25. Jahrgang | Nummer 21 | 10. Oktober 2022

Der siebte Schwabe – oder: deutsch-amerikanische Panzer-Posse

von Sarcasticus

„[…] vielleicht ist diese Form des […] Stellvertreterkriegs
die äußerste Form der Konfrontation, die wir wagen dürfen.
Matteo Renzi,
Ex-Premierminister Italiens

„[…] die Ukraine mit Waffen und militärischer Ausrüstung
vollpumpen und die ukrainischen Streitkräfte ausbilden […]
Diese Linie bedeutet, dass die westlichen Länder
direkt in den Ukraine-Konflikt verwickelt sind
und somit zu einer Partei werden.“
Sergei Lawrow,
russischer Außenminister,
vor der UN-Vollversammlung,
23.09.2022

„Und Deutschland wird doch Leopard-Panzer liefern“
FAZ, 19.09.2022

Kaum hatte Karl Lauterbach dieser Tage Tacheles getwittert („Wir sind im Krieg mit Putin […].“), da war die regierungsamtliche Selbstbeschwörung schon wieder zu hören: „Es ist ganz klar – sowohl für die deutsche Bundesregierung als auch für die gesamte NATO: Wir werden keine Kriegspartei.“ (Christine Lambrecht, Bundesverteidigungsministerin, SPD)

Das ist der deutschen Öffentlichkeit seit dem russischen Überfall auf die Ukraine immer wieder versichert worden – geradezu mantraartig durch Außenministerin Baerbock (Grüne), aber auch durch FDP-Chef Lindner und selbst durch den Hofreiter, Anton (Grüne), der bekanntlich zu den lautstärksten Befürwortern von noch mehr deutschen Waffenlieferungen an Kiew gehört. Medien wie der Stern sekundierten: „Wann eine Nation als Kriegspartei gilt, ist klar geregelt.“

Da muss allerdings eine möglicherweise pathologische Form von Autosuggestion im Spiel sein, denn dass Moskau nicht nur Deutschland, sondern den gesamten NATO-Westen längst als Kriegspartei betrachtet, hat der russische Außenminister Sergei Lawrow am 23. September gerade erst wieder vor der UN-Vollversammlung klar gemacht, nachdem er bereits zuvor im Interview mit Newsweek auf folgendes verwiesen hatte: „NATO- und US-Waffen werden eingesetzt, um russisches Territorium an der Grenze zur Ukraine zu beschießen und dort Zivilisten zu töten. Das Pentagon macht keinen Hehl daraus, dass es nachrichtendienstliche Informationen und Zielmarkierungen für Angriffe an Kiew weitergibt. Wir registrieren die Anwesenheit amerikanischer Söldner und Berater ‚auf dem Schlachtfeld‘.“

Auch beim italienischen Ex-Premier Rienzi muss daher mindestens eine halbe Betriebsblindheit diagnostiziert werden. Eine direkte Konfrontation mit Moskau sollte die NATO zwar tatsächlich vermeiden, weil in einer solchen, wie in diesem Magazin kürzlich (Das Blättchen 15/2022) ausführlich dargelegt wurde, Russland konventionell so hoffnungslos unterlegen wäre, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Eskalation auf die atomare Ebene und damit womöglich zu einem allgemeinen Nuklearkrieg käme, dem beide Seiten (und – nicht unwahrscheinlich – auch der Rest der Welt) zum Opfer fielen. Als bloßen „Stellvertreterkrieg“ sieht Moskau das aktuelle Geschehen um die und in der Ukraine jedenfalls bereits nicht mehr an.

Andererseits: Unmittelbar zu Beginn der Aggression gegen die Ukraine hatte Wladimir Putin, der russische Präsident, bekanntlich drastische Strafandrohungen gegenüber jeglicher Einmischung Dritter in den Konflikt formuliert – und zwar dahingehend, dass „jeder, der versucht, uns zu behindern“, mit Konsequenzen rechnen müsse, „die es in seiner Geschichte noch nie gegeben hat“. Das war im Westen nicht zu Unrecht als Drohung mit dem nuklearen Knüppel interpretiert worden. Eine Drohung, die seither durch Putin selbst und in jeweils noch drastischerer Form durch Dmitri Medwedew* („Russland hat das Recht, im Bedarfsfall Atomwaffen einzusetzen.“) mehrfach wiederholt worden ist. Vom Mann im Kreml erst jüngst wieder im Kontext der Annexion weiterer ukrainischer Gebiete durch Russland, und dieses Mal mit dem Verstärker: „Das ist kein Bluff.“ Passiert ist allerdings – nichts.

Auch alle anderen Moskauer Kampfansagen – etwa Lawrow im April: NATO-Waffenlieferungen an die Ukraine seien „berechtigte Angriffsziele für sein Land“ – waren bisher das, was Drohungen, denen keine Taten folgen, im Allgemeinen zu sein pflegen: heiße Luft. Und das Instrument der Drohung als solches verliert darüber hinaus an Wirkung, je öfter es bloß rhetorisch zum Einsatz kommt. Annalena Baerbock erklärte am Rande ihres jüngsten Besuches in Warschau schon mal keck, man werde sich „nicht abschrecken lassen von solchen Drohungen“.

