahen und Mittleren Osten.
Die Abrüstung der syrischen Chemiewaffen könnte aber ein Teil der Hoffnung sein, dass es selbst bei scheinbar unvereinbaren Interessen und Werten Brücken zum Neuanfang in den Beziehungen geben kann. Im Syrienkonflikt haben sich zwei scheinbar unvereinbare Lager gebildet und eine Spirale gegenseitiger Schuldzuweisungen in Gang gesetzt. Mit dem Einsatz von Giftgas eskalierten die kontroversen Haltungen Amerikas und Russlands. Eine Internationalisierung des Konfliktes schien unausweichlich. Dass dies am Ende nicht geschehen ist, hat die Welt der russischen Vermittlungsinitiative zu verdanken. Russland ist so weit gegangen, seinem Verbündeten Assad dessen Abschreckungswaffen wegzunehmen. Nun scheinen die USA und Russland langsam zu einer gemeinsamen Haltung im Syrienkonflikt zu finden. Sollte dies gelingen, könnten sich beide Seiten um eine gemeinsame Lösung im iranischen Atomstreit bemühen. So würde Vertrauen geschaffen, das helfen könnte, eine weitere Etappe zu meistern – die Befriedung Afghanistans nach dem Abzug der NATO-Truppen 2014. Gerade dort wird der Westen auf eine wohlwollende und konstruktive Haltung der Russen angewiesen sein. Es gibt also „Brücken des Neuanfangs
Auf dem Petersburger Dialog wurde die Hoffnung laut, dass die neue Bundesregierung sichtbare Zeichen in der deutschen Außenpolitik setzen könnte, dass Russlands Rolle als Partner in Europa eine substanzielle Aufwertung erfahre. Deutschland mag mit der in Russland erhofften Rolle des Vermittlers in Europa überfordert sein, aber Deutschland hat trotzdem eine besondere Verantwortung für Russland. Für Platzeck bedeutet dies, beispielsweise, dass Berlin sich bei wichtigen strategischen russischen Offerten der Zusammenarbeit oder etwa der Visafrage nicht hinter europäischen Möglich- und Unmöglichkeiten oder gar transatlantischen Befindlichkeiten verstecken sollte
In den 1990er Jahren haben Politiker wie Helmut Kohl oder Francois Mitterand immer wieder dafür plädiert, jede NATO-Osterweiterung sehr sorgfältig vorzunehmen, sie zwar durchzuführen, wie das im Falle Polens, Tschechiens und Ungarns gleich nach Ende des Kalten Krieges geschehen ist, sie gleichzeitig aber jedes Mal mit einer Abfederungspolitik gegenüber Russland abzusichern. Dadurch sollte vermieden werden, dass ein Teil Europas sich sicherer fühlt und gleichzeitig ein neues Feindbild für Russland entstünde. Vielmehr sollte die gesamteuropäische Sicherheit davon profitieren. In den vergangenen Jahren ist diese Abfederungspolitik in Europa gegenüber Russland schmerzlich verloren gegangen. Also muss man neue Wege finden. Das könnte auch eine gemeinsame Raketenabwehr sein.
Vielleicht versteht ein Politiker wie Steinmeier, dass ein Auf- und Umbruch in den deutsch-russischen Beziehungen im vitalen Interesse eines friedlichen prosperierenden und global handlungs- und konkurrenzfähigen Europa liegt.
Der Autor ist Mitglied des Lenkungsausschusses des Petersburger Dialogs und Forschungsdirektor des Deutsch-Russischen Forums.
Schlagwörter: Alexander Rahr, Deutschland, Europa, NATO, Petersburger Dialog, Russland, Sicherheit, USA