28. Jahrgang | Nummer 4 | 24. Februar 2025

Atomarer Ersteinsatz als Mittel aktiver Abschreckung?
Im Gespräch mit – Dmitri Trenin

Siegfried Fischer*: Herr Trenin, wir kennen uns seit der gemeinsamen Arbeit am Buch „Satansfaust – Das nukleare Erbe der Sowjetunion“, das 1992 im Berliner Aufbauverlag erschien. Wir waren all die Jahre im sicherheitspolitischen Gedankenaustausch. Ihre Tätigkeit als Direktor des Carnegie-Moscow-Center hat mich wegen Ihrer Kunst der Vermittlung sicherheitspolitischer Analysen an sprachlich, kulturell und geistig sehr unterschiedliche Welten stark beeindruckt.

Nach der Schließung des Centers haben Sie eine neue Wirkungsstätte an einem strategischen Think Tank Russlands gefunden. Ihre aktuellen Publikationen sprechen eine klare und deutliche Sprache.

Das gerade erschienene Buch „От сдерживания к устрашению“ – was man vielleicht mit „Von passiver zu aktiver Abschreckung“ übersetzen könnte –, welches Sie gemeinsam mit Sergey Avakyants und Sergey Karaganov geschrieben haben, ist die Quintessenz eines an die russische Regierung gerichteten Dossiers mit scharfen Bewertungen der nuklearbasierten sowjetischen und russischen Militär- und Sicherheitspolitik von der Vergangenheit bis in die Gegenwart und klaren Empfehlungen für einen Ausweg aus der sogenannten nuklearen Abschreckungsfalle.

Im Verlag Molodaya Gvardiya erschien neben der russischsprachigen auch eine englischsprachige Ausgabe. Im Verlag WeltTrends ist eine deutschsprachige Ausgabe in Arbeit. Unser Gespräch soll die wichtigsten Thesen daraus thematisieren.

Vorab eine persönliche Frage, die mir auch viele Freunde gestellt haben: Wie haben Sie den Übergang vom international hochgeschätzten Carnegie-Moscow-Center zu Ihrer neuen Wirkungsstätte als Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Weltmilitärökonomie und -strategie mental bewältigt. Welche Herausforderungen sehen Sie nach diesem Wechsel?

Dmitri Trenin**: Tatsächlich habe ich am neuen Institut an der Higher School of Economics das fortgesetzt, was ich am Carnegie-Moscow-Center getan habe. Meine Spezialisierung ist das Studium der internationalen Beziehungen, vor allem in Bezug auf Russland. Die Situation hat sich dramatisch verändert: Bis 2022 konzentrierte ich mich hauptsächlich darauf, die (aus russischer Sicht) besten Optionen für den Aufbau von Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und Europa zu finden; seit 2022 konzentriere ich mich auf den Aufbau eines Modells der russischen Außenpolitik unter den Bedingungen der Konfrontation mit dem kollektiven Westen. In beiden Fällen beurteilte und beurteile ich die Situation aus der Sicht Russlands, aber als ich bei Carnegie war, konzentrierte ich mich darauf, dem westlichen Publikum die Motive der russischen Politik zu erklären, und am HSE-Institut hingegen darauf, das Verhalten der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu analysieren. Um ehrlich zu sein, fällt es mir jetzt leichter zu arbeiten: Ich muss mir nicht mehr ständig Sorgen machen, dass meine Argumente in Russland und im Westen gleichermaßen verstanden werden. Ich arbeite jetzt in einem russischen Umfeld für ein russisches Publikum.

 

My country, right or wrong. Welche Erwartungen haben Sie und Ihre Kollegen im Rat für Außen- und Verteidigungspolitik und dem Think Tank der Higher School of Economics, die russische Realpolitik so zu beeinflussen, dass „more right than wrong“ zur Devise wird?

