16. Jahrgang | Nummer 23 | 11. November 2013

Bemerkungen

In memoriam 9. November 1918*

[…] Deutschland ist das einzige Land, wo Mangel an politischer Befähigung den Weg zu den höchsten Ehrenämtern sichert. So wie gewisse Naturvölker Schwachsinnigen göttliche Ehren entgegenbringen, so verehren die Deutschen den politischen Schwachsinn und holen sich von dorther ihre Führer. […] Deutschland ist infolgedessen auch das einzige Land, das ohne Erhebung an seine Revolution zurückdenkt […] Die Leute, die sie emporgetragen hat, heißen die Novemberverbrecher, und daran sind sie selbst schuld, denn sie zitterten vor der Macht, die ihnen plötzlich zufiel. Sie waren stolz darauf, möglichst viel unversehrt gelassen zu haben. So lebt die Revolution kaum mehr als Erinnerung, und einzelne Episoden daraus wirken heute schon unglaubwürdig und wie aus einer Fabelwelt. […]

Carl von Ossietzky

*Die Weltbühne Nr. 45/1928. Überschrift – die Redaktion.

Zahnpasta für Pakistan

Pakistan, die etwas andere Atommacht, führt in deutschen Medien eher ein Schattendasein. Manchmal schafft es der Nuklearstaat am Hindukusch aber zumindest bis auf die Leserbriefseiten. Auf derselben der FAZ vom 2. Oktober 2013 wurde eine Epistel von Hans Rühle wiedergegeben. Der war von 1982 bis 1988 Leiter des Planungsstabes im Bundesverteidigungsministerium. In seinem Schreiben teilte er mit, dass „man die fatale Feststellung treffen [kann], dass das pakistanische Atomwaffenprogramm in seinen zentralen Bestandteilen […] überwiegend deutschen Ursprungs ist“. Ende der 70er Jahre, zu Zeiten der Regierung Schmidt/Genscher war der Export einer Fluorfabrik an Islamabad genehmigt worden – „für die Zahnpastaherstellung“, so die offizielle Deklaration. Allen Beteiligten aus der Industrie sei der wahre Verwendungszweck für das pakistanische Nuklearprogramm allerdings bekannt gewesen: Mit der Anlage sollte Uranerz in zentrifugen-, also anreicherungsfähiges Uranhexafluorid umgewandelt werden. Die Lieferung der Fabrik erfolgte im April 1977. Auch die pakistanischen Zentrifugen selbst waren quasi deutschen Ursprungs. Der später als Vater der pakistanischen Bombe apostrophierte Experte Abdul K. Khan hatte während seiner Tätigkeit als Metallurge beim deutsch-niederländischen Unternehmen Urenco Unterlagen und Know-how zum Bau entsprechender Zentrifugen gestohlen. „Dies ist von aktueller Bedeutung“, hob Rühle hervor, „weil die Nuklearisierung Irans ohne die geheime Lieferung pakistanischer Zentrifugen nicht möglich gewesen wäre.“

Wolfgang Schwarz

Gelüftetes Geheim-Geheimnis

Es muss mal gesagt werden. Geheimdienste sind keineswegs durchweg so schlecht ihr Ruf. Nicht mal das MfS hat sich ausnahmslos mit der Zersetzung und Paralysierung von Andersdenkenden beschäftigt. Laut Aussagen glaubwürdig Beteiligter gab es dort Kräfte, die grade gegen das Ende der DDR hin die politische Führung darauf hingewiesen haben, dass der Laden des realsozialistischen Sozialismus Gefahr war, den Machthabern um die Ohren zu fliegen, würden diese so weitermachen, was sie dann ja auch taten. Mindestens der Akzeptanz dieses Umstandes wegen und seiner filmischen Umsetzung ist dem Mehrteiler „Weißensee“ durchaus zu danken. Was für das MfS gilt, darf muss dem BND schon deshalb umso mehr zu Gute gehalten werden, da letzterer ja ein rechtstaatlicher Geheimdienst ist, wie wir wissen, hier also per se die Guten beheimatet sind. Einen Beleg genau dafür haben die Nachrichtenagenturen grade erst vermeldet. Hat der BND doch soeben die Regierung unseres demokratischen Gemeinwesens diesbezüglich „Alarm geschlagen“, dass seinen Erkenntnissen zufolge die Erderwärmung zunehmend strategische Konflikte beeinflussen werde. Da ist man als edel- und gutmütiger Gottvertrauender freilich baff und weiß spätestens jetzt: Ohne Geheimdienste geht’s nicht. Sonst wäre so etwas wie solcherart Inkriminiertes ja nie herausgekommen. Und schon wird´s einem wohl ums klimakterielle Herz.

