Nachdem CDU/CSU und SPD ihren Koalitionsvertrag mit dem Tenor „Verantwortung für Deutschland“ noch vor Ostern im Entwurf fertig und am 5. Mai 2025 unterzeichnet hatten (siehe Das Blättchen, 8/2025) und Friedrich Merz am 6. Mai zum Bundeskanzler gewählt wurde, gab dieser am 14. Mai seine erste Regierungserklärung ab.
So richtig programmatisch wurde das nicht. Die taz meinte, Merz hätte angekündigt, er wolle keinesfalls „mit einem ideologischen Großprojekt die Gesellschaft verändern“ – das habe aber auch niemand je von ihm erwartet. Diese Regierung werde „irgendwie so weitermachen wie bisher“. Ihr sei jedoch noch nicht einmal eine brauchbare Selbstbeschreibung eingefallen, „Verantwortung“ jedenfalls sei kein Ziel, sondern sollte für eine Regierung eine Selbstverständlichkeit sein.
Deutlich direkter schimpfte der Kolumnist Hans Ulrich Jörges, die Merz-Rede sei „kraftlos, ideenlos, leidenschaftslos“ gewesen. Der Stern dagegen witzelte, es gäbe bemerkenswerte Parallelen zwischen Merz und seinem Vorgänger Scholz und die hätten einen kuriosen Hintergrund: Diese jetzige Regierungserklärung sei maßgeblich vom Redenschreiber von Olaf Scholz verfasst worden. Das gehe aus internen Dokumenten aus dem Kanzleramt hervor, die dem Stern vorlägen. Demnach sei das Manuskript von Christian Doktor verantwortet worden, dem Chefredenschreiber von Scholz. Doktor hatte schon die „Zeitenwende“-Rede verfasst und dabei auch den Begriff als solchen kreiert.
Schaut man genauer hin, so findet sich dieser Christian Doktor tatsächlich Ende 2024 im Organigramm des Bundeskanzleramtes ganz oben, im Kanzlerbüro unter „Reden und Texte“. Der war allerdings anderenorts schon vorher aufgetaucht. Der scheidende glücklose Außenminister Heiko Maas hatte seiner Nachfolgerin Annalena Baerbock am 8. Dezember 2021 das Auswärtige Amt übergeben und ihr besonders verdiente Mitarbeiter empfohlen, darunter seinen Redenschreiber Christian Doktor. So hatte dieser schreibend jetzt bereits einen längeren Weg hinter sich.
Der Stern fragte nun im Kanzleramt an, es sei doch ungewöhnlich, dass ein Regierungschef auf das Reden-Team seines Vorgängers zurückgreife. In der Antwort hieß es, dass Merz „bei seinen Reden natürlich Entwürfe aus dem Haus entgegennehme“, dieser aber daraus „eigene Reden mache“. Außerdem werde der Redenschreiber Doktor das Kanzleramt im Sommer verlassen.
Spätere Historiker werden zu prüfen haben, welche Widersprüchlichkeiten in Sachen internationale Politik in der Regierungserklärung auf den Redenschreiber Doktor und welche auf Kanzler Merz zurückgehen. Am Ende, so meine Mutmaßung, wird jedoch herauskommen, dass es die Unfähigkeit der politischen Klasse in Deutschland ist, die Weltlage real einzuschätzen und daraus zutreffende Folgerungen für die Wahrnehmung deutscher Interessen und die Außenpolitik abzuleiten.
Vorn in der Regierungserklärung wird betont: „Wir brauchen in vielerlei Hinsicht einen Wechsel unserer Politik.“ Und der setze „Umdenken und neue Prioritäten an vielen Stellen voraus“.
Unklar ist hier alles: Wer ist „Wir“? In welcher Hinsicht welcher Wechsel? Und welches Umdenken? Welche neuen Prioritäten? Tatsächlich nämlich proklamiert die Rede gerade die Fortsetzung der verfehlten Außenpolitik von Scholz und Baerbock.
Zunächst wieder die Aussage, Russland habe mit „allen Regeln gebrochen“, die für das Zusammenleben in Europa nach der Überwindung der europäischen Teilung galten. Zuerst allerdings hatten die NATO und der Westen mit dem Krieg gegen Jugoslawien 1999 die Regeln von UNO-Charta, KSZE und OSZE gebrochen. Später folgte Russland mit dem Ukraine-Krieg und brach seinerseits das Völkerrecht. Dass der Westen vorangegangen war, wird jedoch nach wie vor ausgeblendet.
