25. Jahrgang | Nummer 12 | 6. Juni 2022

An der falschen Front

von Jörn Schütrumpf

„Man stelle sich Folgendes vor: Die Außenminister der mächtigsten Staaten verkünden an einem Tage der Woche die Wahrheit. Nicht nur einen Teil der Wahrheit und nicht irgendeine philosophische. Sie entrollen ihre wahren Endziele und beschreiben die Welt nach ihrem von den Hemmungen der Realität befreiten Willen; sie beschreiben die politische Geographie unseres Planeten nach ihrer reinen, idealen, das heißt platonischen Vorstellung. Keine Lüge könnte je eine katastrophalere Wirkung haben als diese Tobsucht der Wahrheit. Der britische, amerikanische, japanische, französische Außenminister würde, jeder für sich, den Globus mit seinen Landesfarben bepinseln …“

Valeriu Marcu
(1926)

Machen wir uns nichts vor, nichts weniger als die nächste Runde im Kampf um eine Neuaufteilung der Welt hat begonnen. Manches Mal hilft für einen Blick nach vorn der Blick zurück: 1914 war Deutschland – zumindest: vor allem – gegen die großen Kolonialmächte angetreten, gegen das durch Binnenkolonisation bis zum Pazifik ausgedehnte moskowitische Reich und gegen die durch Kolonisation in Übersee zu Weltmächten aufgestiegenen westeuropäischen Staaten Großbritannien und Frankreich. 1918 lag der deutsche Emporkömmling zwar auf dem Rücken, wurde aber – gemessen an seinen Verbündeten: Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich – nur leicht gerupft. Japan und die USA, die beiden anderen Emporkömmlinge, wurden – zeitgleich – zu den eigentlichen Gewinnern dieses Krieges.

Russland hingegen erlebte eine bürgerlich-demokratische Revolution, die die Bolschewiki mit der Abschaffung der im Februar 1917 erkämpften politischen Freiheiten auf eine bürgerliche Agrarrevolution zurückschnitten – die sie mit dem Niederwerfen der Konterrevolution jedoch genauso unumkehrbar zu machen schienen wie einst die Revolutionäre Frankreichs in den Jahren zwischen 1789 und 1794. Doch Stalin war kein Napoleon, der die Ergebnisse der französischen Agrarrevolution stets verteidigt hatte. Stalin „überwand“ mit der Kollektivierung genannten „zweiten Leibeigenschaft“ ab 1928 diese bürgerliche Agrarrevolution und stellte so die Vergangenheit in der Gegenwart „auf höherer Stufenleiter“ wieder her.

Mit ihrem Sieg im Bürgerkrieg hatten die Bolschewiki 1920 alles freigesetzt, was eine bürgerliche Revolution im damaligen Russland freizusetzen vermochte. Eine bürgerlich-demokratische Revolution hätte noch die politischen Freiheiten hinzugefügt – doch die schätzten die Bolschewiki in ihrem sehr speziellen Demokratieverständnis nicht sonderlich.

Angesichts der Aufstände im ländlichen Raum, und im März 1921 auch noch des Aufstands der Premiumtruppen der Bolschewiki in Kronstadt: gegen die Bolschewiki, hätten sie sich jedoch gezwungen sehen müssen, eine unerwartete Frage beantworten: ob sie als ewige Jakobiner, das heißt als unlegitimierte und ungefragte, die Welt dafür Tag und Nacht beglückende Minderheit, an der Macht langsam verwesen oder mit der Wiederfreigabe der politischen Freiheiten die bürgerliche Revolution als siegreiche bürgerlich-demokratische Revolution zu Ende führen wollten. Unklar bleibt, ob sie das Problem in seiner Dimension auch nur ansatzweise begriffen; vielleicht war ihnen das Begreifen auch verwehrt. – Mit diesem Schritt vorwärts, aus ihrer rosarot getönten Brille natürlich: rückwärts, hätten die Bolschewiki für Russland jedenfalls die Tore geöffnet, hinter denen der Kampf um den Sozialismus aus der Theorie – weiter hatten es die Bolschewiki in diesem Punkt nie gebracht – in die Praxis tritt.