Hannah Elrich

Ach …Ruth Kampa

Da hat Sie, die weiß Gott verdienstvolle Fraktionsgeschäftsführerin der Linkspartei im Bundestag, nun nach gut zwanzig Jahren die Enttarnung als vormaliger IM des MfS ereilt. Dass Sie dies zumindest im Moment ihrer Inthronisierung in ein verantwortungsvolles und in der Öffentlichkeit stehendes Amt Ihrer Partei nicht vorab kundgetan haben, war gewiss auch dann ein schwerer Fehler, wenn man die Angst vor der pauschalen Stigmatisierung einer Mitarbeit im DDR-Geheimdienst durchaus nachvollziehen kann. Nun aber, wo es publik geworden ist und Sie in eine Art vorläufigen Ruhestand eingetreten sind, geht die Zeitungskunde von einer brieflichen Erklärung an Ihre Partei, in der Sie Ihre einschlägige Schweigsamkeit bedauern. Das ist im Falle Ihrer verbrieften Lauterkeit ebenfalls glaubwürdig, umso enttäuschender ist indes, dass auch Sie von der beschämendsten Formel Gebrauch machen, mit der tausende IM’s im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte ihre Reputation zu retten versucht haben. Zu behaupten „Ich habe niemanden geschadet“ ist – sorry – erbärmlich, denn jeder, wie freiwillig oder genötigt er zu einer IM-Rolle gekommen sein mag, war freilich wissentlich bereit, jemandem zu schaden, – nach damaligem Glauben oder gar Überzeugung, all jenen, die der DDR schaden wollten. Um denen das Handwerk zu legen und ihnen somit freilich – mal mehr, mal weniger direkt – zu schaden, hat man informell mitgearbeitet. Inwieweit man selbst davon überzeugt war, dem Sozialismus damit etwas Gutes zu tun – wofür man sich zumindest längere Zeit ja nicht schämen musste und was ich Ihnen auch bereitwillig unterstelle, oder inwieweit es persönlichkeitsbedingter Reiz war, heimlich über Anderer Geschicke Schicksal spielen zu können, ist dabei nur sekundär von Belang. Schade.

Peter Höffner

Blätter aktuell

Am 22. September hat die deutsche Sozialdemokratie das zweitschlechteste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahren. Der Historiker Stefan Grönebaum protestiert gegen das herrschende „Weiter so“ und analysiert die strukturellen Ursachen der Wahlniederlagen 2009 und 2013. Nur durch mehr Demokratie und eine Stärkung der Basis werde der immense Vertrauensverlust bei Wählern und Mitgliedern zu kitten sein.
Alle Zeichen sprechen für eine neue, große Koalition. Nach Ansicht von Stefan Collignon, Professor für Wirtschaftswissenschaften in Hamburg und Pisa, hätte diese verheerende Folgen – für die SPD, Deutschland und Europa: nämlich die dauerhafte Destabilisierung der deutschen Parteienlandschaft und eine anhaltende deutsche Dominanz in der EU, welche dem europäischen Gemeinschaftsprojekt nachhaltig schaden würde.
Trotz einer arithmetischen Mehrheit liegt eine handlungsfähige politische Mehrheit des linken Lagers noch immer in weiter Ferne. Der SPD-nahe Historiker Peter Brandt, die Linkspartei-verbundenen Geschwister André und Michael Brie sowie der Grüne Frieder Otto Wolf plädieren daher für eine Überwindung der noch immer existierenden Barrieren. Was Not tut, sei ein neues linkes Projekt, das Brücken in die Zivilgesellschaft baut und eine tragfähige Alternative zur herrschenden Politik errichte.
Weitere Beiträge unter anderem zu folgenden Themen: „Abbau per Verwaltungsakt. Vom Sozial- zum Bittstellerstaat“, „Dialektik der Ausbeutung. Der neue Rohstoffboom in Lateinamerika“ und „Buslinie Sehnsucht: Die Demokratur in Ungarn“.

am

Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, November 2013, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet: www.blaetter.de

