15. Jahrgang | Nummer 23 | 12. November 2012

Bemerkungen

In der Schuldenfalle

Verblüffung allenthalben: Die Zahl der Deutschen, die ihre Zahlungsverpflichtungen nicht mehr erfüllen können, ist gegenüber dem Vorjahr um rund 190.00 angestiegen und beträgt nunmehr 6,6 Millionen. Jeder zehnte Bundesbürger ist also überschuldet. Und das bei vergleichsweise guter Konjunktur, Beschäftigungslage und Entlohnung, wie die erstaunten Kommentatoren feststellen. Sieht man einmal davon ab, dass es mit der offiziellen Beschäftigungszahl so eine Sache ist, da diese ja eine immense Anzahl von Geringverdienern samt deren spärlichen Entlohnung einschließt, gibt es indes eine klare Offenkundigkeit unter den Überschuldungsgründen: Am höchsten ist mit 31 Prozent die Zunahme der Überschuldungen, für die unangemessene Konsumausgaben verantwortlich sind. Und weiß man, dass dafür immer zwei Partner vonnöten sind, dann vermag man auch zu ahnen, welch Verhängnis der Konsum-Werbe-Terror darstellt. Dass auf ihn vor allem bescheidene und/oder juvenil-naive Geister hereinfallen, ändert an deren Überschuldungs-Schuld wenig. Die Produzenten und ihre Manipulateure wissen, was sie tun, und sie tun es mit unvermindertem Zynismus immer weiter.

Helge Jürgs

 

Blätter aktuell

Spätestens seit dem Ende des Ost-West-Konflikts gilt die liberale, repräsentative Demokratie als das beste bisher bekannte Regierungssystem. Doch die tatsächliche Umsetzung der demokratischen Idee sorgt mittlerweile weltweit für Enttäuschung. Der amerikanische Rechtsprofessor Stephen Holmes geht den Ursachen für „Die globale Demokratieverdrossenheit“ auf den Grund.
„Konfrontation als Schicksal? China, USA und die neue pazifische Konstellation“: Unmittelbar nach seinem Wahlsieg 2008 erklärte sich Obama zum ersten pazifischen Präsidenten. Doch nicht erst seitdem scheint ein ernsthafter Konflikt zwischen den Großmächten USA und China nur eine Frage der Zeit zu sein. Roland Benedikter, Soziologieprofessor an der University of California und auch Blättchen-Autor, beleuchtet die sich verändernden Beziehungen der beiden Staaten. Anders als viele seiner Kollegen erkennt er eine Alternative zur unausweichlichen Konfrontation, nämlich die Nutzung der innerstaatlichen Widersprüche für eine Demokratisierung Chinas und des chinesischen Gesellschaftsmodells. Seit seiner Rückkehr in das Präsidentenamt vor einem halben Jahr versucht Wladimir Putin, Russland erneut als Großmacht zu positionieren. Der langjährige Russland-Korrespondent Manfred Quiring verdeutlicht dies an Putins jüngstem außenpolitischen Projekt: der Gründung einer Eurasischen Wirtschaftsunion. Quiring legt – unter der Überschrift „Großraum Eurasien. Putins neues Superbündnis und das Ende der GUS“ – dar, dass mit einer solchen Union ein neues Machtzentrum unter russischer Führung entstehen könnte, das zugleich die Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) als Vorläuferprojekt auflösen soll. Gegen alle Widersprüche zwischen den ehemaligen Sowjetstaaten.
Dazu Beiträge unter anderem dazu, wie die Bundesregierung selbst die von ihr ausgerufene Energiewende hintertreibt, zur Lage an den deutschen Universitäten („Die neue Bildungskatastrophe“), zum „Krieg der Drohnen“, zum Neu-Start in Georgien und zur innenpolitischen Entwicklung in Spanien.
am

Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, November 2012, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen: www.blaetter.de.

