16. Jahrgang | Nummer 8 | 15. April 2013

Vom kalten Krieg der Dokumente zur „lauteren Wahrheit“?

von Herbert Bertsch

Das Adenauer-Zitat von den drei Stufen der Wahrheit
wird zwar häufig benutzt, ebenso häufig aber unvollständig bis falsch.
Deshalb hier der Wortlaut:
„Wissen Sie, meine lieben Parteifreunde, mein Freund Pferdmenges
hat drei verschiedene Bezeichnungen der Wahrheit. Er sagt: Das ist die Wahrheit;
dem gegenüber steht der Ausdruck, das ist die reine Wahrheit,
und, wenn es ganz hoch geht, sagt er, das ist die lautere Wahrheit.
Ich verspreche Ihnen, die reine Wahrheit zu sagen.
Ich entnehme Ihren Mienen, dass Sie damit ganz zufrieden sind.“
So in der Sitzung der CDU/CSU-Fraktion des Bundestages am 08. Dezember 1959;
hier zitiert nach
FAZ vom 17. September 2004.

Irgendwo – also ohne Quellenerinnerung – habe ich diese einem arabischen Gelehrten aus dem 13. Jahrhundert zugeschriebene Definition gehört: „Die Wahrheit ist ein Spiegel, der vom Himmel fällt und in tausend Splitter zerbricht. Die Menschen heben sie auf – jeder einen Splitter. Und sie glauben jeder, die gesamte Wahrheit zu besitzen.“
Eine für dies Verhalten besonders anfällige Spezies sind Historiker, denen überdies ein Glaube an die Macht der Dokumente eigen ist und dies anscheinend umso stärker, je mehr sie sich der Gegenwart und deren herrschenden Tendenzen nähern. Da wirkt offenbar ein systemindifferentes Grundgesetz. Den einen bringt ihr Tun Gewinn, den andern Schelte; wobei sich die jeweilige Betroffenheit durch „jähe Wendungen“ rasch ändern, gar ins Gegenteil verkehren kann. Auch Historikerwerk hat Verfallszeiten, Dokumentenbände gehören dazu.
Nehmen wir „Die große Politik der Europäischen Kabinette 1871 – 1914. Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes im Auftrag des Auswärtigen Amtes, Berlin 1926“. Mit dem interessanten Zusatz in Kleindruck: „Für Russland auf Grund der deutsch-russischen Übereinkunft“ – was immer dies seinerzeit bedeuten mochte. Doch unabhängig davon: Die gesamte Edition manifestiert, dass hier eine deutsche Sicht der Dinge präsentiert wird. Durchaus legitim; vergleichbare Sammlungen anderer Großmächte (auch solcher, die es wieder werden wollten) waren schon zuvor in der Historikergemeinde verbreitet, auch öffentlich virulent. Und natürlich beanspruchte eine jede Ausgabe die Deutungshoheit, was einen Kampf der Gegen-Sätze zur Folge hatte.
Am 25. Januar 2013 lud das „Zentrum für Zeithistorische Forschung“ Potsdam zur Vorstellung des vierten Bandes der gemeinsamen deutsch-russischen Edition „Die UdSSR und die deutsche Frage 1941 – 1949: Ostdeutsche Staatsgründung und Berlin-Krise 1948/49“1 – mit jeweils unterschiedlichen russischen und deutschen Einführungen zu den Texten. Die Edition ist eine Veröffentlichung der (neuen) „Deutsch-Russischen Historikerkommission“. Ort der Veranstaltung: die Russische Botschaft Unter den Linden. Genius loci. Vom russischen Botschafter Wladimir Grinin in seiner Begrüßung auch so erinnert.
„Neu“ im Hinblick auf die Historikerkommission ist hier angemerkt, weil seinerzeit neben dem Direktor des „Deutschen Instituts für Zeitgeschichte (DIZ)“ der DDR in Berlin, Stefan Doernberg, auch ich, dessen Stellvertreter, einer deutsch-sowjetischen Historikerkommission mit vergleichbarem Anspruch angehörte, die unter anderem die zweibändige Dokumentensammlung „Beziehungen DDR – UdSSR 1949 – 1955“ herausgab. Und, pars pro toto weiter, auch die „Dokumentensammlung Teheran – Jalta – Potsdam“ als Zusammenarbeit des Moskauer Progreß-Verlages mit dem Berliner Dietz-Verlag 1978.
