27. Jahrgang | Nummer 24 | 18. November 2024

„Kriegstüchtig“ – ein paar Anmerkungen mehr

von Gabriele Muthesius

In der vorhergehenden Ausgabe dieses Magazins wurde die militärische Bedrohung NATO- und EU-Europas durch Russland einer kritischen Durchsicht unterzogen und im Ergebnis als „propagandistischer Popanz“ bewertet, der dazu dient, die größte Aufrüstungswelle des kollektiven Westens seit Beendigung des ersten Kalten Krieges und das exzessive Hochfahren der jährlichen Militärbudgets zu Lasten anderer – essenzieller – gesellschaftlicher Bereiche (Infrastruktur, Gesundheit, Bildung, Kultur) zu rechtfertigen. Gestützt wird eine solche Einschätzung auch durch eine gerade veröffentlichte Studie von Greenpeace mit dem Titel „Wann ist genug genug? Ein Vergleich der militärischen Potenziale der NATO und Russlands“, in der folgende Untersuchungsergebnisse präsentiert werden:

  • Militärausgaben: Die NATO-Staaten geben derzeit etwa zehnmal so viel Geld für ihre Streitkräfte aus wie Russland (1,19 Billionen US-Dollar zu 127 Milliarden US-Dollar). Selbst ohne die Ausgaben der USA und unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Kaufkraft bleibt das deutliche Übergewicht zugunsten der NATO bestehen (430 Milliarden US-Dollar zu 300 Milliarden US-Dollar).
  • Großwaffensysteme: In sämtlichen dieser Waffenkategorien übertrifft die NATO Russland mindestens dreifach. Beispielsweise verfügen die NATO-Staaten über 5406 Kampfflugzeuge (hierunter 2073 in Europa), wohingegen Russland davon nur 1.026 besitzt.
  • Truppenstärke: Die NATO-Staaten haben über drei Millionen Soldaten unter Waffen und verfügen zugleich über ein tiefes Reservoir an Reservisten. Im Vergleich dazu hat Russland nur eine Personalstärke von 1,33 Millionen Soldaten, davon lediglich etwa 40 Prozent westlich des Urals.
  • Militärische Einsatzbereitschaft: Das russische Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg sowie der Verlauf der Invasion in der Ukraine zeigen, dass den russischen Streitkräften wesentliche Fähigkeiten fehlen, um auf dem Niveau der NATO einsatzfähig zu sein.
  • Rüstungsbeschaffung und -produktion: Die NATO-Staaten dominieren den weltweiten Rüstungsmarkt mit über 70 Prozent des Gesamtumsatzes (der 100 größten Rüstungsfirmen der Welt), während Russlands Anteil hier lediglich 3,5 Prozent ausmacht. Die russische Rüstungsindustrie produzierte zwar im ersten Quartal 2024 rund 60 Prozent mehr als noch vor der Invasion, ohne jedoch die im Krieg erlittenen Verluste ausgleichen zu können.
  • Atomwaffen: Insgesamt herrscht zwischen NATO und Russland ein strategisches Gleichgewicht, respektive ist angesichts der gesicherten gegenseitigen Vernichtungsfähigkeit ein nukleares Patt zu bilanzieren. Die drei NATO-Nuklearwaffenstaaten USA, Frankreich und Großbritannien verfügen zusammen über 5.559 Nuklearsprengköpfe, Russland über 5.580.

Dennoch ertönt der Chor jener westlichen Politiker, Organisationen und Medien immer hysterischer, denen genug noch längst nicht genug ist, die vielmehr weitere Quantensprünge in Sachen Aufrüstung fordern. Ganz an der Spitze der Bewegung hierzulande – führende Grüne. So warf Annalena Baerbock kürzlich bei einem Wirtschaftsgipfel der Süddeutschen Zeitung (SZ) in die Runde: „Wir müssen anerkennen, dass das Zwei-Prozent-Ziel der NATO in unserer heutigen Lage nicht mehr ausreichen wird.“ Und den, laut SZ, „bisher weitestgehenden Vorschlag“ hat Robert Habeck gemacht: Noch vor der Neuwahl sollte der Bundestag ein zweites, wuchtiges Sondervermögen für die Bundeswehr beschließen.

Vollends bizarr wird das Gesamtbild, wenn man die Betrachtung dahingehend ausweitet, wofür die deutschen Militärmilliarden eigentlich verpulvert werden.

Zuvorderst zu nennen sind dabei zwei internationale Rüstungsprojekte mit deutsch-französischer Kooperation im Kern – FCAS (Future Combat Air System) und MGCS (Main Ground Combat System).

Bei FCAS handelt es sich um ein luftgestütztes Verbundsystem mit drei zentralen Komponenten: einem neuen Kampfflugzeug der sogenannten sechsten Generation (Next Generation Fighter, NGF); bewaffneten und unbewaffneten Drohnen (Remote Carriers, RC) und einer Netzwerkplattform (Air Combat Cloud, ACC) für den geschützten Datenverkehr zwischen NGF, RC und anderen Waffensystemen. Jüngere Schätzungen, etwa von Greenpeace, gehen von Lebenszykluskosten des Systems von bis zu zwei Billionen Euro aus.

Das MGCS-Projekt soll ein landgestütztes Multiplattformsystem hervorbringen, bei dem auf einer identischen Fahrzeugwanne nicht nur ein Kampfpanzer, sondern auch andere Fähigkeitsmodule platziert werden. Einschlägige Experten rechnen aktuell allein mit Entwicklungskosten zwischen acht und zehn Milliarden Euro.