Globalisierter Heuchelstadel

Um die unhaltbare Situation der in Berlin campierenden Lampedusa-Flüchtlinge geht hierzulande die Rede unaufhaltsam und – je nach ideologischer Verfasstheit – leidenschaftlich. Jüngst erst war ein CDU-Politiker bei den Afrikanern und hat – nach eigenem Bekunden – mal so richtig klargestellt, wie unsinnig die These ist, dass Länder wie Deutschland als Ex-Kolonialmächte eine Art Bringeschuld gegenüber denen haben, die an schlimmer Unterentwicklung heute zum Teil mehr leiden als je zuvor. Nun gebietet es der Verstand, dass es mit besagter Schuldzuweisung in der Tat nicht getan ist und sich nach ihrer Akzeptanz in der Ersten Welt stante pede alles zum Besseren füge. Die Dinge sind viel zu komplex, um mit einfachen Lösungen hausieren gehen zu können. Auch dieser kleine Text will und kann keine verbindliche Lösung dieses Problems anbieten, das allerdings das Zeug besitzt, von Jahr zu Jahr auf eine Explosion hinauszulaufen, in deren Gefolge – beziehungsweise bereits in deren Vorfeld – Mitteleuropa mit schlimmsten Rassismus zu rechnen hat. Auf einen Umstand sei indes auch dann zumindest hingewiesen, wenn unbedingt Übereinkunft darüber herrscht, dass die angestauten Probleme nicht allein mit Geldzuweisungen zu lösen sind. 1970 hatte die UNO per gemeinsamem Beschluss das Ziel vorgegeben, dass all ihre Mitgliedsländer bis 1975 (!!!) jährlich 0,7 Prozent (in Worten: Nullkommasieben!) ihres jeweiligen Bruttosozialproduktes für Entwicklungshilfe aufwenden sollten. Gewiss – für reiche Staaten wie Deutschland steht dahinter sehr viel Geld, aber dieses macht eben doch lediglich besagte 0,7 Prozent dessen aus, was man verfügbar hat. Der Beschluss ist damals ebenso feierlich angenommen worden wie viele andere UNO-Beschlüsse.  Heute, also über 40 Jahre später sieht die diesbezügliche Bilanz so aus: Ganze vier Staaten (!) haben dieses Ziel erreicht beziehungsweise leicht überboten: Schweden (1,02%), Norwegen (1,00%), Luxemburg (0,99%), Dänemark (0,86%) – übrigens als erster Staat und das im seinerzeit vereinbarten Zeitrahmen – und die Niederlande (0,75%). Alle anderen Länder dieser Erde liegen in dieser Tabelle (Stand 2011) zum größten Teil noch immer weit hinter dieser Zielmarke. Die USA, die ja nun ebenso wenig wie viele andere der betuchten Nationen nicht bereits vierzig Jahre lang an ihren selbstgemachten Krisen zu knabbern haben, bekleiden mit 0,2% den rühmlichen 18. Platz. Und Deutschland, unser globalsolidarisches Gemeinwesen? Ihm gebührt immerhin mit 0,4 Prozent der ruhmreiche 12. Rang – Chapeau, das will nach nur 40 Jahren erst mal geschafft sein! Nochmals: Die Geldzuwendungen aus dem sozialpolitischen Norden sind nicht die alleinige Lösung der Armut auf vornehmlich der südlichen Halbkugel. Aber ein Indiz dafür, wie wirklich wichtig diesem Norden ein globales Problem wie die flächendeckende Armut und Unterentwicklung in großen Teilen der Welt ist, ist diese Statistik allemal. Dass die umfänglichen karitativen Hilfen vor allem nichtstaatlicher Organisationen von einer zwangsläufig vernichtenden Kritik der Entwicklungshilfe des zumindest letzten Jahrhunderts auszunehmen ist, versteht sich. Vor ungefähr zwanzig Jahren hat einst ein – wenn ich mich recht erinnere – französischer Autor in einem Spiegel-Essay den Vorschlag gemacht, dass, um das seinerzeit ja bereits ebenso wie heute offenkundige Problem einer Lösung näher zu bringen, alle ehemaligen Kolonialmächte eine Art verpflichtende Patenschaft über ihre ehemaligen Auslandsterritorien übernehmen sollten; mit dem Ziel, dortig wirkliche Entwicklungsfortschritte zu bewerkstelligen, Opfer für sie als „Geber“-Staaten inklusive. Natürlich ist dieser Vorschlag seinerzeit auf heftige und intellektuell hochwertig dargebrachte Ablehnung gestoßen. Der besagte CDU-Politiker vom Berliner Oranienplatz ist zu dieser Zeit vermutlich noch gar kein Politiker gewesen. Gut aber, dass er den afrikanischen Flüchtlingen am Oranienplatz mal die Leviten gelesen hat. Ob das unserer ersten und zudem europäischen Welt noch lange hilft, dürfte noch weniger als zweifelhaft sein. Ebenfalls rund zwanzig Jahre ist es her, dass die ARD unserem Thema eine publizistische Woche eingeräumt hatte. An deren Anfang stand die Ausstrahlung eines Filmes mit dem Titel „Der Marsch“. Er nahm voraus, was wir heute erleben: Flüchtlingsströme aus dem Süden und abwehrendes Bollwerk des Nordens; großmütige Einzellösungen inklusive. Wer das Verenden des Realsozialismus miterlebt hat, hat eine Vorstellung davon, wohin die Ignoranz objektiver Probleme führt. Geht diese gegenüber dem Süden so weiter wie bisher, dann gute Nacht Europa, gute Nacht Deutschland. Oder aber die Lösung im Ungeiste Kaiser Wilhelms zum Ausbruch des 1. Weltkrieges lautet – wie sehr wohl zu befürchten ist – neuerlich: „So muß denn das Schwert entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Nun zu den Waffen! Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterland!“