Das waren überhaupt ergebnisreiche Jahre bei uns. Die erste Auflage von Stefan Doernberg: „Kurze Geschichte der DDR“ mit einem ausführlichen Teil über die Vorgeschichte der beiden deutschen Staaten war 1964 erschienen. Der dritte Band einer „Deutsche[n] Geschichte“ mit zahlreichen Dokumenten über die Nachkriegszeit aus dem „Deutschen Verlag der Wissenschaften“, Berlin, kam 1968 heraus.
Dass all diese und weitere Arbeiten durch bundesdeutsche Historiker praktisch nicht zur Kenntnis genommen wurden, hängt vermutlich mit deren ideologisch bedingter Sehschwäche zusammen, die später im Zuge sowie insbesondere nach der deutschen Vereinigung zu einem ganz speziellen Phänomen in der deutschen Historiographie führte – zur Beseitigung ganzer wissenschaftlicher Institutionen, vor allem aber zur flächendeckenden Abwicklung von Leben und Arbeit ostdeutscher Wissenschaftler und zur Versenkung ihrer Arbeiten durch Kollegen aus der Bundesrepublik. Das hatte zugleich den Vorteil, dass deren mitunter auch schon habilitierter Nachwuchs ohne Aussicht auf Berufungen in der BRD dank dieser Abwicklung die verbliebenen, vor allem universitären ostdeutschen Forschungseinrichtungen stürmen und zum Teil auch neue einrichten konnte.
Ein Beispiel aus dieser Periode ist die Liquidierung des „Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft“ (IPW) mit immerhin etwa 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, zu dessen „Gründungsphase 1971 bis 1974“ inzwischen eine Dissertation von Michael B. Klein2 vorliegt. Die Anregung dazu gab Michael Stürmer, der selbst langjährig einer von zahlreichen westdeutschen Gesprächspartner des IPW war. Aus der Danksagung geht hervor, dass auch Martin Sabrow vom Potsdamer „Zentrum für Zeithistorische Forschung“ daran fördernd beteiligt war.
Sabrow moderierte auch die Veranstaltung in der russischen Botschaft und gehört zum Herausgeberkreis der dabei in Rede stehende Edition. Die Arbeit an diesem Werk begann 1993 und hat als Quellengrundlage, offenbar bewusst nebulös formuliert, „Dokumente aus russischen Archiven“. Das suggeriert hohe Authentizität des Erfassten, deutet aber auch an, was Wilfried Loth bereits in einer Rezension der ersten drei Bände sachlich informativ, also leidenschaftslos so zusammenfasste: „Der Zugang zu den Archiven des Verteidigungsministeriums, der Geheimdienste und des Außenhandelsministeriums, die jeweils eigenständige Aktenüberlieferungen zur Tätigkeit der sowjetischen Besatzer in Deutschland bergen, blieb den Bearbeitern verwehrt.“ Dessen sollte der Nutzer sich stets gewärtig sein.
Loth kennt sich aus, da er selbst bemerkenswerte Funde aus russischen Archiven ans Licht brachte, die in Bezug auf die Bewertung der sowjetischen Strategie gegenüber Deutschland als Ganzem und – in minderer Priorität – dann der DDR, eine neue Sicht für jene seiner Zunftkollegen bedeutete, die nach wie vor nicht wahrhaben wollten, dass ein neutrales, weitgehend entmilitarisiertes und nicht in gegen die Sowjetunion gerichtete Bündnissyteme integriertes Gesamtdeutschland – also als nichtsozialistischer Staat – den sowjetischen Sicherheits- und Machtinteressen sehr viel mehr entsprochen hätte, als eine nach ihrem Bilde gestaltete Besatzungszone. Heftige Auseinandersetzungen waren die Folge – Kampf der Gegen-Sätze.
Auch in einer Besprechung des vierten Bandes zollt er dem Gesamtprojekt (alles in allem etwa 3 000 Druckseiten!) seinen Respekt, freilich, nicht ohne die Beschränktheit von dessen Neuigkeitswert anzumerken. Beidem kann man sich anschließen, wenn man fachwissenschaftlich wertet, was in den Dokumenten steht. Das gilt auch für die Erörterung von tatsächlichen Zusammenhängen für die jeweilige Stücke. Bei den Einführungen, den grundsätzlichen Anmerkungen und speziell dem selbstgefälligen Text bei der Vorstellung wird die Bereitschaft zur Empathie aber auf eine harte Probe gestellt.