 

Bechers „Traumgehäuse“

Zu den vielen banausenhaften Großtaten einer missratenen Kulturrevolution der Zeit nach der Implosion der DDR gehörte die Schließung der beiden Becher-Gedenkstätten des Landes. 1990 entsorgte die Akademie der Künste das als Gedenkstätte und Archiv genutzte Wohnhaus des Dichters am Majakowskiring 34 in Berlin-Niederschönhausen. 1991 verabschiedete sich der Kulturbund von der von ihm betriebenen Gedenkstätte am Friedrich-Engels-Damm 107 in Saarow-Strand, einem Ortsteil von Bad Saarow. Die Gemeinde verkaufte das Haus. Zumindest das Saarower Domizil des Dichters wurde kürzlich von Rolf Harder, dem wohl profundesten Kenner Johannes R. Bechers, zumindest publizistisch wieder dem Vergessen entrissen. In der Reihe der „Frankfurter Buntbücher“ des Kleist-Museums Frankfurt (Oder) erschien ein lesenswertes Büchlein über die letzten zehn Lebensjahre des Dichters, die dieser, wann immer dies ihm möglich war, in Saarow verbrachte: „In Saarow befindet sich mein Traumgehäuse, das wunderbarste, zauberhafteste usw. Häuschen, wie mir scheint, …, einstöckig, Flachdach, mit einem größeren Raum auf den See hin, die ganze Vorderseite als Tür zu öffnen, und dann noch drei Zimmerchen, … Das ist eine Arbeitsstätte, wie ich sie mir nicht besser träumen kann.“ Das schrieb er im Januar 1950. Da hatte er noch acht Jahre zu leben – und seiner Begegnung mit Saarow und dem Scharmützelsee verdanken wir einige der schönsten Naturgedichte deutscher Sprache. Harder weist auf sie hin. Ohne das „Traumgehäuse“ wären wohl auch die „Bemühungen“, Bechers poetologisches Vermächtnis, nicht das geworden, was sie dann geworden sind: Eine heute wieder entdeckenswerte Dichter-Poetik. Das Büchlein ist vorzüglich illustriert.
Ein kleiner Widerspruch ist anzubringen: Der Autor meint am Schluss des Buches, dass Becher auch in der DDR „ein wenig gelesener Dichter“ gewesen sei. Das stimmt so nicht, auch wenn er kein Bestseller-Autor war und zumeist die Texte gelesen wurden, die gerade nicht dem hehren Bilde des Staatsdichters entsprachen. Mitschuldig daran, dass Becher nie ganz dem Vergessen anheim fiel, war übrigens ein gewisser Rolf Harder… Ihm und den Herausgebern Wolfgang de Bruyn und Hans-Jürgen Rehfeld sei für dieses Büchlein gedankt!

W. Brauer

Rolf Harder: Mein Traumgehäuse. Johannes R. Becher in Bad Saarow (1948 bis 1958), Frankfurter Buntbücher 51, Kleist-Museum, Frankfurt (Oder) 2012, 31 Seiten, 8,00 Euro

 

Parada

„Parada“, Regie und Drehbuch von Srdan Dragojevic (Serbien), ist ein bemerkenswerter Film. Er läuft seit September in einigen Kinos und wer ihn bisher nicht gesehen hat, sollte sich beeilen. Es lohnt sich.
Allein, dass es sich bei diesem Film um eine erste Koproduktion zwischen Serbien, Kroatien, Slowenien, Mazedonien und Montenegro handelt, macht ihn besonders. Der Film greift das Problem der Homophobie im ehemaligen Jugoslawien auf, das in seinem erschreckenden Ausmaß hier nicht weiter wahrgenommen wird. Es gelingt dem Regisseur, ein eigentlich tragisches Thema politisch völlig unkorrekt, Klischees der Ex-Jugoslawen übereinander und allen diesen gemeinsame Klischees über Schwule nutzend, in bester komödiantischer Weise zu gestalten. Es geht um die Organisation einer ersten Gay Pride Parade in Belgrad durch ein schwules Paar. Ausgerechnet ein bekannter Kriegsveteran und Ex-Krimineller, jetzt Besitzer eines Sicherheitsdienstes soll den Schutz der Parade übernehmen. Seine üblichen Mitstreiter sind nicht bereit, Schwule und Lesben vor aggressiven Rechten zu schützen. Da besinnt er sich auf ehemalige Feinde, die im Balkankrieg Freunde geworden waren, und diese – eigentlich ebenso homophob wie der Serbe – stellen sich an seine Seite. Das Ganze gestaltet sich urkomisch und wird erst gegen Ende tragisch gebrochen, als nämlich die wenigen Schwulen und Lesben und die sieben Kämpfer einem Mob gegenüberstehen. Im Abspann ist zu lesen, wie im Jahr darauf die Gay Parade mit wenigen hundert Teilnehmern von mehreren tausend Polizisten geschützt werden muss.
Hoffnung macht, dass dieser Film, gerade weil er so komödiantisch gemacht ist, mehrere Hunderttausend Zuschauer in den exjugoslawischen Republiken hatte – und vermutlich mehr zum Nachdenken angeregt hat als alle dramatischen Aufrufe. Aber kürzlich war in den Nachrichten zu hören, dass diese Parade 2012 wieder untersagt wurde…