Hajo Jasper

Ewige Jungen und unglückliche Franken

Im gerade veröffentlichten „Glücksatlas 2013“ nimmt Franken den letzten Platz unter den westdeutschen Regionen ein – danach folgen „nur“ noch die ostdeutschen Bundesländer. Da die ökonomischen Daten Frankens besser sind als der Bundesdurchschnitt, stellt sich die Frage, woran dies liegt. Die Verfasser besagter Studie mutmaßen, hier spiele der kulturelle Faktor eine zentrale Rolle. Es gebe eben einen in Franken stark verwurzelten Grundpessimismus. Insofern mögen die drei jungen Nürnberger Musiker David Sewiolo (Gitarre, Gesang), Florian Rudhart (Gitarre, Gesang) und Sebastian Schütz (Piano) Prototypen dieser psychologischen Verfasstheit sein. Sie firmieren unter dem Bandnamen „A Kiss From Wendy“ und präsentieren mit „Hope“ ihr Debutalbum. Themen wie Freundschaft und Einsamkeit werden in ihren melancholischen Akustik-Stücken verarbeitet. Beim Titelsong heißt es: „Waiting for the anthem of a new tomorrow that will take away your sorrow…“
Und die Flucht in den Alkoholkonsum ist Inhalt des Liedes „Confession“:  „I tasted the bottle too many times, made me lose control, but I cannot regret, any second I wasted cause I tried to follow my heart…“
Die fränkischen Melancholiker überzeugen nicht nur textlich, sondern auch musikalisch. Sehnsuchtstöne durchziehen in unterschiedlichen Varianten ihre Songs. Bleibt die Frage nach dem kuriosen Bandnamen. „A Kiss From Wendy“ bezieht sich auf eine zentrale Figur aus dem Stück „Peter Pan“. Durch einen Kuss von Wendy schafft es Peter Pan letztendlich, sich aus der Rolle des ewigen Jungen zu befreien. Die fränkischen Musiker geben sich aber wahrlich nicht erwachsen oder sachlich-nüchtern, sondern zeigen eher jugendliches Pathos. Eigentlich müsste eine Region mit solchen Musikern doch glücklich(er) sein…

Thomas Rüger

A Kiss From Wendy: Hope, CD 2013, im Eigenverlag, zirka 11,00 Euro.