Es folgt Merzens Behauptung, der Ukrainekrieg und sein Ausgang würden darüber entscheiden, „ob auch künftig Recht und Gesetz gelten in Europa und der Welt oder Tyrannei, militärische Gewalt und das nackte Recht des Stärkeren“. Das ist ebenfalls falsch. Selbst wenn für die Ukraine jetzt ein ungerechter Frieden entsteht, wird es eine neue Staatenordnung in Europa geben, wie nach 1815, 1918, 1945 und 1990. Merz behauptet wieder, wie seit Jahren der Hauptteil der politischen Klasse, wer ernsthaft glaube, „Russland gäbe sich mit einem Sieg über die Ukraine oder […] mit der Annexion von Teilen des Landes zufrieden, der irrt“. Eine solche Aussage beruht weder auf einer ernsthaften Analyse der Interessen und Politik Russlands noch auf tatsächlicher Kenntnis der Vorgeschichte des Ukraine-Krieges vor 2014, vor allem auch der damaligen Einkreisungspolitik der USA gegenüber Russland. Damit jedoch fußen alle Folgerungen daraus – zur Unterstützung der Ukraine und im Hinblick auf die kommende Hochrüstung wie auch die Pläne zur künftigen Rolle der Bundeswehr – auf falschen Voraussetzungen.
Dem Ukraine-Krieg wird in Merzens Regierungserklärung ein zentraler Platz eingeräumt. Deutschland werde Kiew „weiterhin kraftvoll“ unterstützen, die Hilfe bleibe „eine gemeinsame Anstrengung der Europäer, der Amerikaner und anderer Freunde und Verbündeter“. Mit dieser Haltung vertrage sich „kein Diktatfrieden und keine Unterwerfung unter militärisch geschaffene Fakten gegen den Willen der Ukraine“. Am Ende beschwört der Kanzler das Prinzip Hoffnung, weil Deutschland und EU-Europa nun mal nicht über die Macht der USA verfügen: „Wir hoffen und arbeiten alle hart daran, dass diese klare Haltung nicht nur überall in Europa vertreten wird, sondern auch von unseren amerikanischen Partnern.“ Ob die USA nicht längst auf anderen Feldern spielen, weiß auch Merz nicht. Aber er hofft weiter, „dass der politische Westen sich nicht spalten lässt“. Wer das wiederum ist, wissen wahrscheinlich weder der Kanzler noch sein Redenschreiber.
Die einzige klare Ansage in der Regierungserklärung: Die Stärkung der Bundeswehr stehe „in unserer Politik an erster Stelle“, die Bundeswehr solle „zur konventionell stärksten Armee Europas werden“. Das würden „unsere Freunde und unsere Partner“ erwarten.
Doch auch diese Botschaft ist wieder rein deklarativ. Welche Freunde, welche Partner? Unklar ist, wie sich das Vorhaben mit der wirtschaftlichen Schwäche Deutschlands verträgt, und ob die Bevölkerung diesen Kurs akzeptiert, wenn es ernsthaft an die Renten und das Kindergeld geht. Strategisch betrachtet ist im Übrigen völlig offen, wie eine „konventionell stärkste Armee“ tatsächlich eine Atommacht abschrecken sollte – wenn dies in Kategorien wie Kriegsführungsfähigkeit gedacht wird.
Merz bekundete schließlich, „wir“ würden „innerhalb der NATO und in der Europäischen Union mehr Verantwortung übernehmen“. Was immer das heißt. Wenigstens hat er sich nicht einreden lassen, Deutschland müsse eine „Führungsrolle“ in der „freien Welt“ einnehmen, wie von verschiedenen Seiten zuvor vollmundig gefordert. Das wäre auch völlig illusionär.
Das griechische Webportal Capital schrieb nach dem Telefongespräch zwischen US-Präsident Trump und dem russischen Präsidenten Putin vom 19. Mai, „dass sich keine dritte Partei in die russisch-amerikanischen Gespräche einmischen kann: Die Beziehung zwischen den beiden scheint durch keine Entwicklung aus der Bahn geworfen zu werden.“ Die europäischen Staats- und Regierungschefs hätten versucht, der russischen Seite ein Ultimatum für einen sofortigen Waffenstillstand zu stellen, wurden von Trump im Nachhinein aber einfach darüber informiert, was er „vereinbart“ hatte.
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