Letztlich zogen die Bolschewiki der Rückkehr zur revolutionären Arbeit in einem unbequemen Exil den Status quo vor; offiziell verteidigten sie natürlich den „Vorposten der Weltrevolution“. Rosa Luxemburg hatte schon 1918 gewarnt: „Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. [… Im] Grunde also eine Cliquenwirtschaft – eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d. h. Diktatur im bürgerlichen Sinne, im Sinne der Jakobiner-Herrschaft […] Ja noch weiter: Solche Zustände müssen eine Verwilderung des öffentlichen Lebens zeitigen […]. Das ist ein übermächtiges objektives Gesetz, dem sich keine Partei zu entziehen vermag.“

Am Ende stand das gleiche Ergebnis, das 1922 die Abschaffung der politischen Freiheiten in Italien und 1933 in Deutschland zeitigte, nur dass die Bolschewiki das Ganze Sozialismus nannten, wenig später, um ihr Scheitern als internationalistische Sozialisten zu verdecken, „Sozialismus in einem Land“ – eine Contradictio in Adjecto. Im Leipzig des Novembers 1956, während der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes, sprach der revolutionäre Sozialist Ernst Bloch, lange Jahre ein Weggenosse der Bolschewiki, mehr aus Verzweiflung als aus Erkenntnis von einem roten Faschismus – verlor deswegen zwar seine Professur, rettete aber seine intellektuelle und moralische Lauterkeit.

1945 ff., nach der Niederringung Nazi-Deutschlands vor allem durch die Völker der Sowjetunion (und nicht etwa durch den heimlichen Adolf Hitler-Bewunderer Jossif Stalin), hatten sich die beiden siegreichen Weltgendarmen – die als UdSSR drapierten Bolschewiki und die USA – die Welt neu aufgeteilt, gefolgt von Fouls auf beiden Seiten, wobei die ab 1952 sich nicht mehr Bolschewiki nennenden Bolschewiki anfangs ihr Augenmerk auf Osteuropa und Asien legten. Binnen kürzester Zeit errichteten sie ein System aus Satrapien, das, als Vergangenheit in der Gegenwart, immerhin bis 1989 der keineswegs nur in puncto „sozialer Marktwirtschaft“ aufgehübschten und – anderes war nicht möglich – vom Kapital dominierten Moderne widerstand. Dann allerdings war Schluss. Um die Macht nicht gänzlich zu verlieren, ließen die als Linke längst dahingegangenen Bolschewiki 1989 nicht nur den Ostblock zerfallen, sondern 1991 sogar die UdSSR. Seither – vom unter Stalin noch verschämten zum heute unverkennbar offenen Zarismus samt Bündnis mit der orthodoxen Kirche längst zurückgekehrt – arbeiten der Zaren, Lenins und Stalins Nachfahren an der Wiederherstellung der Einflusszone, die die USA 1968 bei der Niederschlagung des Prager Frühlings respektiert und damit bestätigt hatten.

Freilich veränderte die, die Katastrophe der Bolschewiki allerdings nur um wenige Monate verschiebende, Räumung des unbeherrschbar werdenden Glacis im Jahre 1989 die US-amerikanische Sicht. Solange die kapitalistische Produktionsweise die Weltwirtschaft dominiert, wird es keine einflussfreien Zonen geben (können). Das Kapital dringt in alle ihm zugänglichen Poren. So viel Marx muss sein …

Heute steht ein vom internationalen Kapital (an-)getriebener Imperialismus einem Neo-Zarismus gegenüber, der die kapitalistische Produktionsweise durch extraktive Ausbeutung allerdings eher feudal zu (ver-)nutzen als kreativ zu entfalten weiß. Dieser Neo-Zarismus bekämpft außerhalb seiner Grenzen – in Erinnerung an die zwischen 1813 und 1815 im Westen infizierten Dekrabisten des Jahres 1825, also an adlige russische Demokraten der ersten Stunde – alle erreichbaren demokratischen und freiheitlichen Bestrebungen, sei es im Internet, sei es mit der Waffe in der Hand.