Hingegen gleich Null ist die potenzielle Abschreckungswirkung beider Systeme auf russische Streitkräfte, die „wahrscheinlich spätestens ab Ende dieses Jahrzehnts […] in der Lage [sind], einen Angriff gegen die NATO durchzuführen“ (so BND-Chef Kahl kürzlich gegenüber dem Parlamentarischen Gremium für die Kontrolle der Nachrichtendienste). Denn während für das FCAS in einer Frühphase des Projektes zwar eine Indienststellung auch erst für das Jahr 2035 anvisiert worden war, ist seitens des Bundesverteidigungsministeriums (BMVg) schon seit 2023 von „ab 2040“ die Rede und für das MGCS noch vager von „ab den 2040er-Jahren“, was nicht unbedingt in deren erster Hälfte meinen muss.

Wie die Lage in anderen Rüstungsbereichen aussieht, ist einer aktuellen Studie aus dem Kieler Institut für Weltwirtschaft zu entnehmen, die ihren Befund bereits im Titel verrät: „Fit for war in decades: Europe’s and Germany’s slow rearmament vis-à-vis Russia“ („Kriegstüchtig in Jahrzehnten: Die langsame Wiederaufrüstung Europas und Deutschlands gegenüber Russland“). Das Verfasserteam liefert folgende Lagebeschreibung: „2021 verfügte Deutschland über rund 340 Panzer, nur noch 8 Prozent der mehr als 4000 westdeutschen Panzer von 1992 und 14 Prozent der 2400 Panzer von 2004. Die Zahl der Haubitzen ist von über 3000 im Jahr 1992 auf fast 1000 im Jahr 2004 und nur noch 120 im Jahr 2021 gesunken. Ähnliche Zahlen gelten für andere Waffensysteme. Selbst die Zahl der Kampfjets, auf die die NATO großen Wert legt, ist um mehr als 50 Prozent zurückgegangen.“ Und dann der Hammer – die Autoren schreiben: „In unserem neuen Kiel Military Procurement Tracker zeigen wir, dass es Jahrzehnte dauern würde, bis die deutschen Militärbestände bei der derzeitigen Beschaffungsgeschwindigkeit das Niveau von 2004 erreichen würden: zehn Jahre für Kampfflugzeuge, 40 Jahre für Panzer und 100 Jahre für Haubitzen.“ Etwas besser sähe es jedoch für die 105 vom BMVg im Juli 2024 bestellten Leopard 2-Kampfpanzer aus. Diese könnten tatsächlich bereits „2030 vollständig ausgeliefert sein“.

Nun ist es zwar angesichts des bestehenden militärischen Kräfteverhältnisses zwischen der NATO und Russland (siehe dazu ausführlich auch Blättchen 15/2022) völliger Nonsens, aus der Kieler Studie den Schluss zu ziehen „Europe can’t be defended against Russian attack“ („Europa kann gegen einen russischen Angriff nicht verteidigt werden“), wie es in der Asia Times vom 25. Oktober 2024 nachzulesen war. Umso mehr verwundert es angesichts der allenthalben beschworenen Bedrohungsszenarien allerdings, dass von den verantwortlichen Politikern des kollektiven Westens mit Ausnahme des ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orbán noch keiner auf die Idee gekommen ist, dass die Lösung der sicherheitspolitischen Probleme im Verhältnis zu Russland (und auch zu China) womöglich besser mit politischen, denn mit militärischen Mitteln zu finden wäre. Die Verfasser der eingangs erwähnten Greenpeace-Studie geben dazu schon mal einige Denkanregungen: „Statt weiter aufzurüsten, sollte die bestehende konventionelle Überlegenheit der NATO – bei gleichzeitig potenziell möglicher nuklearer Eskalationsbereitschaft auf russischer Seite – zum Anlass genommen werden, rüstungskontrollpolitische Initiativen vorzubereiten und anzustoßen, die neues Vertrauen schaffen und eine Verifikation der jeweiligen militärischen Potenziale zumindest in Europa erlauben. Erster Ansatzpunkt sollte die Rettung des New-Start-Abkommens zur Begrenzung von strategischen Nuklearwaffen sein, dem letzten verbliebenen Eckpfeiler der nuklearen Rüstungskontrolle zwischen Ost und West.“

 

PS: Die Kieler Studie enthält darüber hinaus einige durchaus frappierende Beispiele dafür, was beim deutschen Militär mit Steuergeldern sonst noch so getrieben wird. So heißt es in dem Papier in einer Fußnote: „Am 2. Dezember 2022 gab das deutsche Verteidigungsministerium den Abschluss einer Rahmenvereinbarung über die Beschaffung von mehr als 600.000 Schuss 30-mm-Autokanonenmunition für Schützenpanzer Puma bekannt. Die Kosten für diese Munition belaufen sich auf rund 576 Millionen Euro, was fast 1000 Euro pro Schuss entspricht. Nach Angaben des Herstellers Rheinmetall feuert die MK30/2-ABM-Autokanone der Puma-Fahrzeuge bis zu 600 Schuss pro Minute. Diese Zahlen besagen, dass jede Minute Kampfeinsatz die Bundeswehr fast 600.000 Euro kosten würde, wenn diese Geschütze mit maximaler Kadenz schießen müssten. Außerdem würde die beschaffte Munition nur für 1000 Minuten, also knapp 17 Stunden reichen. Im Grunde hat Deutschland Munition im Wert von über einer halben Milliarde Euro gekauft, die […] nicht einmal ein paar Tage schwerer Kämpfe überstehen würde […].“