28. Jahrgang | Nummer 14 | 18. August 2025

Russland – kein Anschluss unter dieser Nummer?

von Gabriele Muthesius

Wir müssen die Erneuerung des 2026 auslaufenden New-Start-Vertrags schaffen […].
Ich gebe […] zu, ich kann mit meinen Bemühungen und Ansichten jederzeit auch scheitern.
Aber dieses Russland wird ja nicht weg sein. Wir müssen eine Koexistenz finden,
um das Überleben zu sichern.

Rolf Mützenich,
ehemaliger Fraktionschef der SPD im Bundestag

 

Zum ersten Mal in der Geschichte kämpft Russland allein gegen den gesamten Westen.
Im Ersten und Zweiten Weltkrieg hatten wir Verbündete.
Jetzt haben wir keine Verbündeten auf dem Schlachtfeld.

Sergei Lawrow,

russischer Außenminister

 

Mit einem ähnlichen Impetus wie dem von Rolf Mützenich wurde in der vorangegangenen Ausgabe des Blättchens ein Plädoyer für einen grundlegenden Wandel in der Politik des Westens gegenüber Russland vorgetragen – von der Konfrontation zurück zu Kooperation. Wenn man sich dessen Logik nicht verschließt, ergibt sich jedoch zwingend die Frage: Träfe ein entsprechender westlicher Wandel nach über einem Vierteljahrhundert sich aufschaukelnder Feindseligkeiten – gerechnet seit 1999, dem Jahr der ersten NATO-Osterweiterung – in Moskau noch auf relevante, ähnlich denkende Resonanz- und Ansprechpartner?

Wenn sich im Kreml ein Denken durchsetzt oder bereits durchgesetzt hat, wie es aus den jüngsten Arbeiten des russischen Sicherheitsexperten Dmitri Trenin spricht, muss diese Frage verneint werden.

Trenin ist einer der am aktivsten publizierenden Fachleute, der auch in diesem Magazin schon zu Wort gekommen ist (siehe 4/2022 und 2/2025). Er war jahrzehntelang Verfechter eines kooperativen Ost-West-Verhältnisses.

Nach einer militärischen und militärwissenschaftlichen Laufbahn, die er 1993 im Rang eines Obersts beendete, nachdem er zwischen 1985 und 1991 Delegationsmitglied bei den sowjetisch-amerikanischen START-Verhandlungen war, heuerte er 1994 beim Moskauer Zentrum der Carnegie-Stiftung an. Von 2008 bis zu dessen Schließung im Jahre 2022 amtierte Trenin als Leiter des Zentrums. Der Kreml hat ihm dies offensichtlich nicht verübelt, denn nach seinem Ausscheiden gelang ihm eine nahtlose Rückkehr in die staatsnahe sicherheitspolitische Community Russlands. Derzeit wird er als Forschungsprofessor an der Higher School of Economics und leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen in Moskau ausgewiesen; er ist überdies Mitglied des Russischen Rates für Internationale Angelegenheiten. All dies legt die Vermutung nahe, dass er in seinen Carnegie-Jahren zwar für US-Salär gearbeitet, dabei aber zu keinem Zeitpunkt die Seiten gewechselt hatte.

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Trenins Fazit im Hinblick auf das derzeitige Verhältnis zwischen Russland und dem Westen: „Es gibt keinen Weg zurück …“ – Formuliert in einem Beitrag unter der Überschrift „[…] Der Dritte Weltkrieg hat bereits begonnen […]“, den das russische Wirtschaftsmagazin Profil am 12. Juli 2025 publizierte. Dieser Weltkrieg sei „eine Ansammlung mehrerer Konflikte, die die führenden Mächte – die USA mit ihren Verbündeten, China und Russland – betreffen“. An der Zielstellung des Westens besteht für Trenin kein Zweifel: „[…] diejenigen zu vernichten, die er als Konkurrenten ansieht“. Als da wären: Russland, China, Iran, Nordkorea. Und: „Vernichten ist keine Übertreibung.“ Oder (von Trenin) anders ausgedrückt: „Das ist im wahrsten Sinne des Wortes ein totaler Krieg.“

