28. Jahrgang | Nummer 8 | 21. April 2025

„Kriegstüchtig“ – fortgesetzte Anmerkungen

von Hannes Herbst

Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein.

Boris Pistorius,

Bundesverteidigungsminister,
am 5. Juni 2024 im Deutschen Bundestag

 

Heute ist das Gutgemeinte

gemeiner als der offene Blödsinn.

Botho Strauss,

Anschwellender Bocksgesang (1993)

 

Parallel zur per Grundgesetzänderung völlig entfesselten Aufrüstungsfinanzierung fordern Ministerien, Politiker, der Bundesnachrichtendienst (BND), die Bundeswehr und ihre medialen Transmissionsriemen, respektive Verstärker – von der privaten Mainstreampresse bis zu den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten – die deutsche Zivilbevölkerung inzwischen völlig unverhohlen und praktisch täglich zu gesamtgesellschaftlichen wie auch ganz individuellen Vorbereitungen auf einen großen Krieg mit Russland auf. Jan Opielka sprach in der Berliner Zeitung zutreffend von einer „aufgeheizten, geradezu panischen Atmosphäre, die einen russischen Angriff auf die NATO nicht in seinem ‚Ob‘ und ‚Warum‘, sondern nur noch in seinem ‚Wann‘ diskutiert, als wäre es eine Lawine, die bereits rollt und das Tal unwiderruflich erreichen wird“.

In der Lesart der Protagonisten dieser allgemeinen Kriegsbesoffenheit hat der völkerrechtswidrige Überfall Moskaus auf die Ukraine ohne jegliche provozierende Vorgeschichte stattgefunden, ist vielmehr der Auftakt zu einem imperialen großrussischen Mongolensturm. Der wird sich als nächstes mindestens gegen das Baltikum, Moldau und Polen wenden, weil der Herrscher im Kreml, für den der Untergang der Sowjetunion „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ war, die Geschichte revidieren will. Sönke Neitzel, Professor und einziger Lehrstuhlinhaber für Militärgeschichte an einer deutschen Universität, prognostizierte laut focus online für 2025 jüngst „den ‚letzten Friedenssommer‘ für uns Deutsche‘“.

Nicht zur Kenntnis genommen von der breiten Öffentlichkeit wird dabei offenbar, dass die Demnächst-Krieg-mit-Russland-Propaganda die Realität des Ukraine-Krieges, soweit sie Russlands ineffizientes und höchst verlustreiches militärisches Agieren betrifft, mehr oder weniger vollständig ausblendet. Obwohl Fakten dazu in den Medien durchaus zu finden sind. Einige jüngste Beispiele:

Am 26. März 2025 vermeldete die Kyiv Post: „Im Februar (genauer gesagt am 11. Februar) gab der Generalstab der ukrainischen Armee (AGS) bekannt, dass die Kiewer Truppen […] den 10.000sten feindlichen Panzer im Kampf zerstört haben.“

Am 29. März 2025 war der New York Times zu entnehmen, dass in der Ukraine „nach US-Angaben mehr als 700.000 russische Soldaten getötet oder verwundet wurden“.

Am 11. April 2025 berichtete die FAZ: „‚Hohe Verluste an Personal gegen geringe Geländegewinne‘ – so beschreibt ein leitender NATO-Beamter die russische Strategie im Krieg gegen die Ukraine. Daran habe sich in mehr als drei Jahren nichts geändert, obwohl es in der Kampftaktik viele Anpassungen gegeben habe. Westliche Geheimdienste schätzen, dass Russlands Tagesverluste im März bei 1255 lagen. Insgesamt sollen seit Kriegsbeginn nunmehr 910.000 russische Soldaten außer Gefecht gesetzt und davon etwa 250.000 getötet worden sein.“

Ebenfalls am 29. März 2025 ließ der Spiegel in seiner Ausgabe 14/2025 den Chef des Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS), das mit der Military Balance „jedes Jahr einen weithin beachteten 500-seitigen Überblick zur militärischen Lage in der Welt [erstellt]“, zu Wort kommen. Bastian Giegerich, vormals unter anderem auch fünf Jahre im Bundesverteidigungsministerium tätig: „Auf der konventionellen Seite hat Russland sicher so hohe Verluste hinnehmen müssen, dass es zunehmend schwerfällt, diese Verluste zu kompensieren, selbst mit dem Produktionstempo, das sie an den Tag legen.“