Als Beispiel dafür hier ein Abschnitt aus dem einführenden Referat des deutschen Haupt-Herausgebers, Jochen Laufer: „Aufgabe der Kommentierung war es – wenn immer möglich – die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Dokumente zu rekonstruieren. Dabei zeigte sich, dass viele Entwicklungen in Westdeutschland und in den Westsektoren von Berlin von den sowjetischen Diplomaten und anderen Akteuren nicht wahrgenommen wurden. Dies erklärt Lücken der Auswahl und der Kommentierung. Dafür gibt es in den Bänden der Edition ‚Die UdSSR und die deutsche Frage’ vieles, was vorher nicht in diesem Ausmaß erkennbar war. Noch deutlicher als die bisherige Forschung zeigt der vierte Band, dass es trotz aggressiver Blockademaßnahmen eine vollständige Blockade der Westhälfte Berlins durch die UdSSR nicht gab. Für mich ist dies eine überzeugende Demonstration, dass eine systematische – also wissenschaftliche – Erschließung der sowjetischen Quellen in der Lage ist, tief eingebürgerte westliche Denkmuster zu korrigieren.“
Wirkungsgeschichte ist ein sehr hoher Anspruch: Bei wem hat was gewirkt – wenn zum Beispiel der Adressat das State Department war? Wie wird diese Wirkung gemessen? Und selbst wenn nur auf die DDR bezogen: Was bewirkten Moskauer Aktivitäten bei der SED, der Regierung, der Opposition? Auf welchen Zeitraum wird eine Wirkung terminiert? Wie ändert sie sich bei veränderten Rahmenbedingungen, und wer erkennt oder setzt sie neu?
Lassen wir einmal Laufers fordernde Attitüde an die russischen Autoritäten, im Schlusssatz als Verlockung verpackt, beiseite, und gehen wir zum Beispiel der „neuen Erkenntnis“ hinsichtlich der sogenannten Westberlin-Blockade von 1948/49 über: Wieso eigentlich haben bundesdeutsche Historiker die Geschichtsschreibung sowjetischer oder DDR-Herkunft dazu denn nicht schon seinerzeit, wenigstens ab 1990, zur Kenntnis genommen, um „westliche Denkmuster zu korrigieren“? Haben sie diese nicht gerade geschaffen oder verfestigt, jedenfalls dazu beigetragen?
Oder warum wurden nicht wenigstens eigene Zeitzeugen-Befragungen durchgeführt, wenn es um die „objektive“ Wahrheit so bestellt scheint, dass erst aus sowjetischen Quellen abgeleitet werden musste, dass die Luftbrücke offenbar auch andere strategische Funktionen und vor allem Ursachen hatte, als Westberlin mit Schokolade und Kohle zu versorgen?
Zur Erinnerung: Am Bahnhof Friedrichstraße standen – als Blockade? – aufgetürmt Brotvorräte, aus denen sich Westberliner bedienen konnten und es auch sollten, die sich über die nicht blockierte Sektorengrenze weiterhin frei bewegen konnten. Ostberliner arbeiteten weiter ungehindert in Westberliner Betrieben, selbst Verwaltungen – was auch umgekehrt der Fall war, und nicht nur bei der Staatsoper oder bei Brecht! Für 20 Pfennige Ost konnte man das von Ostberlin unterhaltenen S-Bahnnetz in jeder Richtung nutzen. Freilich: Die super-pünktlichen Züge fuhren weitgehend leer. Auf Westberliner Bahnhöfen stiegen nämlich häufig sehr eigenwillige Gäste zu, die selbst wohl weniger fahren wollten, als vielmehr andere Fahrgäste zum Verlassen der „Spalterbahn“ nachdrücklich aufzufordern.