Ging es 1849 (und 1956) gegen das revolutionäre Ungarn sowie 1863/64 (und, durch wenig bis unwillige Stellvertreter ausgeführt, 1981) gegen das aufständige Polen, so geht es heute gegen die unbotmäßige Ukraine – übrigens ein gerade das Flegelalter verlassenes Geschöpf der Bolschewiki. Russland ist wieder beim Wiener Kongress des Jahres 1815 angelangt, auf dem es zum Gendarmen Europas aufstieg.

Diese Analogien sollten jedoch nicht überstrapaziert werden. Heute steht, anders als 1815, ein Elefant im Raum. China befindet sich im Wartestand: für die übernächste Runde; was Russland vorerst eher nützt, aber das erste Opfer wird sein lassen.

Die Zukunft, die schon in der Vergangenheit viele Spuren hinterlassen hat, auch die Bolschewiki zählten bis zur Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes 1921 dazu, kann nur im Westen erkämpft werden. Die russische Opposition sitzt, soweit nicht in Gefängnis und Lager, politisch in den Kellerlöchern; ihr sind die Hände gebunden, und nach und nach werden ihr die letzten Zungen herausgebrannt. Nur im Westen herrscht, zumindest noch (in Ungarn und – mit ansteigender Tendenz – auch in Polen und Slowenien schon nicht mehr), die Freiheit, politisch weitgehend unbehindert wirken zu können. Es gilt der Pest einer um sich greifenden ideologischen Gleichschaltung, nicht weniger jedoch jeglichem Versuch zu widerstehen, den Krieg für den Abbau politischer Freiheiten und die Zerstörung sozialer Standards zu nutzen.

Erst auf der Grundlage politischer Freiheiten und hoher sozialer Standards konnte das, was heute Life Style-Linke gescholten wird, hervorwachsen. Wer wenn nicht sie hat ein Interesse, die heutigen Standards zu verteidigen: in einer, ein breites Bündnis ermöglichenden, Bürgerrechtsbewegung ebenso wie in einer, ein noch breiteres Bündnis ermöglichenden, Sozialbewegung. Die Zukunft liegt im Bündnis – es wird keine ersten Sieger geben; die Sekte, auch die Großsekte, wäre der endgültige Sieg der Vergangenheit über die Zukunft. Genügend Arbeit für eine sozialistische Opposition.

Ob die Ukraine dem Neo-Zarismus wird widerstehen können, ist keine Frage, auf die eine sozialistische Opposition im Westen irgendeinen Einfluss hätte. Für die Kräfte, die entscheiden, ob die Ukraine Unterstützung und wenn ja, welche, erhält, ist diese sozialistische Opposition völlig irrrelevant – hat die doch schon vor Jahren, aus freien Stücken, sowohl intellektuell als auch politisch Harakiri begangen. Die „Wahlerfolge“ der vergangenen Monate in Deutschland haben nicht die „Gegner“ verursacht. Diese sozialistische Opposition kann wirklich mit Fug und Recht auf ihre Fahnen malen: Im Felde unbesiegt! – Dieser „Dolchstoß“ wurde im und vom eigenen Haus ausgeführt, zugegeben: unbeabsichtigt, aus Unfähigkeit, gepaart mit Arroganz.

Jetzt, in der selbstverschuldeten Bedeutungslosigkeit, in Außenpolitik zu machen statt ernsthaft zu arbeiten, führte zum Ende. An sich wäre das alles jedoch unwichtig. Doch die Zeit schreit nicht nach Politiksimulation, sondern nach einer praktikablen Strategie für die Verteidigung – und den Ausbau! – der Bürgerrechte und der Sozialstandards. Diese Aufgabe irrlichtert seit Jahren durch den politischen Raum und findet kein Subjekt, das sich ihrer verantwortungsbewusst annehmen wollte. – Nur die Faschisten instrumentalisieren sie …

Falls die Ukraine fällt, wird über eine neue Anti-Hitler-Koalition, also über einen weiteren Schritt bei der Neuaufteilung der Welt zu reden sein. Dann wird alles benötigt werden; nur für eine sozialistische Opposition wird es kaum mehr einen Platz geben.