Wenn nun allerdings das Publikum auf breiter Front und vielleicht sogar manche Journalisten anfingen, zwei und zwei zusammenzuzählen, dann drohte der jetzt angesagten Präferierung der Aufrüstung gegenüber praktisch allen Bereichen der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge womöglich, was Fabian Scheidler – Autor und Träger des Otto-Brenner-Preises für kritischen Journalismus – so formuliert hat: „Wer würde der Zerschlagung von öffentlichen Gesundheitsdienstleistungen, Bildung, öffentlichem Transport, Klimaschutz und Sozialleistungen noch zustimmen, wenn gar kein übermächtiger Feind mehr auf dem Vormarsch ist?“

Die Gefahr scheint in einschlägigen Kreisen durchaus erkannt zu sein, denn nach Recherchen von Süddeutscher Zeitung (SZ), WDR und NDR zirkuliert zurzeit in Berliner Sicherheitskreisen eine neue Lagebewertung des BND und der Bundeswehr. Laut SZ vom 27. März 2025 heißt es in dem Papier, dass „Russland bis Ende der Dekade wohl alle Voraussetzungen [schaffe], um einen ‚großmaßstäblichen konventionellen Krieg‘ führen zu können. Der mehr als drei Jahre währende Krieg in der Ukraine schwäche die russischen Kräfte dabei nicht [Hervorhebung – H.H.].“

Bei Einschätzungen des BND braucht man nach den Quellen gar nicht erst zu fragen, weil die im Falle des Falles natürlich immer geschützt werden müssen. Dass sich die drei recherchierenden Qualitätsmedien aber nicht wenigstens selbst mal gefragt hätten, wie die BND/Bundeswehr-Prognose mit dem bisherigen Verlauf des Ukraine-Krieges und den russischen Verlusten in Übereinstimmung zu bekommen wäre, ist schon einigermaßen befremdlich … Man könnte übrigens auch die aktuelle Datenbasis des IISS zurate ziehen: „Laut NATO umfassen die Armeen der Mitgliedstaaten von Lissabon bis Ankara zusammen mehr als zwei Millionen Soldaten – Russland kommt der Schätzung des […] IISS zufolge auf 1,1 Millionen aktive Soldaten. Die Europäer verfügen über mehr als 6700 Kampfpanzer – Putin kann 2900 einsetzen. Mehr als 2300 Kampfjets stehen im Dienst der Europäer, während Russland knapp 1400 solcher Flugzeuge besitzt. Besonders groß ist der quantitative Unterschied bei der Artillerie: Die europäischen NATO-Staaten haben mehr als 15.400 Geschütze, Russland kommt nur auf 6090.“ (Spiegel, 14/2025)

An anderen Stellen wird rauf und runter dekliniert, in welchen Dimensionen die Bundeswehr personell ausgeweitet werden müsste, um „einen Aggressor von vornherein […] glaubhaft abschrecken“ zu können (O-Ton Pistorius). Ganz vorn dabei – der Reservistenverband. Der rät, die Bundeswehr von derzeit etwa 180.000 auf bis zu 350.000 Mann aufzustocken und das Potenzial der aktiven Reservisten (vor allem zum Ausgleich von Verlusten im Kriegsfall) von 40.000 auf knapp eine Million. Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, allerdings veranschlagt für die kämpfende Truppe laut Bild am Sonntag eher 460.000 Soldaten, um „unseren Zusagen für die NATO gerecht zu werden“.

Woher sollten die kommen? Ohne Reaktivierung der seit 2011 ausgesetzten Wehrpflicht – klassische Variante: Wer die Altersgrenze von 18 Jahren erreicht und tauglich ist, muss dienen – samt Ausweitung auf die weibliche Kohorte der Bevölkerung wäre das nicht zu machen, ist sich das Gros der Fachleute einig. Doch plötzlich scheint die verantwortliche Politik ihr eigenes Bedrohungsgedöns (Friedrich Merz: „[…] Abschreckung [ist] das Gebot der Stunde“.) so ernst nicht zu nehmen: Union und SPD haben sich in ihrem Koalitionsvertrag jedenfalls gerade auf ein lediglich freiwilliges Wehrdienstmodell festgelegt. SZ online war dazu am 11. April 2025 zu entnehmen: „Noch in diesem Jahr könnten die ersten 5000 Freiwilligen rekrutiert werden, sagt der bisherige und wohl auch künftige Verteidigungsminister.“