Ein Schlaglicht auf die „Macht der Propaganda“ kann man dem gemeinsamen Bericht der Hauptkontrahenten des Kalten Krieges in Berlin, CIA-Chef David Murphy und KGB-Chef Sergej Kondraschow entnehmen, fie festhielten, „[…] dass die von den Sowjets angebotene Lebensmittelhilfe aufgrund der ‚wütenden Propagandakampagne’ der SPD nicht, wie erwartet, von zwei Millionen Menschen, sondern nur von neunzehntausend in Anspruch genommen“ wurde (Georg Bailey/Sergej Kondraschow/David E. Murphy: Die unsichtbare Front. Der Krieg der Geheimdienste im geteilten Berlin, Ullstein Verlag, Berlin 2000, S. 86.)
Aber wenn keine Energie aus dem Berliner Umfeld geliefert worden wäre, dann hätte man sich in Westberlin trotz ideologischer Ablehnung auch wärmer kleiden müssen. Selbst Sommernächte können bekanntlich kühl sein.
Tatsächlich blockiert waren der Autobahn-Zugang nach Westberlin sowie zeitweilig der Eisenbahn- und der Schiffsverkehrr aus Stalins strategischem Kalkül heraus, auf diese Weise erneut gemeinsame Verhandlungen mit den anderen Alliierten zu erzwingen, wie mit Berlin weiter umgegangen werden sollte. Denn unübersehbar gab es konträre politische Entwicklungen, die weitgehend von den Gegensätzen der Siegermächte dominiert waren, aber auch schon „deutsche“ Eigendynamik entwickelt hatten. Die westlichen Siegermächte hegten seinerzeit bereits Gründungpläne für einen westdeutschen Teilstaat unter Einschluss Westberlins, weswegen sie partout nicht verhandeln wollten. Stattdessen: „Berlins neue Währung“, überschrieb Die Zeit einen Artikel vom 24. März 1949, und darin hieß es: „Seit dem 20. März gehört Berlin nicht nur symbolisch, sondern tatsächlich zu Westdeutschland. […] Daß darüber hinaus Westberlin nun auch beginnen kann, auf die Ostzone mit mehr als nur mit politischen Sentiments zu wirken, das wird als nicht unwichtigstes Ergebnis der Operation zu erwarten sein. Die Reaktion der Sowjets wird zeigen, in welcher Weise sich die weltpolitische Auseinandersetzung der Mächte verschoben hat.“
Wer mehr darüber wissen wollte, wie es war, wäre mit einer „Dokumentation zur Westberlinfrage“ vom 30 Juni 1964 schon ganz gut bedient. Herausgegeben vom Außenministerium der DDR im Staatsverlag, unter Beihilfe namhafter Völkerrechtler der Humboldt-Universität erarbeitet, aber auch von Historikern des DIZ, das 1970/71im IPW aufging. Jedenfalls hätte man daraus entnehmen können, dass Westberlin keineswegs vom Umland abgeriegelt war. Also so ganz überrascht hätte man als Quellensucher von den Funden in russischen Archiven eigentlich nicht sein müssen. Aber als Zeugnis für ebenso widerstrebende wie parteiische Kenntnisnahme von Wirklichkeit ist dies auch ein Wert an sich.
Wie sperrig man aber selbst solcher Art eigene „neue Erkenntnis“ aufnahm, dazu als Stimmungsbild eine Rand-Episode von der Veranstaltung in der russischen Botschaft. Ein russischer Kollege benannte ein mögliches Interesse Stalins an einem neutralisierten Gesamtdeutschland als Triebfeder für dessen Überlegungen und Entscheidungen. Moderator Sabrow reagierte darauf unwirsch und tat den Hinweis mit der Bemerkung ab: Das wirke etwa so plausibel wie jene Entgegnung Stalins: „Wie viele Divisionen hat der Papst?“
Abgesehen davon, dass die Quellenlage hinsichtlich dieses Stalin-Zitates alles andere als eindeutig ist, sagte diese flapsige Replik Sabrows einiges über die Position der deutschen Herausgeber der Dokumenten-Edition aus, denn es gibt durchaus Dokumente, allerdings vor allem bei anderen Forschern, die für Stalins Interesse an einem neutralisierten Deutschland sprechen. (Siehe zum Beispiel – Wilfried Loth: Die Sowjetunion und die deutsche Frage3 und Jan Foitzik, Herausgeber: Sowjetische Interessenpolitik in Deutschland 1944-1954.)