Unverzagt bleiben

Es ist dies wohl eine Erfahrung der Meisten: Viel zu spät erst beginnt man, sich für das elterliche oder noch weiter zurückreichenden Leben seiner familiären Vorfahren zu interessieren, selbst, wenn man eigentlich bereits ein Bewusstsein, mindestens aber eine Ahnung vom Einfluss der familiären Geschichtlichkeit auf das eigene Sein und Werden hat. Oft genug ist es, wenn einem dieses Defizit richtig bewusst geworden ist, zu spät – die zu Befragenden leben nicht mehr. Über mehrere Generationen hintereinander hinweg dürfte hierzulande auch ein meist untergründiger Reflex obwaltet haben, Mutter, Vater und/oder Großeltern nicht eingehender nach ihrem Leben zu befragen. Was die Nazizeit  zu er- und überlebt geholfen hat, war selbst dann mit einem gewissen Tabu behaftet, wenn dieses meist keineswegs artikuliert wurde. Viel zu wenige Deutsche hatten diese Zeit schließlich als Widerständige durchlebt, und eigenes Versagen einzugestehen, gehört offenbar zum nur wenig Wahrscheinlichen, was von einem Menschen erwarten kann. Trotz aller gravierenden Unterschiede trifft zumindest Ähnliches auch auf die Generationen zu, die dann in der DDR sozialisiert worden sind und nunmehr Gegenstand der – so sie denn stattfinden – Fragen ihrer Kinder und Enkel werden. Dass die einst postulierte Entwicklung vom „Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit“ in die Diktatur eines bürokratischen Parteiapparates münden konnte, war ja keineswegs nur diesem Apparat anzulasten. Den Mut, zu all den Fehlentwicklungen Nein zu sagen, hatten aber wiederum nur wenige – sei es aus opportunistischem Charaktermangel, unstillbarerer Hoffnung auf Änderung zum Besseren oder denkresistenter Überzeugung. Was Jana Simon, die Enkelin des Schriftstellerehepaares Christa und Gerhard Wolf, betrifft, hat sie, die seinerzeit werdende Journalistin, mit 25 Jahren begonnen, dem Lebensweg ihrer Großeltern nachzugehen. 1998 beginnend, hat sie mit den beiden Gespräche geführt, die nun in einem Ullstein-Buch vorliegen und von jedem gelesen werden sollte, dem – sicher vor allem – die Bücher Christa Wolfs etwas bedeutet haben. Das dürften viele Ostdeutsche sein, denn Christa Wolfs Romane und ihres Mannes Publizistik waren unsereinem dreißig Jahre lang eine unentbehrliche geistig-moralische Stütze, ein  Lebensmittel indes Wortes durchaus wahrsten Sinne. Wer wie die Wolfs für eine bessere Gesellschaft eingetreten ist, und, da man die Hoffnung hatte, ihr Werden in der DDR erleben zu dürfen, sich dafür ausdrücklich engagiert hat, dessen Biografien haben mit denen des Staates mehr als nur Berührungen. Gesellschaftliche Kulminationspunkte sind dann fast zwangsläufig auch die solcher Protagonisten. Das Leben der Wolfs ist dank ihrer Literatur, nicht zuletzt der autobiografischen nach 1989 ihren Lesern weitgehend bekannt. Aber zum einen nur weitgehend – so ungeschützt, wie beide der Enkelin aus ihrem Leben berichten, war dies bislang noch nicht zu haben. Trotzdem Christa und Gerhard Wolf das Leben von ihren „Genossen“ sauer gemacht worden ist, seit sie der dem quasireligiösen Glauben der Dogmatik eigenes Denken und eigene Haltung entgegengesetzt hatten, bilanzieren sie in diesen Gesprächen ihr Leben als ein geglücktes. Ein Umstand, dem ihre Enkelin, die ihren Großeltern trotz großer Liebe und einem Höchstmaß an Bereitschaft zum Verständnis, dennoch letztlich nicht wirklich folgen kann. Für den Mangel an Erfahrungshintergrund kann sie dabei ebenso wenig wie jeder Nachkomme. Bei allen Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten vieler Biografien bleibt jede Einzelne –  zu der nicht nur gehört, was jemand tat oder nicht, sondern auch dessen gegebenenfalls nichtverlautbarter Gedankenhintergrund – unverwechsel- und unwiederholbar. Sich damit zu beschäftigen aber ist unentbehrlich, schon, um für sein Selbst Maßstäbe zu formen und zu festigen.
Ein berührendes Buch über zwei wunderbare Menschen.

Heinz W. Konrad

Jana Simon, Sei dennoch unverzagt. Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf, Ullstein Verlag, Berlin, 2013, 288 Seiten, 19,99 Euro.