Nach dieser Expertise strebt der Westen einen Regimewechsel in Moskau an: „Die Strategie des Westens gegenüber Russland besteht – nach dem gescheiterten Versuch, ihm eine ‚strategische Niederlage‘ [im Ukraine-Krieg – G.M.] zuzufügen – darin, es in einem Krieg wirtschaftlich und psychologisch zu zermürben, unsere Gesellschaft zu destabilisieren, das Vertrauen in die Führung des Landes und ihre Politik zu untergraben und neue Unruhen zu schüren. Der Gegner geht davon aus, dass seine Bemühungen während der Übergabe der Staatsmacht [Hervorhebung – G.M.] ihren Höhepunkt erreichen müssen.“

Im Hinblick auf die USA konstatiert Trenin: Ungeachtet des Machtwechsels zu Trump sei die „amerikanische politische Elite […] gegenüber Russland insgesamt nach wie vor feindselig eingestellt. Eine neue Entspannung mit den USA wird es nicht geben […].“ Wobei er zugleich daran erinnert: „[…] die letzte ist schlecht ausgegangen“.

Die „Staaten der Europäischen Union und die europäischen NATO-Staaten sowie die ihnen nahestehenden Länder“ bezeichnet Trenin „der Kürze halber als ‚politisches Europa‘ oder einfach ‚Europa‘“ (siehe sein vom Institut für Weltwirtschaft und Strategie der russischen Hochschule für Wirtschaft veröffentlichtes Diskussionsmaterial „Über die Beziehungen Russlands zu den Ländern Europas“; auf Deutsch bei Globalbridge, 11.05.2025). Sein Befund über diese Region fällt noch harscher aus: „Der ‚heiße‘ Krieg in der Ukraine entwickelt sich zu einem direkten Krieg Europas gegen Russland.“ Das vereinigte Europa habe sich „ernsthaft das Ziel gesetzt, Russland zu vernichten“. Und dies, so Trenin im Globalbridge-Beitrag, weil sich frühere „Hoffnungen Deutschlands und anderer Länder, Russland zu einem politisch kontrollierbaren Rohstofflieferanten der EU zu machen“, infolge Putins fester Entschlossenheit, „den Weg der Souveränisierung zu gehen“, zerschlagen hätten.

Angesichts des Hochrüstungshypes und anderer russlandfeindlicher Aktivitäten des Westens stellt Trenin in seinem Profil-Beitrag die seiner Meinung nach „berechtigte Frage: Handelt es sich um Vorbereitungen zur Verteidigung oder zum Angriff?“ Bereits im Globalbridge-Beitrag hatte er skizziert, welche Entwicklungen er in diesem Zusammenhang im Blick hat: „Die EU-Staaten und die Europäische Kommission treffen Entscheidungen, die auf den Ausbau der Rüstungsproduktion abzielen. Die Militärausgaben einzelner Länder steigen spürbar an. Im Jahr 2025 hat Deutschland eigens sein Grundgesetz geändert, um sich das verfassungsmäßige Recht zu sichern, die Staatsverschuldung zu erhöhen und deutlich mehr für militärische Zwecke und Infrastruktur auszugeben. Es werden Vereinbarungen über die Integration des Logistiknetzes der europäischen Länder und die Vereinfachung der Regeln für die Verlegung von Truppen und militärischer Ausrüstung […] getroffen. Die führenden Länder Europas – Deutschland und Frankreich sowie Polen – haben umfangreiche Pläne zur Aufrüstung ihrer Armeen angekündigt. Die operative Erschließung des Territoriums der neuen NATO-Mitglieder Finnland und Schweden schreitet zügig voran. Länder, die die Wehrpflicht abgeschafft haben – wie die Bundesrepublik Deutschland – denken über deren Wiedereinführung nach. Die Bevölkerung der europäischen Länder wird intensiv im Sinne der ‚russischen Bedrohung‘ und der Notwendigkeit, sich bereits bis 2030 auf einen Krieg mit Russland vorzubereiten, bearbeitet.“

Trenin schlussfolgert daraus einerseits: Russland müsse sich „bewusst sein, dass wir […], wenn auch nur ein Teil der Pläne umgesetzt wird, eine neue militärisch-politische Realität an unseren westlichen Grenzen vorfinden werden“. Und andererseits, „dass Europa den Platz des Hauptgegners Russlands im Westen eingenommen hat. Wir müssen davon ausgehen, dass die antirussische Politik auf absehbare Zeit der Hauptpfeiler der europäischen Integration bleiben wird und die Konfrontation mit Russland der Hauptsinn der Existenz der Europäischen Union“.