Mit ihrer Tendenz zu einer „traditionellen“ antisowjetischen Sichtweise stehen die Herausgeber um Laufer und Sabrow freilich nicht allein. So liest Gerhard Wettig4, ein Veteran der Verkündung der sowjetischen Bedrohung, aus dem sogenannten „Tjulpanov-Bericht“ heraus, dass Stalin nicht nur eine DDR ihres dann praktizierten Zuschnitts gewollt habe, sondern ein „Sowjet-Deutschland“, und zudem auch noch schnell. Nun wurde Tjulpanow aber wegen seines forcierten „Sozialismus-Kurses“ abberufen, so dass er sich veranlasst sah, seine Handlungen im Rahmen der SMAD mit vermuteten Intentionen Stalins entlastend zu begründen. So liefern Tjulpanow – und durch dessen Interpretation auch Wettig – letztlich zusätzlich den Nachweis, dass es nicht nur ostdeutsche Parteiführer waren, die eine kleine „sozialistische“ DDR statt der neutralen Einheit Deutschlands anstrebten. Umgekehrt ist dies aber kein ausreichender Nachweis, es habe bei Walter Ulbricht etwa keinerlei gesamtdeutsche Ambitionen mit dieser Orientierung gegeben. (Siehe dazu, sehr dediziert, – Norbert Podewin: Walter Ulbricht. Eine neue Biographie.) Daraus übernahm die FAZ diese Darstellung: „Im Oktober 1946, nach den Landtagswahlen in der SBZ und in Berlin, weiß die SED aber, ‚dass in einem demokratischen Entscheidungsprozeß in Deutschland die SED keine führende Rolle erhalten würde‘. Diese Konstellation nutzt Ulbricht, um angesichts der für ihn unwägbaren Entwicklung der sowjetischen Deutschlandpolitik und der alliierten Abmachungen über Deutschland die Fundamente des sozialistischen deutschen Teilstaates diktatorisch zu befestigen, um seinen provisorischen Charakter als Besatzungszone zu überwinden.“ Podewin aktuell, am 09. März 2013, vom Autor dazu befragt: „Innerlich hatte sich Ulbricht damals von der ihm zu schwankend erscheinenden Deutschlandpolitik Stalins verabschiedet und nahm seinerseits Kurs auf DDR.“
Podewin und andere dürften im Übrigen mit der Bewertung Recht haben, dass von der Sowjetunion sowohl die Lage als auch die Stimmungen in den westlichen Besatzungszonen und – trotz intensiver Propaganda – auch in der SBZ falsch eingeschätzt wurden. Dennoch war die Stalin-Note von 1952 ein ernst gemeintes Angebot, zumal bei Beachtung des internationalen Umfeldes.
Bei der umfänglichen DDR-Geschichtsschreibung gibt es in diesem Kontext auch meine Broschüre „Von Potsdam zum Friedensvertrag“ aus dem Jahre 1961, deren Kern der Wortlaut des „Sowjetischen Entwurfs für einen Friedensvertrag mit Deutschland vom 10 Januar 1959“ ist. Der neuen Dokumenten-Edition kann ich nun anhand einiger Stücke entnehmen, warum diese Aktivitäten auf westlicher Seite auch fast zehn Jahre nach der Stalin-Note ins Leere liefen. Aber auch diese Zusatzinformation beantwortet die entscheidende Frage nicht: Was wäre wohl geworden, wenn die Westmächte einschließlich der BRD diese sowjetische Politik auf den Prüfstand gestellt hätten? Doch: „Was wäre, wenn“, ist bei Geschehen und Geschichte müßig zu erfragen.
Zurück zur Dokumenten-Edition für den Zeitraum 1941 – 1949: Wenn daran rund dreißig Jahre gearbeitet wurde, so ist dies sowohl Ausdruck von wissenschaftlicher Beharrlichkeit als auch von Großzügigkeit der Finanziers. Als solche ausgewiesen sind das Bundesministerium des Innern, der Förderverein des „Zentrums für Zeithistorische Forschung“, die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Fritz-Thyssen-Stiftung.