MvH

 

Film ab (III)

Ich werde in Kürze 60, und bei derartigen Schicksalsschlägen bedarf es jeden Zuspruchs, dessen man habhaft werden kann. Mancher mag dabei Trost daraus ziehen, dass es bei anderen älteren Herren auch nicht mehr ganz rund und leichtfüßig läuft. Unter diesem Aspekt hätte der neue Bond das Zeug zum Dauertröster. Da bietet 007, der nach einem … nennen wir es Arbeitsunfall für tot gehalten wird, bei seiner Auferstehung ein Bild physischen und seelischen Elends und muss sich, zurück im Dienst, als erstes fragen lassen, warum er nicht einfach tot geblieben sei und den Ruhestand genieße – der Außendienst beim M I 6 sei „ein Geschäft für junge Männer“. Und wie sich dieser Bond dann durch die Wiederaufnahmetests quält, nach ein paar läppischen Klimmzügen am Reck förmlich kollabiert und mit zitternder Schusshand auch die nächste Übung vergeigt – das greift ans Herz! Ein blutjunger Q, der Bonds Sohn sein könnte, setzt anschließend noch eins drauf: „Wissen Sie, ich richte morgens nach dem Aufstehen im Pyjama am PC in zehn Minuten mehr Schaden an als Sie in einem ganzen Jahr.“ Und als Bond schließlich am Gestänge unter einem Aufzug ans oberen Ende des Liftschachtes in einem Shanghaier Wolkenkratzer rauscht – mit schmerzverzerrtem Gesicht, Schweiß auf der Stirn und einem Krampf in der Rechten, da weiß man: Wäre dieses Gebäude nur drei, allenfalls fünf Stockwerke höher – es wäre das Ende des Films und einer Legende.
Aber die Botschaft des Streifens ist keine finale – im Gegenteil: Die Zeit der Dinosaurier ist noch längst nicht vorbei! Bond wuppt schließlich auch dieses Ding, und auf dem Weg zum Showdown sind es die kleinen Gesten, die Mut machen: Wie sein alter Wildhüter aus Kindertagen (wunderbar, Albert Finney wieder auf der Leinwand zu sehen!) ihm angesichts eines eher frugalen Bestandes an Schieß- und Sprengzeugs in Erwartung einer bestens armierten Horde von Feinden sein Jagdmesser hinlegt mit einer Bemerkung, die an die geniale Zeile aus Reinhard Meys Moritatenballade „Der Mörder ist immer der Gärtner“ erinnert, wo es heißt: „Auch althergebrachte Methoden sind gut.“ Das ist vom Zuspruch, der alte Männer aufbaut! Zumal das Messer tatsächlich zum Zünglein an der Waage wird, so dass es am Ende ein weiteres Mal heißen kann: James Bond kehrt zurück.
Und was den eingangs erwähnten Trost anbetrifft: Den Spruch, wonach geteiltes Leid halbes Leid sei, habe ich schon immer für völlig daneben gehalten – geteiltes Leid ist lediglich doppeltes Leid …
Clemens Fischer

„Skyfall“, Regie: Sam Mendes, derzeit in den Kinos.