Es herrscht Krieg und er erlegt den Analysten, die in einem Land im Krieg arbeiten und öffentlich auftreten, ganz besondere Verpflichtungen auf. Gleichzeitig bedeutet die Treue zum eigenen Land und der Einsatz für dieses nicht, dass man die Objektivität der Analyse ablehnt. Mehr noch, hier sind Ehrlichkeit und Mut der besonderen Art gefragt. Ich habe das Militär vor mehr als 30 Jahren verlassen. Seitdem habe ich die Gelegenheit genutzt, meine Einschätzungen der Situation, in der sich Russland befindet, öffentlich darzulegen, und ich habe die Verantwortung übernommen, Handlungsoptionen in verschiedenen Bereichen vorzuschlagen. Selbst als ich im Team des Carnegie-Moscow-Center war, wurden diese Publikationen in Russland beachtet, und die Schlussfolgerungen, die ich zog, wurden ernst genommen. Jetzt arbeite ich in einem neuen Team am Institut für Internationale Militärökonomie und -strategie. Unsere Aufgabe ist es, eine freie öffentliche Diskussion über die wichtigsten Fragen der Außen- und Verteidigungspolitik des Landes anzustoßen und Lösungen für Probleme anzubieten. Manche Dinge machen wir öffentlich, manche nicht. Wir handeln im Interesse des Landes, aber auf der Grundlage von uns gemeinsamen Werten und moralischen Prinzipien.

 

Das neu erschienene Buch hat ein Verständigungsproblem sichtbar gemacht. Russisch klingt es eindeutig „От Сдерживания к Устрашению». Auch der Titel der englischsprachigen Ausgabe „From Restraining to Deterring“ klingt eindeutig. Dennoch gibt es sprachliche Irritationen, erst recht im transatlantisch geprägten deutschen Sprachgebrauch. Abschrecken, Angst erwecken, Ernüchterung hervorrufen – was ist das Wesen Ihres Strategievorschlags?

In der Tat haben wir im Titel des Buches versucht, die Hauptidee auf den Punkt zu bringen: die Notwendigkeit, von einem passiven – und überholten – Konzept zu einem aktiveren und vor allem effektiveren Konzept der Abschreckung des Gegners überzugehen. In den dreieinhalb Jahrzehnten seit dem Ende des Kalten Krieges ist die Angst vor Atomwaffen verblasst. Es ist eine Art „nukleares Tabu“ entstanden –unter keinen Umständen Atomwaffen einzusetzen. Dies ist eine gefährliche Situation in einer Welt, in der die Widersprüche zwischen den Staaten, die Atomwaffen besitzen, sich nicht mildern, sondern, im Gegenteil, stark zunehmen. Während des Kalten Krieges spielte die Angst vor der Aussicht auf eine gegenseitige nukleare Vernichtung zwischen der UdSSR und den Vereinigten Staaten eine rettende Rolle. Der Kalte Krieg blieb kalt. Die Biden-Regierung hat heutzutage öffentlich das Ziel angekündigt, Russland eine strategische Niederlage zuzufügen. Das ist eine gefährliche Illusion: Wir sprechen von einer Atommacht. Deshalb hatte Moskau das Bedürfnis, dem Gegner die Angst zurückzugeben, damit er die Menschheit nicht in einen Atomkrieg stürzt. Daher die Stärkung der Abschreckung in Richtung einer wirksameren Abschreckung. Es ist notwendig, den Feind zu ernüchtern, in ihm den verlorenen Sinn für Realität und Verantwortung wieder zu erwecken – zumindest für sein Land und seine Verbündeten.

 

Damit wären wir bereits bei der Gretchenfrage des atomaren Patts. Niemand kann beweisen, dass der Ersteinsatz auch nur einer einzigen Kernwaffe unausweichlich zum atomaren Weltkrieg führt. Aber auch das Gegenteil kann niemand beweisen. Was nützt also ein atomares Patt mit Weltuntergangsniveau, wenn die politischen und militärischen Akteure keine Angst mehr vor so einem Risiko haben? Wie ernst ist das von Ihnen benannte Atom-Tabu zu nehmen? Ist die Neuausrichtung der russischen Nukleardoktrin der Ausweg für Russland? Ist der Ersteinsatz von Kernwaffen (klein- oder großkalibrig, gegen boden-, see-, luft- und weltraumgestützte Ziele oder gar mittels einer nuklearen Höhenexplosion mit großflächig verheerendem elektromagnetischem Impuls gegen digitale Infrastrukturen) im russischen militärischen Denken und Planen tatsächlich zu einer operativen Richtschnur geworden?