Die eindimensionale Sichtweise der deutschen Herausgeber auf Motive und Absichten Stalins im Hinblick auf die Nachkriegsentwicklung in Deutschland zeigt dabei zugleich, dass die Zeit, in der der Kalte Krieg auch mit Dokumenten geführt wurde, trotz gegenteiliger Beschwörung offenbar noch keineswegs vorüber ist. Diese Traditionslinie reicht zurück bis in die unmittelbare Nachkriegszeit.
Zur Erinnerung: 1948 erschien auch in deutscher Sprache eine so dann nicht weiter geführte Sammlung des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR mit dem Titel “Dokumente und Materialien aus der Vorgeschichte des zweiten Weltkriegs, Band I, November 1937 – 1938. Aus dem Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes“. Die Zusammenstellung begann mit der „Unterredung von Hitler mit Halifax am 19. November 1937“, worin es heißt: „Trotz dieser Schwierigkeiten wäre er (Lord Halifax) und andere Mitglieder der Englischen Regierung davon durchdrungen, dass der Führer nicht nur in Deutschland selbst Großes geleistet habe, sondern dass er auch durch die Vernichtung des Kommunismus im eigenen Lande diesem den Weg nach Westeuropa versperrt habe und dass daher mit Recht Deutschland als Bollwerk des Westens gegen den Bolschewismus angesehen werden könne“.
Diese Auswahl-Sammlung war der Gegenangriff zu einem Anfang 1948 erschienenen ersten Band einer auf etwa 20 Teile angelegten Edition des amerikanischen Department of State und des britischen Foreign Office mit dem Titel: „Nazi-Soviet Relations 1939 – 1941“. Kern und Sensation dieser Publikation war der Wortlaut des „Geheimen Zusatzprotokolls“ zum Nichtangriffspakt zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR von 1939, unterzeichnet von J. Von Ribbentrop und W. Molotow. Vereinbart: „Dieses Protokoll wird von beiden Seiten streng geheim behandelt werden“.
Kommt bei solchen Scharmützeln nicht die Vermutung auf, man habe in der alten Bundesrepublik etwa im Hinblick auf die „Blockade Westberlin“ nichts von den oben genannten Tatsachen wissen wollen, weil dies der politisch gewollten Version abträglich gewesen wäre, „lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze halb“ zu bekommen – auch um den Preis der daraus resultierenden Spaltung, die zur Zweistaatlichkeit führte? (Der selbstentlarvende Ausspruch übrigens, der gern Adenauer zugeschrieben wird, stammt nachweislich vom späteren ersten Präsidenten des Bundestages, Erich Köhler.). Oder ist die Verursachung doch derart, wie der Titel des vierten Dokumenten-Bandes suggeriert: ein de facto einverleibter deutscher Teilstaat als gewollte Ernte des Sieges für die Sowjetunion? Dafür der ganze Aufwand? Bei den Kosten nur dieser Nutzen?
Nun kann man methodisch etwas aus einer Gesamtheit herausschneiden, wie vermittels dieser vier Bände geschehen. Das ist unter Fachaspekten auch durchaus üblich. Eine andere Frage ist jedoch: Wird solches Verfahren den „Tätern“, der Sowjetunion, den anderen Alliierten, den Deutschen in toto, danach in Besatzungszonen und nach Verzicht auf einen Friedensvertrag schließlich der Zweistaatlichkeit in Deutschland, dominiert von zwei Machtblöcken, auch mit ideologischem Überbau, gerecht?
Die Frage dürfte bei den deutschen Herausgebern der Dokumenten-Bände Widerspruch provozieren: Die Ideologisierung und Indoktrination erfolgte doch im sowjetischen Machtbereich! Sehr wohl so; aber nicht nur dort. Es gab und gibt den historischen Irrtum, im Westen sei es ideologiefrei zugegangen. Tatsächlich war dort keine neue Ideologie nötig; der Antikommunismus war nicht nur virulent, sondern wurde als Banner vorweg getragen. Da gab es also weder fürs Bewusstsein noch als politische Zielsetzung Veränderungsbedarf. Man durfte, sollte weiterhin „Bollwerk gegen die Bolschewisierung des Westens“ sein (siehe Hitler im Gespräch mit Lord Halifax). War dies etwa keine „Ideologisierung“, weil Staatsraison und gleichsam selbstindoktriniert?