 

Ein Musiker ohne Plan B

Es geht die Mär, dass Van Morrison schon im frühen Kindesalter vom Musik(er)virus befallen worden ist. Und wenn man seine aktuelle CD-Veröffentlichung wörtlich nimmt, dann geschah dies noch früher; trägt sie doch den Titel „Born to sing: No Plan B“. Der 1945 in Belfast Geborene hat bis dato ein wahrlich opulentes Opus vorzuweisen. Erste Popularität verschaffte er sich als Sänger der Gruppe „Them“. Das von Bob Dylan gecoverte Lied „It’s all over now, Baby Blue“ zählt zu Recht zu den Alltime-Klassikern aus den sechziger Jahren. Danach kreierte er als Solokünstler seinen persönlichen Musikstil, eine Mixtur aus Blues, Soul, Jazz und Folk. Es kam im Laufe der Jahre zu interessanten musikalischen Kooperationen (etwa mit Bluesgrößen wie John Lee Hooker), aber auch zu ideologischen Verirrungen. In den siebziger Jahren widmete er ein Album dem Scientology-Gründer Ron L. Hubbard. Aber er emanzipierte sich hiervon musikalisch eindrucksvoll mit der Platte „No Guru, No Method, No Teacher“.
Interessanterweise wechselte er nun zu dem renommierten Jazzlabel „Blue Note“. Eine neuerliche musikalische Wendung? Ein klares Nein. „Born to Sing: No Plan B“ kann als altersweises Werk bezeichnet werden, das seinen genreübergreifenden Musikstil konsequent fortsetzt. Es finden sich klassische Bluesriffs, getragene Bläsersätze, jazzige Klavierpassagen und natürlich der unverwechselbare schnoddrige Gesang des nordirischen Vollblutmusikers. Wer diesen Musiker live erlebt, mag staunen, welch musikalisches Potential in diesem sich so unnahbar gebenden Künstler steckt. Seine neueste Veröffentlichung ist, um zwei Titel hiervon aufzugreifen, „Close enough for Jazz“ aber hoffentlich noch nicht „End of the Rainbow“.
Thomas Rüger

Van Morrison: Born to Sing: No Plan, Blue Note Records 2012, zirka 16,00 Euro

 

Kurze Notiz zu Braunsbedra

Diese Stadt ist ganz düster. Seit knapp zwanzig Jahren gibt es sie inzwischen, durch zahlreiche Eingemeindungen der nicht weggebaggerten Tagebausiedlungen ist sie auf 12.000 Einwohner gewachsen und erstreckt sich um den östlichen Teil des Geiseltalsees, dieses größten künstlichen Sees Deutschlands, der jetzt Naherholungsgebiet werden soll. Für Braunsbedra springt dabei ein Hafen heraus, neue Siedlungen sollen entstehen und durch den Zuzug finanzkräftiger Neubürger wird dann die ganze Wirtschaft hier unten im Saalekreis explodieren. Ganz bestimmt.
Aber der Boom boomt in Zeitlupe. Die meisten Siedler, die sich ein Häuschen mit Seeblick kreditfinanziert errichten, kommen aus Braunsbedra selbst, sind den ewiggleichen Platten entflohen, die sich über die ganze Stadt verteilen. Dort, zwischen den drei- und vierstöckigen Häuserzeilen, wo hinter jedem Fenster eine Kummeroma sitzt und in jeder Tür eine rauchende Jogginghose steht – da ist es richtig finster, da boomt überhaupt nichts. Auch das Stadtzentrum scheint mehr auf Verfall als auf Aufschwung eingerichtet zu sein. Am Marktplatz, der eigentlich gar kein Platz ist, sondern von einer zweistöckigen Passage überdeckt wird, sitzen der Optiker und der Bestatter, die Kurzzeitpflege und die Tagespflege, das Rathaus direkt gegenüber der Fußpflege. Im einzigen Café im Karree heißt die Kellnerin „Garmen“ und wird von jedermann geduzt, auch von den beiden Polizistinnen, die bei ihr mit „Ma‘ ma‘ ein Eis“ den drögen Dienst auflockern. Und die trotz gefunktem Einsatzkommando warten, bis „Garmen“ beide Portionen zurechtdrapiert hat. „Nee, bei mir keene Sahne, die jehd jleich off de Hifde“, sagt die dünnere Polizistin noch, dann trotten sie gemütlich Richtung Einsatzwagen.
Schaurige Aussicht über die Stadt: Direkt an der Landstraße steht das Seniorenhaus „Geiselblick“ mit Blick auf ebenjene Hauptverkehrsader und die Gnadenkirche dahinter. Dort liegen alle Vermeldungen auch in Russisch aus. Alte Gewohnheit oder Andrang der frommen Spätaussiedler? Niemand, den man fragen könnte. Und der Typ am Bahnhof weiß auch nichts. Er wartet zwanzig Minuten, bis der Zug kommt, um dann den Bahnsteig in Richtung Stadt zu verlassen. So ähnlich scheint es hier mit dem Aufschwung zu sein: ein Warten, ein desillusioniertes Hoffen – und die einmalige Gelegenheit zum Fortkommen zieht ungenutzt an Braunsbedra vorbei.