Wen der bisherige Ablauf allerdings zu der – und schon gar handlungsleitenden – Annahme verführte, von Russland werde es immer wieder nur leere Drohungen geben, weil militärische und andere Vernunftgründe, selbst vitale russische Interessen gegen einen Kernwaffeneinsatz sprächen und ein Angriff auf die NATO ein Risiko sei, das Putin (laut US-Verteidigungsminister Lloyd Austin) nicht eingehen wolle, dem ruft einer der gestandensten westlichen Strategieexperten, der Brite Lawrence Friedman, mit Blick auf den russischen Präsidenten in Erinnerung: „Da er bereits einige wirklich dumme Dinge getan hat, wer kann mit Sicherheit sagen, dass er nicht noch Dümmeres tun wird. Diese Möglichkeit ist nicht zu vernachlässigen, und das ist an sich schon beunruhigend genug.“

Zwar trösten sich und uns einige, wie Berthold Kohler, einer der Herausgeber der FAZ, derzeit noch damit, dass es bisher keine „ernste Drohung mit einem Atomwaffeneinsatz, also eine, die auch von tatsächlichen Vorbereitungen dazu begleitet wird (Hervorhebungen – S.)“, gegeben habe, doch unbeschadet davon listet Lawrence, was einen denkbaren russischen Kernwaffeneinsatz im Ukraine-Krieg anbetrifft, auf: „Die Optionen reichen von einem Demonstrationsschlag am einen Ende des Spektrums, vielleicht gegen einen bedeutenden, aber derzeit unbewohnten Ort (Snake Island wurde erwähnt), um deutlich zu machen, dass ein Prozess mit einem unvorhersehbaren Ende in Gang gesetzt wurde, bis zu direkten Schlägen gegen Kiew am anderen Ende, mit einem nuklearen Einsatz auf dem Schlachtfeld in der Mitte.“ Und: „Sobald die nukleare Schwelle überschritten ist, werden die Hindernisse für eine weitere Eskalation verringert.“ Unterhalb der nuklearen Schwelle verweist Lawrence unter anderem auf das russische Staatsfernsehen, das thematisiert habe, dass Moskau „zum Beispiel Polen oder den US-Stützpunkt Ramstein in Deutschland angreifen könnte“.

Vor diesem Hintergrund nun einige Anmerkungen zur anhaltenden deutsch-amerikanischen Panzer-Posse, also um die Frage, warum Berlin immer noch keine Kampfpanzer Leopard 2 und Schützenpanzer Marder direkt an Kiew liefert, um dessen Sieg gegen die Russen zu beschleunigen, wie jene meinen, die entsprechende Forderungen erheben.

Die Ukraine verlangt Lieferungen westlicher Panzer seit Monaten, aber mit merkwürdiger Penetranz eigentlich nur von Berlin. Als ob Briten, Franzosen oder gar die USA kein ebenso geeignetes Rüstzeug hätten. Ob diese Einseitigkeit allein aufs Kiewer Konto geht oder ob Einflüsterungen von jenen Seiten eine Rolle spielen, die die Ukraine auch zum Abbruch der russisch-ukrainischen Kriegsbeendigungsgespräche vom Frühjahr gedrängt haben sollen, mag dahingestellt bleiben. Auf alle Fälle weilte kürzlich der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk an der Spree und forderte einmal mehr, dass die Bundesregierung vorangehen müsse: „Deutschland sollte seiner Führungsrolle gerecht werden und als erstes Land Kampfpanzer liefern.“ Und er fügte hinzu: „Ein Land wie Deutschland wartet nicht darauf, was andere tun.“

Damit rannte er bei Agnes-Marie Strack-Zimmermann (FDP), der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses des Bundestages, offene Türen ein, die einer umgehende Lieferung von Leopard-Kampfpanzern an Kiew schon länger das Wort redet: Jetzt sei nicht „die Zeit des Zauderns und Zögerns“. Auch bei Robin Wagener (Grüne), dem Vorsitzenden der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe, der meint, die Bundeswehr könne auf Panzer wie Fuchs, Marder oder Leopard zugunsten der Ukraine verzichten: „Unsere Freiheit wird nicht auf den Gefechtsübungsplätzen der Bundesrepublik, sondern an der Front in der Ukraine verteidigt.“

Mit dieser Position wird er womöglich von Baerbock demnächst zum Parlamentarischen Staatssekretär berufen, denn, so DER SPIEGEL: „In Baerbocks Haus gibt es inzwischen Sympathien für direkte Panzerlieferungen.“ Und nicht zuletzt in der Union finden sich kühne Überlegungen – etwa bei Thomas Erndl, Verteidigungsexperte und CSU-Bundestagsabgeordneter, der gern 600 niegelnagelneue Leo 2-Panzer beim Hersteller ordern würde: „250 davon als Ersatz für die Fahrzeuge, die aus deutschem und europäischem Bestand schnell an die Ukraine zu liefern sind – und 350 als Beitrag zur Neuausstattung einer ukrainischen Armee.“

