27. Jahrgang | Nummer 9 | 22. April 2024

Ostermärsche und Aufrüstung

von Stephan Wohanka

Ich bin kein regelmäßiger Leser der jungen Welt; manchmal steckt sie mir ein Freund zu, so auch kürzlich an einem Wochenende – dem der diesjährigen Ostermärsche. In besagtem Blatt blieb ich an zwei Texten hängen …

Der erste war ein Interview mit Willi van Ooyen, einem altgedienten Aktivisten der Friedensbewegung; wie zu lesen ist: Ko-Sprecher des Kasseler Friedenschlags. Seine Biographie bei Wikipedia weist ihn als ernsthaften und ernstzunehmenden Streiter für die Sache des Friedens aus. Ich zitiere eine längere Passage aus dem Interview: „Dass das Land (Deutschland – St.W.) ’kriegstüchtig’ werden soll, ist ja nicht nur eine mal zufällig hingesagte Parole, sondern es wird tatsächlich auch alles dafür getan, um die Bevölkerung auf Kriege und weitere Militarisierung einzustimmen. […] Alle politischen Versprechen – Stichwort: mehr Investitionen in Bildung, mehr Geld für Soziales – werden jetzt zur Disposition gestellt. Wir erleben eine sehr grundsätzliche Umorientierung der Bevölkerung auf militaristische Positionen. Es gibt eben eine breite Einheitsfront für Aufrüstung und militärische Optionen, von kriegslüsternen Grünen und SPD-Politikern wie Michael Roth bis zur AfD.“

Ja, ich stimme zu – „dass das Land ’kriegstüchtig’ werden soll“, ist keine mal zufällig hingesagte Parole. Aber warum wohl? Und gäben die „kriegslüsternen Grünen und SPD-Politiker“ das Geld nicht liebend gern für „mehr Investitionen in Bildung, mehr Geld für Soziales“ aus als für Rüstungsgüter? Schon aus Gründer ihrer (Wieder)Wählbarkeit. Sind diese Politiker – dem Tenor des Interviews folgend müsste ich sagen der „früheren“ – Friedensparteien Bündnis 90/Die Grünen und namentlich der SPD umstandslos sozusagen über Nacht zu „kriegslüsternen“ Militaristen mutiert?

Diese Fragen sind unschwer als rhetorischer Fragen zu identifizieren. Im Forum des Blättchens schrieb ich, deren Gebrauch führe dazu, die Debatte von einem Thema auf ein anderes, damit eventuell in Beziehung stehendes zu lenken, sodass der Anschein entstünde, als sei das verwandte Thema für das erste bedeutsam. In erster Linie geht es jedoch darum, vor der Notwendigkeit auszuweichen, sich mit der Hauptsache befassen zu müssen. Diese „Hauptsache“ ist im vorliegenden Fall der Frieden. Der in der Ukraine und – hinzugekommen, aber für diese Debatte weniger wichtig – der im Nahen Osten.

Den Frieden in der Ukraine meinen die von van Ooyen Kritisierten mit Waffenlieferungen an das Land herstellen und sichern zu können; die Gegenseite meint, ebendiese Waffenlieferungen führten zu keinem Frieden und verlängerten nur den Krieg. Ich denke, dem Wort „sichern“ kommt hier eine entscheidende Bedeutung zu: Ein nur „Einfrieren“ oder ein Waffenstillstand griffe zu kurz – wenn der damit zu schaffende Zustand nicht absehbar und zügig Ausgangspunkt zur Herstellung einer umfassenden Friedenslösung und Neuordnung der europäischen Sicherheitsarchitektur wären. Um noch abzuwenden, mindestens zurückzudrängen, wovor der alte und neue polnische Ministerpräsident und frühere Präsident des Europäischen Rates Donald Tusk, bis dato nicht als Kriegstreiber aufgefallen, drastisch warnt: „Ich weiß, es klingt niederschmetternd, [ …] aber wir müssen uns daran gewöhnen, dass eine neue Ära begonnen hat: die Vorkriegszeit. Ich übertreibe nicht; das wird jeden Tag deutlicher“; und weiter: „[…] aber Krieg ist kein Konzept mehr aus der Vergangenheit. Er ist real, und er hat schon vor über zwei Jahren begonnen.“ Am beunruhigendsten sei derzeit, dass buchstäblich jedes Szenario möglich sei. „Eine solche Situation haben wir seit 1945 nicht mehr erlebt.“

Polen gibt bereits jetzt vier Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung aus. Ich denke, auch die Regierung Tusk gäbe lieber Geld für Bildung, Soziales, „Friedfertiges“ aus.

Durch den Beitritt Finnlands und Schwedens zur NATO ist die Ostsee ein mare nostrum des Nordatlantikpaktes geworden, die „Einkreisung“ Russlands durch ebendiese NATO hat erheblich zugenommen – oder mit den Worten US-amerikanischer Verhandlungsstrategen William Ury: „Putin hat strategisch bereits massiv verloren.“ Das eigentlich Bemerkenswerte ist aber doch: Warum gaben beide Länder ihre seit Jahrzehnten erprobte, im Falle Schwedens seit 1814 andauernde Neutralität auf? Doch wohl nicht deshalb, weil man in diesen Ländern meinte, es mit Russlands Aggression gegen die Ukraine mit einer „lokalen Auseinandersetzung“ zu tun zu haben, die sie nichts anginge – so wie nicht Wenige hierzulande denken.