Blutsbrüder, von der Gesellschaft abgeschrieben

Wenn man sich ein bisschen durch Statistiken gräbt, den mittlerweile gravierenden Unterschied zwischen arm und reich analysiert, bekommt man zwangsweise mit, dass am meisten die Kinder zu leiden haben. In Familien, die vom Kapitalismus stark gebeutelt werden, wachsen die kleinen unschuldigen Dinger ohne große Freude auf. Die Anziehsachen gibt es beim DRK, die Nahrung in Arbeitslosenküchen und das Spielzeug ist gebraucht und oft von der schnell anwachsenden Müllkippe organisiert. Die Arbeitslosenunterstützung wird auf Teufel komm raus gekürzt. So war es vor Ausbruch des II. Weltkrieges und so ist es in der heutigen Zeit wieder. Kinder schlafen unter Brücken, besorgen sich Geld durch kriminelle Handlungen oder gehen auf dem Kinderstrich. Sehr genau hat das der Schriftsteller Ernst Haffner in den 1930er Jahren aufgeschrieben. Ganz ohne Schnörkel und Umschreibungen und verdammt ehrlich, dreckig und erschütternd berichtet er in „Blutsbrüder“ über eine Gruppe Jugendlicher in Berlin, die von der Gesellschaft abgeschrieben ist, ohne Wohnung und Familie dahinvegetiert und in der Weimarer Republik, die in den letzten Zügen liegt, versucht zu überleben.
Wer einmal mit dem Lesen beginnt, der kann nicht mehr aufhören. Man fiebert und lebt den Roman richtig mit und ist erleichtert, wenn die verstoßenen Jugendlichen wenigstens etwas Nahrung organisieren können und gar einen Schlafplatz in irgendeiner heruntergekommenen Wohnstätte ergattern. Die meisten der viel zu schnell erwachsen gewordenen Kinder sind aus Heimen entflohen, in denen sich es nicht leben lässt. Die „Erzieher“ sind dort brutal, nur auf Zucht und Ordnung bedacht und vergreifen sich auch sexuell an ihren Schutzbefohlenen. Irgendwie erinnern genau diese Beschreibungen an die gerade in jüngster Zeit aufgedeckten Verfehlungen in katholischen Erziehungsanstalten. Der als Journalist und Sozialarbeiter tätig gewesene Haffner verschafft damit seinen Lesern ein Bild von den damaligen Zuständen: „Der ganze Raum ist in die Lieblingsfarben der Wohlfahrtsinstitutionen gekleidet: graugrüne Kalkfarbe, dunkelgrüne Ölfarbe. Zerschlissen, zerwetzt, abgeschabt und beschmutzt von tausenden anlehnenden Menschenrücken“. In den beschriebenen Räumen, in billigen Kneipen und in verlassenen Lagerhallen hält sich die „Blutsbrüder“-Clique auf, die sich um Johnny gruppiert. Einer steht für den Anderen, gemeinsam sind sie ständig auf der Suche nach etwas Essbarem und sie schrecken auch nicht vor kriminellen Handlungen zurück. Die beiden Hauptfiguren Willi und Ludwig versuchen ganz ohne Papiere, trotz Polizeigewalt, erneuter Einweisung in Fürsorgeanstalten und Drohungen ihrer mittlerweile in die organisierte Kriminalität abgerutschten „Blutsbrüder“, ehrlich zu bleiben.
Von 1925 bis 1933 lebte, arbeitete und schrieb Haffner in Berlin. Das nun vorliegende Buch zählten die Nationalsozialisten 1938 zu den „schädlichen und unerwünschten Büchern“, verboten und verbrannten es. Mit der Machtübergabe verliert sich die Spur des Journalisten und Sozialarbeiters Ernst Haffner. Bekannt ist nur noch, dass er zusammen mit seinem Lektor zur Reichsschrifttumskammer zitiert wird, um wohl noch einmal über das naturgetreue, packende und bis heute gültige Buch „zu sprechen“. Später taucht sein Name nicht mehr auf.

Thomas Behlert

Ernst Haffner: Blutsbrüder. Ein Berliner Cliquen-Roman, Metrolit Verlag, Berlin 2013, 264 Seiten, 19,99 Euro.

Schrumpfende Zukunft

Der Weltraum dehnt sich aus – die Zukunft indes schrumpft. Sie ist wirklich nicht mehr, was sie mal war. Noch hallen dem Interessierten Meldungen nach, in denen vom Optimismus der deutschen Wirtschaft für die Zukunft die Rede war, da ist diese Zukunft auch schon wieder perdú. Die nächste, so ist nun zu lesen, gebe vielmehr Anlass zur Zurückhaltung. Es ist zu hoffen, dass sich diese neue Zukunft nicht schon in den nächsten 14 Tagen ändert, denn dann hätte sich diese Anmerkung im dann neuen Blättchen auch schon wieder überholt.

HWK