Offen feindselige Konfrontation (politisch, militärisch, wirtschaftlich, ideologisch, wissenschaftlich, kulturell) dominiert, während frühere Kooperationsfelder weitestgehend auf Null heruntergefahren sind – mit dem aktuellen Zustand der deutsch-russischen Beziehungen dürften große Teile der herrschenden Kreise in den USA höchst zufrieden sein. Auf jeden Fall all jene, denen George Friedman, damals CEO des von ihm 1996 gegründeten geopolitischen US-Think Tanks Stratfor – Selbstdarstellung: „The World’s Leading Geopolitical Intelligence Platform“ („Die weltweit führende Plattform für geopolitische Informationen“) – 2015 aus dem Herzen gesprochen hatte, als er vor dem Chicago Council on Global Affairs aus dem Nähkästchen plauderte: „Das primäre Interesse der USA, wofür wir seit einem Jahrhundert Kriege führen – Erster und Zweiter Weltkrieg und Kalter Krieg – waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Weil vereint sind sie die einzige Macht, die uns bedrohen kann, und unser Interesse war es immer, sicherzustellen, dass das nicht eintritt.“
Entsprechende Aussichten dürften zwar inzwischen und auf unabsehbare Zeit noch geringer sein als schon während des ersten Kalten Krieges. Trotzdem kann es nie schaden, immer auch einen Blick in die Zukunft zu werfen und im Hinblick auf künftig mögliche Rückschläge rechtzeitig den Anfängen zu wehren. Das haben John E. Herbst, früherer US-Botschafter in der Ukraine und derzeit Senior Director am Eurasia Center des Atlantic Council, und Benjamin L. Schmitt, Senior Fellow am Kleinman Center for Energy Policy der Universität von Pennsylvania, gerade getan. Ihren Weckruf „Don’t Let Germany Go Back to Its Old Russia Tricks“ („Lasst nicht zu, dass Deutschland zu seinen alten Russland-Tricks zurückkehrt“) verbreitete das US-Magazin Foreign Policy.
Die Autoren beginnen mit der Behauptung von einer „jahrzehntelange[n] Instrumentalisierung der Energie durch Moskau gegen Europa“, was sie im weiteren Verlaufe ihres Beitrages auch als „böswillige russische Energieinteressen“ bezeichnen werden – einem jener vordergründigen Propagandapopanze, die in den hysterisch aufgeheizten sicherheitspolitischen Debatten in westlichen Expertenkreisen und Mainstreammedien schon seit geraumer Zeit nicht mehr hinterfragt werden. Dann bekommen „die traditionell russlandfreundlichen Sozialdemokraten“, allen voran Kanzler Schröder („wechselte […] zum vom Kreml kontrollierten Unternehmen Gazprom“), Außenminister Steinmeier („hat es am 24. Februar 2024 […] verpasst zurückzutreten“) und Wirtschaftsminister Gabriel („musste kaum politische Konsequenzen tragen“), sowie Kanzlerin Merkel („setzte […] ein weiteres Pipeline-Projekt durch“) ihr Fett dafür weg, dass sie zu ihren Regierungszeiten dem Konfrontationskurs Washingtons gegenüber Moskau nicht zu 100 Prozent vasallentreu gefolgt waren und nicht bereits damals die Energiebezüge aus Russland gekappt haben. (Tatsächlich hat es sich ja für die betreffenden Bundesregierungen nicht ausgezahlt, die fortwährende, auch deutsche Ignoranz gegenüber russischen Sicherheitsinteressen mittels Wirtschafts- und anderer Beziehungen soweit dämpfen zu wollen, dass Moskau auch noch die Inkorporation der Ukraine in die europäische Einflusszone des Westens schluckte. Da ist die jetzige aggressive Schelte von Vertretern der Bündnisführungsmacht mit Blick auf die SPD nicht frei von einer gewissen Tragikomik.)
Dann kommen die US-Autoren auf ihre eigentliche Besorgnis zu sprechen: „[…] es wäre naiv zu glauben, dass es nicht starken Druck von deutschen Unternehmen und weiten Teilen des politischen Spektrums geben wird, die Handelsbeziehungen mit Russland wiederherzustellen, sobald ein Waffenstillstand zwischen Moskau und Kiew angekündigt wird. Dieser Druck wäre besonders im Energiesektor akut […]. Die Energieoptionen Deutschlands sind nach der Abschaltung des letzten seiner Kernkraftwerke im vergangenen Jahr noch weiter geschrumpft.“ Eine künftige (und sei es zunächst auch nur wirtschaftliche) Wiederannäherung zwischen Berlin und Moskau liege jedoch nicht „im Interesse der Vereinigten Staaten […]. Glücklicherweise können die Vereinigten Staaten dazu beitragen, dass dies nicht geschieht.“ Die Autoren verweisen dabei auf die US-Sanktionen gegen die Nord Stream 2-Pipeline, die in Kürze auslaufen und zu deren Verlängerung Herbst und Schmitt dringend raten. Und dann unterbreiten sie noch die Idee, neue US-Gesetze zu verabschieden, „die ehemaligen Amtsträgern ein für alle Mal verbieten, für russische Staatsunternehmen oder deren Tochtergesellschaften zu arbeiten“. Und die USA „sollten Berlin unter Druck setzen, es ihnen gleichzutun“.