Der zweite Text trägt den Titel „Inseln zur Festung“ und lässt im Untertitel wissen: „Japan wird Stück für Stück militarisiert und aufgerüstet.“ Auch im Fernen Osten driftet ein Land offenbar ins Militaristische ab – ein Land, das laut Verfassung auf militärische Aggression und Gebietsstreitigkeiten verzichtete.

Im Text sind die Geschichte einzelner Militärbasen beschrieben, die aktuellen Aufrüstungsmaßnahmen, der (lokale) Widerstand dagegen. Es handelt sich danach faktisch um eine Erweiterung auch offensiver militärischer „Fähigkeiten“, sowohl auf US-Basen als auch vonseiten Japans. Japans Premier Kishide Fumio wird zitiert, der im Dezember 2022 „treu der neuen Militärdoktrin“ des Landes China als „größte strategische Herausforderung“ ausrief.

In anderen Quellen ist zu lesen, dass auch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, die militärischen Drohungen Chinas gegen Taiwan und die atomare Aufrüstung Nordkoreas auslösende Momente für diesen Wandel seien.

Diese Furcht vor China – ist sie real oder doch nur hysterische Kriegshetze? Peking werde den (Wieder)Aufstieg Chinas durchsetzen – inklusive der „Wiedervereinigung“ Taiwans, so formulierte es Partei- und Militärchef Xi Jinping im März 2023 ungewöhnlich deutlich: „China und das chinesische Volk müssen sich darauf vorbereiten, furchterregenden Stürmen zu trotzen und durch Himmel erschütternde Wogen zu navigieren.“ Beredsame Metaphern.

Mitte 2023 zogen chinesische Staatsmedien Okinawas Zugehörigkeit zu Japan in Zweifel. Sie verschwiegen, dass dies älteren Positionen Chinas widerspricht; in den 1960er Jahren erkannte Mao Zedong Okinawa als Teil Japans an. Er unterstützte die Rückgabe der Inseln nach dem Ende der Verwaltung durch die Amerikaner. Hintergrund des jetzigen Schwenks ist offensichtlich Chinas Bemühen, die sogenannte erste Inselkette zu durchbrechen und so den Status quo ändern, um eine dominante Position in der Taiwan-Frage sowie im Südchinesischen Meer zu erlangen. Diese Kette erstreckt sich von Südjapan (Kyushu) über die zu Japan gehörende Nansei-shoto-Inselkette mit dem US-Stützpunkt Okinawa bis nördlich von Taiwan. Südlich davon schließen sich die bereits zu den Philippinen gehörigen Bantan-Inseln an, bevor schließlich die philippinischen Hauptinseln erreicht werden. Je nach Auslegung gehören auch die philippinische und malaysische Inselwelt dazu, die die südchinesische See umschließen. Dadurch sind auch Chinas Beziehungen zu einigen Ländern in der Region gespannt.

Wie Business Insider berichtet, kann das chinesische Militär auf eine Budgeterhöhung von 7,2 Prozent auf 1,67 Billionen Yuan (rund 214 Milliarden Euro) zugreifen; beschlossen auf der jüngsten Sitzung des Volkskongresses in Peking. Bereits im Vorjahr wären Chinas Militärausgaben in ähnlicher Höhe gestiegen.

Japans Antwort liegt in der Verdopplung seines Wehretats; es kauft erstmals Offensivwaffen, legt Munitionsvorräte an und bereitet sich auf einen Cyberkrieg vor. Gleichzeitig vernetzt es sich militärisch mit neuen Partnern – Australien, Großbritannien, auch Deutschland.

Die USA nutzen die Gelegenheit, um ihre Beziehungen zu Japan, Südkorea, den Philippinen und Vietnam zu stärken. Dies wiederum sorgt bekanntlich für Unbehagen in Peking.

Alles in allem: Im westlichen Pazifik herrscht militärisch eine komplexe Lage, die es nicht erlaubt, Japan vorzuwerfen, grundlos einseitig aufzurüsten.

Mir wäre eine Welt ohne Waffen die liebste aller Welten! Nur werden wir diese – wenn überhaupt – nicht dadurch erreichen, dass deren Befürworter wie van Ooyen permanent ausblenden, warum es noch Waffen gibt. Solange sie diese Gründe nicht klar benennen und so ein wahrhaftes Reden – Walter Benjamin sprach davon, „wer den Frieden will, der rede [Hervorhebung – St.W.] vom Krieg“ – über den Frieden behindern, werden sie auch nicht wirklich durchdringen. Was angesichts der Lage mehr als bedauerlich ist. Und: Die Bilanz der diesjährigen Ostermärsche ist mager.