Thomas Zimmermann

 

An einem Herbsttag

Der Sommer hatte sich am Tag für einen Moment in den Herbst geschlichen. Seine Sonnenstrahlen gaben den Bäumen ein magisches Flirren und wärmten meine Haut. Ein sanfter Windhauch ließ gelbe und rote Blätter regnen und meine Füße schienen über dem weichen Laubteppich zu schweben.
Am Abend war die Wärme nur Erinnerung und der Himmel dunkelgrau. Vorm Dorf zerrrissen aber rosa Streifen das eintönige Grau. Kraniche kreisten über den Wiesen und landeten mit lautem Geschrei hinter dem Wald. Gelb und Blau hatten sich jetzt in das Rosa des Himmels gemischt. Ein weißer Nebel war aufgestiegen und gab dem Wald einen Rahmen. Der Nebel näherte sich dem Dorf und hüllte es schließlich in seine Watte ein. Die Kraniche waren verstummt, das Dorf lag still und weiß.
(Oktober 2012)

Margit van Ham

 

Karriere?

Persönlichkeitsstörungen sind, so sagt der Psychologe Reinhard Haller, „vorzügliche Charaktereigenschaften zum Karrieremachen“ im Standard. Was er nicht sagt, ist, dass Karriere gerade deswegen eine schwere Störung ist. Ja sogar noch mehr: Nicht nur die Persönlichkeitsstörung ist eine Störung, sondern ebenso die Persönlichkeit selbst. Dem ist so. Diese Aussagen sind übrigens Dekrete, sie lassen keinen Widerspruch zu. Wer dagegen ist, hat sich sowieso für die freiwillige Einlieferung ins Arbeitslager entschieden.
Je gestörter jemand ist, desto größer also die Chancen, desto besser wird er oder zunehmend auch sie die Karriereleiter raufklettern. Wenn man schon sonst nichts hat vom Leben, zu einer Karriere wird’s doch noch reichen. Es ist da ein ständiges Defizit, das uns antreiben soll, man ist sich etwas schuldig. Und den anderen noch mehr. Das Ich ist sich nicht genug, es hat sich als Rolle zu etablieren. Ziele werden gesteckt und Aufgaben gestellt. Fehlt nur noch die Kompetenzbasis und das Netzwerk. Nicht zu sich kommen, sollen die Leute, sondern etwas werden, eine Laufbahn einschlagen. Dafür burnen sie – in and out! Die Gewordenen und die Ungewordenen treffen sich im Bekenntnis dieses Werdens. Aber ich red mir’s da leicht, denn aus mir ist ja auch akkurat nichts geworden. Mit 50+ ist es sowieso schon zu spät.
Karriere macht krank, weil sie krank ist. Die scheitern, scheitern und die nicht scheitern, scheitern auch. Wer da gescheiterter dran, ist, ist oft schwer zu sagen. Tatsächlich muss nur etwas werden, wer nichts ist. Nichtig das Subjekt, das solche Bestimmungen nötig hat. Wer meint, ein Karriereprofil haben zu müssen, ist entweder ein gefährlicherer Irrer oder eine bedrängte Kreatur. Beide Typen tun nicht gut, weder sich noch anderen. Die Alternative, ob jemand ein scharfer Hund ist oder ein armer Hund, ist keine. Kein Hund zu sein, das wäre eine.