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Der Düsternis seiner Befunde entspricht Trenins Prognose: Russland stehe „ein langer Krieg bevor. Einen Sieg wie 1945 wird es in der Ukraine nicht geben. Die Auseinandersetzung wird in anderen Formen weitergehen, möglicherweise auch militärisch. Es wird […] keine stabile Konfrontation (also friedliche Koexistenz) wie in den Jahren des Kalten Krieges geben. Im Gegenteil […].“

Dass es möglicherweise noch ein paar globale Herausforderungen gibt, die zivilisationsgefährdendes Potenzial haben oder entwickeln könnten (Klimawandel, Pandemien, Armutsmigration …) und
– die direkt oder mittelbar nicht zuletzt Russland betreffen,
– die nur gemeinsam mit dem Westen und den anderen Weltregionen (vielleicht, respektive hoffentlich) zu bewältigen wären,
– für die jedoch die Unsinnssummen, die jetzt und künftig von beiden Seiten für Rüstung verpulvert werden, nicht mehr zur Verfügung stehen,

ist für Trenin augenscheinlich eine Quantité négligeable. Jedenfalls kommen entsprechende Fragestellungen in seinen Publikationen nicht vor.

Entsprechend sehen Trenins Handlungsempfehlungen für den Kreml aus. Der müsse:
– die Wirtschafts-, Finanz- und Technologiepolitik auf die Anforderungen eines langwierigen Konflikts ausrichten;
– dem demografischen Abwärtstrend der russischen Gesellschaft durch Maßnahmen zur Erhöhung der Geburtenrate und zielgerichtete Zuwanderung „umkehren“;
– der patriotischen Geschlossenheit der Gesellschaft „oberste Priorität“ einräumen;
– die Militärbündnisse im Osten (Belarus) und im Westen (Nordkorea) stärken;
– die OSZE („größtenteils nutzlos“) mehr oder weniger ignorieren;
– die NATO und die EU als „feindliche Organisationen“ behandeln. Russland sollte „keine Beziehungen zur Führung beider Organisationen unterhalten“, eine „Ausnahme bildet der Notfallkommunikationskanal mit dem Oberkommando der NATO“ sowie
– „die Einheitsfront unserer Gegner von innen […] untergraben und die Widersprüche zwischen den Interessen und Ambitionen verschiedener Staaten, Kräfte und Personen“ gegeneinander ausspielen.

Was die „europäischen Anführer[…] des Kampfes gegen Russland – England, Frankreich, Deutschland –“ sowie „die ‚Aktivisten der ersten Stunde‘ des antirussischen Krieges […] – […] die Finnen, Polen und Balten“ – anbetrifft, so plädiert Trenin unverhohlen dafür, gegen diese gegebenenfalls vorzugehen wie gegen die Ukraine: „Wenn eine Konfrontation unvermeidlich ist, müssen wir präventive Schläge ausführen.“ Dabei kalkuliert er den Ersteinsatz von Kernwaffen ausdrücklich ein. Russland müsse „mutig handeln“ und bei Präventivschlägen, wenn „nötig […] mit Atomwaffen“ operieren. Trenins Credo: „Nukleare Abschreckung kann nicht nur passiv, sondern auch aktiv sein und den begrenzten Einsatz von Atomwaffen einschließen.“

Experten warnen seit Jahrzehnten davor, dass jeder atomare Ersteinsatz zum unkontrollierbaren Schlagabtausch bis hin zur allgemeinen Vernichtung eskalieren könnte – die dann selbst Russland nicht verschonte. Trenin ist das offenbar keine Erwägung wert. Ihm geht es vielmehr um Höheres, ja Höchstes – „den Kampf um einen würdigen Platz für Russland in der sich herausbildenden neuen Weltordnung“.

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Voilà – verhält sich der Westen also mit seinem Kreuzzug gegen Russland nicht völlig angemessen? Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil!

Unbedingt! Man löscht ja bekanntlich auch Schwelbrände immer am besten mit – Benzin …