Inwiefern diese bescheidene Marge im Sinne der Pistorius-Forderung – „müssen bis 2029 kriegstüchtig sein“ – zielführend oder -verfehlend sein könnte, fragte das Blatt nicht und kam gottseidank ebenso wenig auf die Idee einer zynischen Aufrechnung etwa folgender Art: Die westlicherseits unterstellten russischen Tagesverluste in der Ukraine von über 1200 Mann als Basisgröße genommen, könnte man mit 5000 zusätzlichen Wehrdienstleistenden einen Waffengang von der Intensität des Ukraine-Krieges schon einmal vier Tage länger durchhalten …

Entschlossene Vorbereitungen auf einen Kriegsfall mahnt nicht zuletzt das Deutsche Rote Kreuz (DRK) an. DRK-Generalsekretär Christian Reuter fordert, die bisherigen regulären Haushaltsmittel von „armseligen“ 500 bis 600 Millionen Euro im Jahr auf rund 2,5 Milliarden zu erhöhen. Das DRK benötige zum Beispiel geländegängige Einsatzwagen in größerer Zahl sowie mobile Hospitäler. Mangel bestehe auch beim Personal. Daher solle man unter anderem wieder verstärkt Erste-Hilfe-Kurse anbieten. Als wünschenswert gilt laut FAZ, „dass ein Fünftel der Bevölkerung, rund 16 Millionen Personen, daran teilnehmen“.

Das Bundesinnenministerium wiederum hat die Vorbereitung von Kindern und Jugendlichen auf den Kriegsfall im Blick: „Auch schon in der Schulbildung“ solle „ein stärkerer Fokus auf den Zivilschutz“ gelegt werden, äußerte ein Ministeriumssprecher gegenüber dem Handelsblatt, das seine Leser wiederum mit folgendem Satz auf den betreffenden Bericht einstimmte: „Ein Angriff Russlands auf NATO-Gebiet gilt als realistisches Szenario.“

*

Kurt-Tucholsky-Preisträger Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung, hat seiner Kolumne „Die Feindschaft zu Russland darf nicht dauern“ (27. März 2025) folgenden Ausklang gegeben: „Die Ukraine braucht einen Frieden mit Sicherheitsgarantien. Und Europa braucht dann einen Modus Vivendi zwischen Brüssel, Moskau und Kiew, eine Friedensordnung. Sicherheit ist nur gemeinsam und nicht gegeneinander zu haben. Das meint der Begriff kollektive Sicherheit; er steht auch im Grundgesetz*. Es geht um das Zusammenleben in Europa.“

Und in einem Plädoyer deutscher Sicherheitsexperten („Rationale Sicherheitspolitik statt Alarmismus“) vom 30. März 2025 heißt es: „Die derzeitige sicherheitspolitische Debatte in Deutschland hat Maß und Mitte verlassen. […] der […] verbreitete Alarmismus in Teilen der Politik und der Medien ist nicht plausibel und basiert auf keiner seriösen Bedrohungsanalyse. Einige sicherheitspolitische Experten reden sich geradezu in einen Rausch, sekundiert von nicht nachvollziehbaren Geheimdiensteinschätzungen über die aggressiven Pläne Moskaus gegen den Westen. […] Ein nüchterner Blick auf die ökonomischen und militärischen Kapazitäten wie auch die (realisierbaren) Intentionen Russlands ergibt jedoch, dass wenig dafürspricht, dass Russland sich mit der NATO militärisch anlegen und deren Territorium angreifen könnte oder nur wollte.

Ein Russland, das große Schwierigkeiten hat, seine Ziele in der Ukraine zu erreichen, ist eine beherrschbare militärische Bedrohung. Zudem ist die NATO heute und auf absehbare Zeit in praktisch allen militärischen Belangen ungleich stärker als Russland. Dies gilt selbst dann, wenn man nur die Ausgaben bzw. die Ausstattung der europäischen Staaten inklusive Großbritannien addiert. […]

Die derzeitig verbreitete Panikstimmung, begleitet von einer gigantischen Verschuldung für Aufrüstung, löst […] Europas Sicherheitsprobleme nicht. Wichtiger wäre, den Krieg in der Ukraine mit Hilfe kluger politischer Kompromisse über Verhandlungen zu beenden und danach auf der Basis vorhandener Stärke eine Stabilisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur anzustreben, in der nicht nur Aufrüstung und Kriegsvorbereitung, sondern auch die zweite Säule der Sicherheitspolitik – Rüstungskontrolle, vertrauensbildende Maßnahmen und Diplomatie – wieder eine zentrale Rolle spielen.“

* – Grundgesetz, Art. 24, Abs. 2: „Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.“

 

Bisherige Beiträge zur Frage „Kriegstüchtigkeit“ – siehe Blättchen 23/2024, 24/2024, 1/2025 und 4/2025.