Ich kann nur in meinem eigenen Namen sprechen. Natürlich kenne ich die Positionen meiner Kolleginnen und Kollegen gut. Was den Rest angeht, kann ich nur aus offenen Quellen urteilen. In diesem Buch geht es um eine Strategie der nuklearen Abschreckung, nicht um eine Doktrin für einen Atomkrieg. Unsere Bemühungen zielen darauf ab, einen Atomkrieg jeder Art und Weise zu vermeiden. Allerdings – und das ist das bekannte Paradoxon der nuklearen Abschreckung – ist die Verhinderung eines Atomkrieges nur durch die Angst vor der nuklearen Vernichtung möglich. Der Gegner muss davon überzeugt werden, dass sein Wunsch, Russland eine strategische Niederlage zuzufügen, mit dem unvermeidlichen Risiko seiner eigenen Vernichtung behaftet ist. Er muss auch verstehen, dass die Strategie der Eskalation des Krieges in der Ukraine, die von den Vereinigten Staaten und ihren NATO-Verbündeten verfolgt wird, eine Art „russisches Roulette“ ist – allerdings mit einer nuklearen Kugel in der Trommel des Revolvers. Die neue Fassung der Nukleardoktrin der Russischen Föderation ist ein Signal an reale und potenzielle Gegner, dass die Bedingungen für den Kernwaffeneinsatz Russlands sich grundlegend erweitert haben und sich nicht darauf begrenzen, dass die Existenz des russischen Staates gefährdet ist.

 

Und nun von der Ebene der Strategie zur hässlichen Wirklichkeit des Krieges in der Ukraine. Sollte dieser Krieg zu einer direkten militärischen Auseinandersetzung zwischen der NATO und Russland eskalieren, so haben Sie mit anderen Kollegen schon früher die Auffassung vertreten, dass ein atomarer Ersteinsatz im Falle eines konventionellen Krieges nicht erst dann vorgesehen sein sollte, wenn dadurch die Existenz des Staates auf dem Spiel stände, sondern bereits zu einem früheren Zeitpunkt. Nähert sich der Krieg in der Ukraine bereits einem solchen Punkt? Und welche Ziele kämen für einen abschreckenden und, zumindest intendiert, kriegsverkürzenden beziehungsweise -beendenden Kernwaffeneinsatz aus russischer Sicht in Frage?

Die 2020 veröffentlichte russische Nukleardoktrin sah eine zu hohe Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen vor. Dieser Umstand erzeugte bei den wahrscheinlichen Gegnern Russlands die Illusion, dass es möglich sei, einen strategischen Sieg über eine nukleare Supermacht zu erringen, indem man unterhalb der nuklearen Schwelle operiert und ein Drittland als „Stellvertreter“ benutzt. Diese Situation untergrub die Wirkung der nuklearen Abschreckung und destabilisierte die strategische Lage. Meine Kollegen und ich haben in unseren Publikationen öffentlich auf diese Gefahr hingewiesen. Im Herbst 2024 wurde die Situation korrigiert und die offizielle Liste der Bedingungen für den Einsatz von Atomwaffen durch Russland deutlich erweitert.

Was nun konkret die Ukraine anbetrifft: Ab 2023 entwickelte sich die Situation im Operationsgebiet zugunsten Russlands. Eine Bedrohung für die Existenz des russischen Staates besteht nicht. Gleichzeitig provoziert der Gegner – die Ukraine und die hinter (und über ihr) stehenden USA und ihre NATO-Verbündeten – Russland mit Angriffen tief in russisches Territorium und versucht, der Russischen Föderation maximalen Schaden zuzufügen. Wenn wir auf diese Angriffe nicht reagieren, wird der Gegner weiter eskalieren und schließlich einen direkten militärischen Zusammenstoß zwischen der NATO und Russland herbeiführen, der mit einem Atomkrieg und letztlich der Vernichtung eines großen Teils der Menschheit verbunden sein wird. Atomwaffen – einschließlich der Androhung ihres präventiven Einsatzes – sollen diese globale Katastrophe verhindern.