Wenn lupenreine Transatlantiker hierzulande wie CDU-Chef Friedrich Merz oder, spätestens seit er Chef der sogenannten Atlantik-Brücke“ geworden ist, Siegmar Gabriel von der Idee Wind bekommen oder gar Foreign Policy lesen, wird es Druckes vielleicht gar nicht bedürfen.
Dass derweil die NATO längst wieder Kurs auf eine auf Dekaden – der erste Kalte Krieg währte, je nachdem wie man zählt, 40 bis 45 Jahre – angelegte Feindschaft gegenüber Russland genommen hat, zeigt sich besonders deutlich anhand der exaltierten Aufrüstungsintensivierung des Paktes, die angesichts des bestehenden militärischen Kräfteverhältnisses völlig absurd erscheint (siehe dazu ausführlich Blättchen 15/2022).
Da Russland mit dem Westen militärisch nicht mithalten kann und in einem Krieg mit diesem außer einer mehr oder weniger vernichtenden Niederlage nichts zu gewärtigen hätte, hat es bereits Konsequenzen gezogen und jüngst seine Nukleardoktrin auf eine für die gesamte Zivilisation höchst gefahrvolle Weise verändert: Nunmehr droht ein Ersteinsatz von Atomwaffen durch Moskau unter anderem bereits bei konventionellen militärischen Auseinandersetzungen, sobald russisches Territorium einbezogen wird, und zwar gegebenenfalls nicht nur gegen eindringende konventionelle Kräfte auf dem Gefechtsfeld, sondern auch direkt gegen jene Staaten, denen diese Kräfte zuzurechnen sind, Nuklearmächte inklusive (siehe Blättchen 21/2024).
Was nach einem solchen atomaren Ersteinsatz (vor allem gegen eine andere Atommacht) geschehen würde, auf diese Frage hat der frühere US-Sicherheitsberater McGeorge Bundy bereits 1983 abschließend geantwortet: „[…] niemand sagen kann, was geschehen wird, nachdem auch nur eine einzige Atomwaffe eingesetzt worden ist. […] Niemand weiß, wie irgendein ‚begrenzter‘ Einsatz beantwortet werden würde. […] Natürlich kann niemand beweisen, dass jeglicher Ersteinsatz von Kernwaffen zum allgemeinen Flächenbrand führen wird. Aber was entscheidend [Hervorhebung – S.] ist, niemand kann auch nur annähernd beweisen, dass das nicht [Hervorhebung – S.] der Fall sein wird.“ Dieser Sachstand gilt unverändert.
Wer Feindschaft gegenüber Russland geradezu zelebriert, wie nicht nur die Parteien der aktuellen Bundesregierung, der kann wahltaktisch von Glück sagen, dass die breite deutsche Öffentlichkeit in dieser Frage den Schlaf der Ahnungslosen schläft. (Und wer an dieser Stelle meint, unbedingt auf den völkerrechtswidrigen Charakter der russischen Aggression gegen die Ukraine verweisen zu müssen, dem soll keinesfalls widersprochen werden. Nur der Hinweis auf eine historische Parallele sollte erlaubt sein: Auch während der völkerrechtswidrigen Indochina-Aggression der USA – 1955 bis 1975, alle Regierungen der damaligen NATO-Staaten standen aufseiten Washingtons – wären die Sowjetunion und China, obwohl engste Verbündete Vietnams, nicht auf die Idee gekommen, den Aggressor auf seinem Territorium, in seinem Kernbestand anzugreifen. Aus wohlverstandenem Eigeninteresse.)
Auch die NATO arbeitet im Übrigen daran, ihre Strategie-Papiere zeitenwendig anzupassen. Über paktinterne Beratungen zur sogenannten NATO-Russland-Grundakte berichtete dieser Tage das US-Magazin Politico. Noch ist dieses Dokument vom Mai 1997 zwar in Kraft, doch wer heute formulierte und zum Programm erheben wollte, was dort im zweiten Absatz geschrieben steht, den würden deutsche Medien bereits in der Luft zerrissen haben, bevor noch stramme Bellizisten wie Roderich Kiesewetter (CDU), Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) oder Anton Hofreiter (Grüne/Bündnis 90) seiner überhaupt hätten habhaft werden können: „Die NATO und Russland betrachten einander nicht als Gegner. Sie verfolgen gemeinsam das Ziel, die Spuren der früheren Konfrontation und Konkurrenz zu beseitigen und das gegenseitige Vertrauen und die Zusammenarbeit zu stärken. Diese Akte bekräftigt die Entschlossenheit der NATO und Russlands, ihrer gemeinsamen Verpflichtung zum Bau eines stabilen, friedlichen und ungeteilten, geeinten und freien Europas zum Nutzen aller seiner Völker konkreten Ausdruck zu verleihen.“
Eine neue NATO-Russland-Strategie ist also in Arbeit und soll auf dem NATO-Gipfel im Juni 2025 in Den Haag das Licht der Welt erblicken. Man darf gewiss sein, dass sie der aktuellen Einschätzung Russlands – „bedeutendste und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Bündnispartner“ (O-Ton Politico) – konsequent Rechnung tragen wird.
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