Demgegenüber erscheint Bundeskanzler Olaf Scholz notorisch hasenfüßig; ein ums andere Mal erklärt er oder lässt verkünden, dass kein NATO-Staat der Ukraine moderne Kampfpanzer liefere und dass es bei der Haltung bleibe, „die die deutsche Regierung seit Anfang an eingenommen hat und die auch für die Zukunft unsere Haltung sein wird, nämlich dass es keine deutschen Alleingänge gibt“. In einer Sondersitzung des Auswärtigen Ausschuss des Bundestages soll Scholz „nach unwidersprochener Darstellung“, so die FAZ, diesbezüglich von der Gefahr einer „fürchterliche[n] Eskalation“ gesprochen haben. Und die SPD-Ko-Vorsitzende Saskia Esken sprang dem Kanzler bei: Deutschland werde „immer in guter Abstimmung mit unseren internationalen Partnern, vorneweg die Amerikaner, aber natürlich auch Franzosen, Briten, Italiener […] agieren“.

Kampflustige – kriegslüsterne soll nicht unterstellt werden – deutsche Premiummedien schreiben derweil mit Verve gegen diese wie überhaupt gegen jegliche deutsche Zurückhaltung bei Waffenlieferungen an die Ukraine an:

  • DIE WELT, 15.09.2022: „Die USA zweifeln immer mehr an der Verlässlichkeit von Olaf Scholz“.
  • FAZ, 25.09.2022: „Was Scholz tut, ist das Gegenteil von Führung“.
  • Und DIE ZEIT, bereits am 20.04.2022 (Führers Geburtstag!) unter der Überschrift „Führung bestellt, nicht geliefert“: „Dem Kanzler geht nicht nur die Deutungshoheit verloren, sondern auch die Autorität. Und das mitten im Krieg.“

Insbesondere der wiederholte regierungsamtliche Hinweis auf die mit den NATO-Verbündeten vereinbarte enge Abstimmung im Hinblick auf die Lieferung von Kampfpanzern westlicher Bauart an Kiew erscheint etlichen einheimischen Kommentatoren lediglich als Vorwand, um sich dahinter „zu verstecken“ (Majid Sattar, FAZ). Schließlich hatte Amy Gutmann, die neue US-Botschafterin in Berlin, bereits in ihrem ersten TV-Interview Mitte September erklärt, die USA „hoffen und erwarten“, dass Deutschland eine größere Führungsrolle bei der Unterstützung für die Ukraine übernehmen werde. Ein anderer US-Diplomat wird dahingehend zitiert, „dass Deutschland die Beinfreiheit hat, bei Panzerlieferungen eigene Entscheidungen zu treffen“. Und die FAZ wusste es am 18.09.2022 ganz genau: „Biden hätte nichts gegen deutsche Panzer-Lieferungen“.

Wohlgemerkt, das ist derselbe Biden, der seinerseits nicht nur keine US-Kampfpanzer an Kiew liefern lässt, sondern auch die von der Ukraine angeforderten ballistischen Raketen, mit denen russisches Staatsgebiet direkt angegriffen werden könnte, nicht herausrückt und über den ebenfalls die FAZ kürzlich zu berichten wusste: „Wahr ist: Biden agiert […] vorsichtig und sieht die Gefahr einer Eskalation des Krieges.“

Dieses gelinde gesagt ambivalente Verhalten Washingtons erinnert fatal an das Märchen von den sieben Schwaben, von denen derer sechse – nämlich die besonders feigen – dem übrigen bekanntlich nahelegten: „Hannemann, geh du voran! / Du hast die größten Stiefel an, / dass dich das Tier nicht beißen kann.“ Nur dass im Falle Russlands auch „die größten Stiefel“ keine Gewähr gegen einen tödlichen Biss böten. Da kann man nur wünschen, dass eine Sichtweise, wie sie der SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert formuliert hat, nicht doch noch untergebuttert wird, nämlich „dass wir nicht schleichend hineingezogen werden wollen in den Krieg, dass wir Russland nicht dazu animieren wollen, völlig irrational am Ende zu handeln und noch ganz andere Staaten anzugreifen“. Und zu bedenken bliebe in diesem Zusammenhang im Übrigen, worauf in der FAZ, mit der der Autor zugegebenermaßen nur höchst selten übereinstimmt, gerade völlig zutreffend hingewiesen wurde: „Mehr denn je gilt […]: Man sollte nicht damit rechnen, dass Amerika den Kopf für Alleingänge der Verbündeten hinhält.“

* – Von 2008 bis 2012 Russlands Präsident und aktuell Putins Stellvertreter im Vorsitz des russischen Sicherheitsrates.