 

Sie und Ihre Kollegen reduzieren die Modernisierung der Abschreckung allerdings nicht auf die nukleare Ebene. Sie sprechen zugleich von einem „strategischen Parasitismus“ des transatlantisch dominierten Westens, der nicht nur aus russischer Sicht eine politische und wirtschaftliche „Einschnürung“ Russlands zum Ziel und bereits weitgehende Erfolge gezeigt habe. Warum haben das strategische russische Denken und die verantwortlichen Politiker so versagt?

In der Tat war die Reduzierung der strategischen Abschreckung auf eine nukleare Komponente ein schwerer Fehler der russischen Politik nach dem Zusammenbruch der UdSSR. Der Krieg in der Ukraine ist ein Versagen der geopolitischen Abschreckung. Der Westen glaubte, dass sich die territoriale Ausdehnung seiner Einflusssphäre in Osteuropa bis an die Grenzen Russlands fortsetzen könnte. Mit anderen Worten, die westlichen Strategen haben entschieden, dass Russlands Sicherheitsinteressen, wie sie von Moskau aus gesehen werden, ignoriert werden können, ohne eine russische Reaktion oder Präventivaktionen der Russischen Föderation befürchten zu müssen. Die Wurzeln des strategischen Fehlers Moskaus liegen in der unerschütterlichen Überzeugung der russischen Führung seit fast einem Vierteljahrhundert – von Gorbatschow über Jelzin bis Putin – von der Möglichkeit einer Integration Russlands in ein „gemeinsames europäisches Haus“, in einen Sicherheitsraum „von Vancouver bis Wladiwostok“, in „gemeinsame Räume mit der EU“ und zeitweise sogar eines NATO-Beitritts Russlands. Dieser Fehler kam Russland teuer zu stehen, aber er brachte auch einen Schatz an Erfahrungen und die Einsicht mit sich, dass Russland eine besondere Staatszivilisation ist, die organisch nicht in eine andere zivilisatorische Struktur eingebaut werden kann.

 

Ein zentraler Ansatz ist Ihre Kritik an einer fehlenden geopolitischen Abschreckung durch politische, wirtschaftliche, informationelle und andere nichtmilitärische Mittel, jedoch in Verbindung mit militärischer Abschreckung. Das Ziel bestehe darin, den strategischen Gegenspieler daran zu hindern, nach der Ukraine eine „zweite Front“ gegen Russland zu eröffnen, sei es in der Arktis, in Asien, Transkaukasien oder im Nahen wie im Fernen Osten. In welcher Region sehen Sie die Hauptgefahr für Russland?

Die Konfrontation zwischen dem Westen und dem sich gegen die amerikanische Hegemonie „auflehnenden“ Russland, beschränkt sich nicht auf die Ukraine. Auch nach dem Ende der heißen Phase des Konflikts in der Ukraine wird diese Konfrontation bestenfalls in einen Modus umschlagen, der an den Kalten Krieg der 1940er bis 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts erinnert. Faktisch betrifft das die gesamte geopolitische Einkreisung Russlands – von der Arktis über Belarus bis zum Kaukasus sowie Zentralasien und bis zum russischen Fernen Osten – ein Territorium, wo die USA und die EU-Staaten ihren Einfluss mit dem Ziel der Zurückdrängung Russlands erweitern und Druck aus verschiedenen geografischen Richtungen ausüben wollen. Schwerpunkte sind dabei meines Erachtens vor allem die Arktis und Zentralasien. Es sind diese Regionen, denen Moskau meiner Meinung nach vorrangige Aufmerksamkeit schenken sollte.