Franz Schandl

Warum ich weiß, was du denkst

Eine Versuchsperson begab sich in einen abgesonderten Raum, wo eine Kiste mit vier Gegenständen stand: eine Kaffeetasse, ein Hammer, ein Stofftier und ein Buch. Sobald die Versuchsperson allein war, sollte sie sich irgendeinen Gegenstand herausgreifen und ihn von allen Seiten genauestens betrachten. Danach sollte sie auf einem Blatt Papier notieren, welchen sie sich ausgesucht hatte, und es in einen Briefumschlag stecken. Während nun die Person auf einem Bildschirm Fotos der vier Gegenstände betrachtete, wurden ihre Hirnaktivitäten gemessen.
Die vier charakteristischen Messkurven, die schließlich entstanden, wurden nun Außenstehenden vorgelegt. Diesen fiel sofort auf, dass eine Kurve ein abweichendes Muster aufwies – nämlich diejenige, die sich ergeben hatte, als die Versuchsperson den von ihr ausgewählten Gegenstand inspizierte. Der Neurobiologe und Psychologe Rainer Bösel, der gegenwärtig an der International Psychoanalytic University Berlin arbeitet, hat das Experiment wiederholt durchgeführt. Es endete jedes Mal mit demselben Ergebnis: Die Außenstehenden errieten auf Anhieb, was auf dem Blatt Papier im verschlossenen Umschlag stand. Die meisten Versuchspersonen hingegen waren ziemlich verblüfft und hatten das unangenehme Gefühl, dass andere ihre Gedanken lesen konnten. Die moderne Gehirnforschung – erklärt Bösel ausdrücklich – ist allerdings außerstande, Gedanken lesbar zu machen. Aber obwohl ihre Messverfahren immer noch ziemlich grob sind, kann sie immerhin einiges von dem erschließen, was in den Köpfen von Menschen vor sich geht.
Der dreiundreißigjährige Brite Daniel Tammet beherrscht zwölf Sprachen fließend, darunter Finnisch, Litauisch, Rumänisch, Walisisch und Isländisch, das er innerhalb einer einzigen Woche gelernt hat. Sein Gedächtnis ist derart phänomenal, dass er sich Tag für Tag gewaltige Datenmengen einverleiben kann und fast nichts vergisst. Und er verfügt über die Fähigkeit, anspruchsvollste Rechenaufgaben in halsbrecherischem Tempo zu lösen. Tammet hat allerdings schon einige Mühe damit, rechts und links zu unterscheiden. Er hat erhebliche Schwierigkeiten damit, die Gesichter seiner Bekannten wieder zu erkennen. Und ständig ist er der Gefahr ausgesetzt, von Reizen überflutet zu werden. Um sich dagegen zu schützen, hat er sein Alltagsleben strengen Ritualen unterworfen. So isst er jeden Morgen exakt 45 Gramm Porridge zum Frühstück, trinkt jeden Tag exakt zur gleichen Zeit Tee, und er kann erst dann seine Wohnung verlassen, wenn er alle Kleidungsstücke gezählt hat, die er gerade trägt. Doch vor allen Dingen fällt es ihm schwer, die Gefühlswelt anderer Menschen intuitiv zu verstehen und ihre Mimik und Gestik zu entschlüsseln.
Woran Autisten wie Tammet immer wieder scheitern, scheint den meisten Menschen in ihrem Alltag spielend zu gelingen – zu erraten, was andere wohl gerade denken und fühlen, und auf ihre erschlossenen Gedanken und Gefühle mit sozialen Handlungen angemessen zu reagieren.
Rainer Bösel beschäftigt sich in seinem neuen Buch systematisch mit den Fähigkeiten, die man braucht, um dieses Kunststück zu Stande zu bringen. Er befasst sich mit der Evolutionsgeschichte dieser Fähigkeiten  und mit den Folgen, die es hat, wenn sie nur mangelhaft ausgebildet sind. Und er arbeitet im Einzelnen heraus, welche Gehirnareale in Aktion treten, wenn diese Fähigkeiten in Alltagssituationen angewendet werden.
Eine exzellente Einführung in die Neurobiologie des menschlichen Einfühlungsvermögens.