Dieses weiter geförderte „Bewusstsein“ entsprach durchaus der zunächst praktizierten US-amerikanischen Containment-Politik und der später daraus entwickelten Roll back-Konzeption. Dafür brauchte es weder eines neuen Nährbodens noch grundlegend neuer politischer Bildung; man brauchte höchstens neues Vokabular. Adenauer: „Wir stehen vor der Wahl zwischen Sklaverei und Freiheit. Wir wählen die Freiheit!“ (Regierungserklärung am 03. Dezember 1952 – als Antwort auf die Stalin-Note.) Bei genauem Textvergleich: Bei dem Thema war nicht mal neues Vokabular vonnöten.
Sowohl für die tatsächliche Konstellation als auch für die Grundstimmung in Deutschland gibt es einen interessanten Beleg bei Churchill, der den deutschlandpolitischen Aktivitäten der Sowjetunion etwa ab 1953 zunehmend Positives abgewinnen konnte, aus seiner Analyse der US-amerikanischen Weltherrschaftspläne, der sowjetischen Machtinteressen und der sich veränderten Rolle seines Landes heraus: „Die Gefahr eines Abdriftens eines neutralisierten Deutschlands in den sowjetischen Machtbereich, die mit Adenauer unterdessen auch die meisten Experten in den westlichen Außenministerien an die Wand malten, sah er absolut nicht als gegeben an. Dagegen stand nach seiner Überzeugung die abgrundtief antikommunistische Einstellung der Deutschen, die durch die Erfahrung mit sowjetischer Besatzung und kommunistischer Herrschaftspraxis in der Ostzone noch bestärkt worden war.“ (Loth, Seite 198.)
Und was waren nach Kriegsende die amerikanischen Interessen bei der „deutschen Frage“? Kompetente Auskunftsperson dafür ist George F. Kennan, langjährig in Moskau stationiert und dann 1947 zum Leiter des US-amerikanischen außenpolitischen Planungsstabs zwecks Ausarbeitung der „Truman-Doktrin“ berufen:  „Wir haben keine andere Wahl, als unseren Teil von Deutschland – den Teil, für den wir und die Briten Verantwortung haben – zu einer Form von Unabhängigkeit zu führen, die so befriedigend, so gesichert, so überlegen ist, dass der Osten sie nicht gefährden kann. Das ist eine gewaltige Aufgabe für Amerikaner. Aber sie lässt sich nicht umgehen, und hierüber, nicht über undurchführbare Pläne für eine gemeinsame Militärregierung, sollten wir uns Gedanken machen.
Zugegeben, dass das Zerstückelung bedeutet. Aber die Zerstückelung ist bereits Tatsache, wegen der Oder-Neiße-Linie. Ob das Stück Sowjetzone wieder mit Deutschland verbunden wird oder nicht, ist jetzt nicht wichtig. Besser ein zerstückeltes Deutschland, von dem wenigstens der westliche Teil als Prellbock für die Kräfte des Totalitarismus wirkt, als ein geeintes Deutschland, das diese Kräfte wieder bis an die Nordsee vorlässt.“ („Memoiren eines Diplomaten“, 3. Auflage, München 1982, Seite 264 ff.)
Da war die US-amerikanische Politik, und daraus ergibt sich sowohl unter wissenschaftlich-methodologischen als auch politischen Aspekten die Frage an die Herausgeber der Dokumenten-Bände, wie man diese der sowjetischen Deutschlandpolitik entgegengesetzten Positionen zur Kenntnis bringt? Das ist doch wohl unumgänglich? Wie soll sowjetische Deutschlandpolitik verstanden werden, wenn man jetzt zwar in einzelnen Dokumenten den Weg eines Papiers vom Referenten über den stellvertretenden Abteilungsleiter bis zum Abteilungsleiter mit Anmerkungen und Erläuterungen zum Verfahren kennt, aber der Name Kennan in Verbindung mit der westlichen Deutschlandpolitik überhaupt nicht genannt wird, auch nicht deren Europakonzeption, von der realisierten politischen Praxis zu Deutschland als Ganzem und der BRD-Gründung gar nicht erst zu reden. Ohne solche inhaltlichen Gegenpositionen bleibt dem Nutzer der Dokumenten-Bände unverständlich, warum manche sowjetische Dokumente eben so wurden, wie sie hier jetzt zu lesen sind.