 

Sie haben in Ihrem Buch das Augenmerk auf das Thema der sogenannten Farbrevolutionen und jeglicher Art von antirussischen Provokationen gelenkt. Es wird immer wieder vom kollektiven Westen als Initiator gesprochen. Zugleich äußern Sie Ihr großes Unverständnis über die westeuropäische Politik, die wie ein Schlafwandler in einen dritten Weltkrieg zu taumeln scheint. Gibt es keine signifikanten Unterschiede im sogenannten kollektiven Westen?

Der kollektive Westen des ersten Viertels des 21. Jahrhunderts ist eine viel stärker integrierte Einheit als die „freie Welt“ der Ära des Kalten Krieges. Tatsächlich ist der kollektive Westen eine Konföderation, die von den USA angeführt wird. Die herrschenden Eliten der europäischen und anderer mit den USA verbündeter Länder sind gewissermaßen eine Sektion der globalen amerikazentrierten Elite. Ich würde sie mit der Komintern der 1920er und 30er Jahre oder der „sozialistischen Gemeinschaft“ der 1950er bis 80er Jahre vergleichen. Im Rahmen dessen, was ich „Libintern“ – Liberale Internationale – nenne, wurden die nationalen Interessen auf den zweiten oder dritten Rang zurückgedrängt und haben den Platz für transnationale „allgemeinwestliche“ Interessen freigegeben. Jene Eliten, die wie Ungarn und die Slowakei innerhalb der NATO/EU, darauf bestehen, die Interessen ihrer Länder in den Vordergrund zu stellen, werden als „Opportunisten“, als „Abweichler“ angesehen. Natürlich gibt es gewisse Unterschiede zwischen den USA und der EU. Die USA sehen die größte Bedrohung für ihre Hegemonie im Aufstieg Chinas, und die EU hat im „aggressiven Russland“ ein neues „Band“ ihrer Einheit gefunden. Diese Differenzen sind jedoch nicht grundlegend und können auf die eine oder andere Weise auf der Grundlage der globalen Interessen der USA beigelegt werden.

 

Sie und Ihre Mitautoren offerieren in Ihrem Buch eine Eskalationsklaviatur von insgesamt 24 politischen, militärtechnischen und militärischen Maßnahmen, mit denen – beginnend im diplomatischen Bereich und endend mit dem „Überschreiten der nuklearen Schwelle“ – die Moskauer Führung auf gegnerische Staaten einwirken könnte. Das ist eine stabstrichmäßige Aufzählung die Sie und Ihre Mitautoren als „‚Eskalationsleiter‘ der nuklearen Abschreckung“ bezeichnen.

Nun gibt es allerdings zwei grundverschiedene Typen von Menschen, nämlich a) jene, die in die Kategorie „Dienst nach Vorschrift“ fallen – da folgt auf Stufe 1 schematisch Stufe 2 dann 3 und so weiter; und b) gibt es jene, die in die meiner Erfahrung weit seltenere Kategorie, „eigenverantwortlich, kreativ, initiativ“ fallen, und eine Eskalationsklaviatur nicht als starre Step by step-Vorgabe begreifen, sondern als flexibles Instrument zu handhaben verstehen. Gibt es an den verantwortlichen Stellen in Russland genügend Vertreter der letzteren Art?

Die Eskalationsleiter in unserem Buch ist keine Schritt-für-Schritt-Anleitung über die Abfolge von Handlungen während eines Konflikts. Dabei handelt es sich vielmehr um eine bestimmte Gruppe von ausgewählten Instrumenten, die darauf zielen, Konflikte zu verhindern, gefährliche Entwicklungen zu stoppen oder einen Konflikt zu für unsere Seite günstigen Bedingungen zu beenden. All dies mit dem Verständnis, dass in einem echten Konflikt der oberste Stratege auf der Grundlage einer sich schnell verändernden Situation handeln wird, ohne an irgendwelche vorbereiteten Anweisungen gebunden zu sein. Strategie verlangt immer Kreativität. Der Entwicklung eines entsprechenden strategischen Denkens, insbesondere auf den hohen und höchsten Führungsebenen, kommt eine offensichtliche Priorität bei der Vorbereitung derjenigen zu, die Teil des nationalen Korps der strategischen Planer und Entscheider sind oder sein könnten.