Frank Ufen

Rainer Bösel: Warum ich weiß, was du denkst, Galila Verlag, Etsdorf am Kamp 2012, 266 Seiten, 21,90 Euro

 

Quartett mit Oskar

Nach eigenem Bekunden musizieren sie seit dreißig Jahren zusammen und haben die letzten zehn Jahre überlegt, was sie da eigentlich gemeinsam so getrieben haben. Macht zusammen vierzig Lenze, geteilt durch vier Musikerinnen: Hoppla – da ist ja ein zehnjähriges Jubiläum fällig. Das Programm dazu heißt passenderweise „Dichtung und Wahrheit“, und diese spezielle Art der Arithmetik findet ihre Entsprechung dann auch durchaus in der exzentrischen Akrobatik, die diese vier Hamburger Damen unter dem Label „Salut Salon“ mit ihren in der Standardbesetzung klassischen Instrumenten – zwei Violinen, Cello und Klavier – gelegentlich aufs Parkett, respektive die Bühne, legen. Wobei auch diese in vollendeter Ästhetik dargebotenen Einlagen in keinem Fall die Seele des Programms dominieren – die Musik beherrscht die Szene, von Klassik bis Pop. Allerdings mit feinem Sinn für Ironie und schräge Arrangements, und dieser Sinn macht auch die kurzen Conférencen, bei denen die vier Grazien einander abwechseln, zu eigenständigen Kleinoden.
Das Damen-Quartett besteht im Übrigen nicht nur aus virtuosen Beherrscherinnen ihrer Instrumente – hinzu kommen vielmehr veritable Singstimmen, die ebenfalls nicht nur gelegentlich im Einsatz sind. Das Resultat ist eine Konzertshow vom Feinsten, das auf deutschen Musikbühnen derzeit zu hören und zu sehen ist. Das hat sich längst auch im Ausland herumgesprochen – bis China, wo die Künstlerinnen bereits mehrfach gastierten.
Einen Oscar hat das Quartett zwar noch nicht erhalten, dafür hat es seinen eigenen Oskar bei einigen Stücken direkt mit auf der Bühne. In Gestalt einer Handpuppe im Frack und mit Fliege sowie durchaus eigenständiger musikalischer Persönlichkeit. Nur schade, dass „Salut Salon“ inzwischen zu etabliert ist, um noch in Fußgängerzonen oder auf Hochzeiten aufspielen zu müssen, wie die Vier von ihren schweren (vorgeblichen) Anfängen berichteten. So haben sie wohl leider auch keine „Gruftmuggen“ mehr nötig. Denn wie sie Chopins „Marche funèbre“ darboten, da will man sie glatt für die eigene Beerdigung buchen, auf dass es dabei nicht zu gruftig zugehe.
Wer das einzige Berliner Konzert von „Salut Salon“ in diesem Jahr am 4. November im Konzerthaus verpasst hat, der tut gut daran, den Tourneeplan des Quartetts im Internet regelmäßig zu verfolgen. Für den zweitausendundzwölfer Termin waren die Karten im vergangenen Jahr um diese Zeit nämlich schon fast aus. Bis zur Premiere des nächsten Programms im Juni 2013 am Thalia Theater in Hamburg ist derzeit jedoch noch kein neuer Auftritt für Berlin ausgewiesen …

Alfons Markuske