Geht es nicht auch anders? Ich nehme ein Beispiel von Loth: „Noch ohne um das volle Ausmaß der Krise in der DDR zu wissen, bereiteten die Stalin-Nachfolger im Kreml seit Mitte April 1953 eine neue Initiative in der Deutschlandpolitik vor. Ihr Ausgangspunkt war die Ratifizierung des EVG-Vertrags und des Deutschland-Vertrags durch den Deutschen Bundestag am 19. März.“ (Loth, Seite 179.) Hier wird korrekt eine Maßnahme benannt, aber eben zugleich erklärt, dass es sich eindeutig um eine Re-Aktion handelt. Diese Art der Analyse hätte das Dilemma der vorliegenden Dokumenten-Bände auflösen können, freilich um den Preis, die politischen und sonstigen Gegenpositionen genau zu kennen und eben auch korrekt bewertet aufzuschreiben. Infolge des Verzichts darauf ähnelt das Ergebnis jetzt einem Telefonbuch, wo man nachschlägt, wenn man weiß, was oder wen man sucht
Wie auch infolge solcher Mängel im vierten Band ersichtlich, gibt es dazu vermutlich diese Erklärung der Beteiligten: Das ist nicht unser Thema. (Was durchaus auch einem gängigen Wissenschaftsverständnis entspricht.) Soll der Leser sich doch anderswo kundig machen, falls er es global will. Wir fordern noch mehr russische Akten für unser Projekt; damit wird es künftig noch besser.
Und auf die mögliche Frage russischer Kollegen, wie es denn mit ein paar Dokumenten aus dem Bestand „Fremde Heere Ost/Bundesnachrichtendienst“ mit der UdSSR als Aufklärungsziel als Gegengabe wäre, könnte man ähnlich auf das eigene Wissenschaftsverständnis verweisen.
Also bleibt die Edition ein „gewichtiger“ Beitrag, fachlich solide erarbeitet und finanziert, als Lebenswerk einiger – aber im Wissenszuwachs mit beschränkter Haftung. Ob Geschichtsdarstellung, auch Rekonstruktion vergangener Wirklichkeiten, so gehandhabt, dringlich ist, darf bezweifelt werden.
Partielles Fazit:: Auch noch viele weitere Dokumente werden die Wahrheit kaum ergründen, und deshalb werden die Auseinandersetzungen um und mit diesem Historiker-Material weitergehen. Verursacht nicht zuletzt von der Frage: Wem erzähle ich in welcher Situation und zu welchem Zweck was? Und: Wer hat die „Dokumente“ nach diesem Wirkmuster überhaupt hergestellt? Auf Weisung, aus eigenem Antrieb, als Antwort, als Absicherung vor Verantwortung?
Diese Edition – 1941 beginnend – holt weit aus und hat materiell doch erst einen kurzen Verlauf beschrieben. Etwas von wirklichen Wendemarken einer deutschen Frage kann man vielleicht bei einer Feststellung von Hans Magnus Enzensberger erahnen, die sich auch mit eben diesem Ausgangsdatum 1941 in Verbindung mit der „Mauer“ beschäftigt: „Der Grundstein zu diesem Bauwerk wurde am 22. Juni 1941 gelegt. Die Mauer war lange gegründet, ehe wir sie sahen.“ Da kann man auf Goethes „Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken, / das nicht die Vorwelt schon gedacht?“ (Faust II, 2. Akt) aphoristisch erwidern: na der Enzensberger! Aber der ist ja auch kein Historiker.

  1. Jochen P. Laufer/Georgij P. Kynin (Herausgeber): Die UdSSR und die deutsche Frage 1941 – 1949. Dokumente aus russischen Archiven, 4 Bände, Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2004 und 2012, zusammen circa 3.000 Seiten, 320,00 Euro.
  2. Michael B. Klein: Das Institut für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR in seiner Gründungsphase 1971 bis 1974, Duncker & Humblot Verlag, Berlin 1999, 232 Seiten, 49,95 Euro.
  3. Wilfried Loth: Die Sowjetunion und die deutsche Frage. Studien zur sowjetischen Deutschlandpolitik, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2007, 320 Seiten, 24,99 Euro.
  4. Gerhard Wettig (Herausgeber): Der Tjulpanov-Bericht. Sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2012, 424 Seiten, 39,90 Euro.