 

Sie haben die Konfrontation des kollektiven Westens mit Russland als Bestandteil der globalen Krise der Weltordnung eingeordnet. Aus Ihrer Sicht müsse das postsowjetische Russland endgültig den Übergang vom Blockdenken in flexibles Koalitionsdenken vollziehen und auch so handeln. Inwieweit sind die aktuellen Politiker Russlands dazu bereit und fähig?

Meiner Meinung nach hat Russland keinen eigenen „Block“ und wird einen solchen auch in naher Zukunft nicht haben. Die Beziehungen Moskaus zu den Staaten, die wir als die Weltmehrheit betrachten (jene Staaten, die sich nicht an Sanktionskoalitionen gegen Russland beteiligen und keine Waffen in die Ukraine liefern), zeichnen sich durch Freiheit und Flexibilität aus. Diese Staaten sind Russlands souveräne Partner, aber nicht seine Verbündeten – mit Ausnahme von Belarus und in gewissem Maße auch Nordkorea. Meiner Meinung nach sind die russischen Staatsmänner seit langem daran gewöhnt, dass Armenien, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan – die OVKS-Mitgliedstaaten – eine Außenpolitik mit mehreren Vektoren betreiben, und für einige von ihnen (heute ist es Armenien) ist der russische Vektor nicht mehr der führende. Im Vergleich zur NATO mangelt es der OVKS an Hierarchie und politischer Disziplin.

 

Zum Abschluss eine persönliche Frage: Bleiben Sie Optimist?

Mutlosigkeit ist eine Sünde. Ich mache mir keine zu großen Hoffnungen auf den Menschen im Allgemeinen und auf die von Staatsmännern vollzogene Politik. Gleichzeitig glaube ich aber, dass jeder an seinem Platz alle Anstrengungen für seine vorbestimmten Ziele unternehmen sollte. Wir alle sind Geschöpfe, und wir sollten unserem Schöpfer durch unsere Taten danken.

 

* – Dr. Siegfried Fischer, Jahrgang 1948, ist ein deutscher Geschäftsmann, Politologe und Ex- Kapitän zur See. Bis 1990 war er als Marineoffizier, Lehrer und Wissenschaftler an der Militärakademie der NVA in Dresden tätig und promovierte 1983 zum Thema Friedliche Koexistenz und Militärmacht. 1990 gründete er gemeinsam mit dem Friedensforscher Otfried Nassauer das „Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit“ (BITS), wo er bis 1993 freiberuflich mitwirkte. Danach arbeitete er geschäftlich in Spanien und in Russland. Ab 2016 engagierte er sich im Bundesforum Mittelstand e.V. und gründete 2018 eine Consultingfirma, mit der er nach wie vor in den Ländern der GUS tätig ist.

Fischer ist Senior Research Fellow des WeltTrends-Instituts für Internationale Politik Potsdam und gelegentlicher Publizist, unter andrem  im Blättchen.

 

** – Dr. Dmitri Trenin, Jahrgang 1955, ist ein russischer Politologe, promovierter Historiker und Ex-Oberst. Von 1973 bis 1993 diente er in den Streitkräften und war von 1978 bis 1983 Verbindungsoffizier in der Abteilung für Außenbeziehungen der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) mit Standort in Potsdam. Von 1985 bis 1991 war Trenin Mitglied der UdSSR-Delegation bei den sowjetisch-amerikanischen Gesprächen zur Nuklear- und Weltraumbewaffnung in Genf. 1994 wechselte er zum Carnegie-Moscow-Center, das er von 2008 bis 2022 leitete. Derzeit ist Trenin Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Weltmilitärökonomie und Strategie der Nationalen Forschungsuniversität Hochschule für Wirtschaft in Moskau.